Deutschland 2004 · 122 min. · FSK: ab 12 Regie: Fatih Akin Drehbuch: Fatih Akin Kamera: Rainer Klausmann Darsteller: Birol Ünel, Sibel Kekilli, Catrin Striebeck, Güven Kiraç, Metlem Cumbul u.a. |
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Sibel Kekilli und Regisseur Fatih Akin |
Wie sich die Zeiten ändern. Vor 16 Jahren erzählte Hark Bohm in seinem Film Yasemin von dem gleichnamigen türkischen Mädchen, das fleißig, nett und anständig ist, sich bestens an die deutschen Verhältnisse angepasst hat und das in große Schwierigkeiten gerät, als sie sich in einen deutschen Jungen verliebt, was der gestrengen türkischen Familie gar nicht passt.
2004 heißt der Film Gegen die Wand, der Regisseur Fatih Akin und das Mädchen Sibel, die der traditionsbewußten türkischen Familie in der altdeutschen Sitzecke durch eine Zweckheirat mit einem heruntergekommenen Säufer (aber immerhin Türken) entkommt, um endlich nach eigenem Willen leben zu können, was in ihrem Fall vereinfacht heißt: Partys, Drogen, »Ficken«.
Wenn man die beiden Filme vergleicht, könnte man schnell in ähnliche Überlegungen verfallen, wie sie nach dem Sieg von Gegen die Wand auf der Berlinale allenthalben angestellt wurden.
Ist die Integration der Türken in Deutschland gelungen, kann sie überhaupt gelingen, soll sie überhaupt gelingen? Wie sieht vor allem die Rolle der türkischen Frauen und Mädchen heute aus? Wie weit reichen die türkischen Einflüsse in die deutsche Kultur? Und wie sieht es da
gerade im Kino aus? Hat es das sogn. Migranten-Kino in Deutschland wirklich geschafft?
Man könnte sich angesichts von Gegen die Wand solche Fragen stellen. Klüger aber ist es, das nicht zu tun.
Bohms Yasemin war noch ein typischer »Problemfilm« (ein Ausdruck, der in letzter Zeit – zum Glück – auch immer seltener zu hören ist), der auf äußerst spröde Art und Weise solche Kino-Soziologie betrieben hat. Cineastisch ist der Film weitgehend
belanglos.
Akins Gegen die Wand dagegen ist pralles Kino. Bildgewaltig, voller Musik, mit mitreißenden Charakteren und einer Geschichte, die zwischen sympathischem Humor, emotionellen Exzessen und schmerzhafter Tragik alles bietet.
Dabei geht es zwar auch um Türken und Deutsche und Deutsch-Türken und deren Probleme, doch diese Probleme betreffen einzelne Menschen und nicht gleich ganze Gesellschaftsschichten.
Das Erfreulichste an Gegen die Wand ist Akins unverkennbare eigene Filmbegeisterung, die an internationalen Vorbildern geschult ist und die zu einem formal mächtigen Film führt, der dabei trotzdem eine vielfältige, inhaltliche Deutung zulässt.
Ganz offensichtlich wird dies etwa in der Zweckehe zwischen Sibel und dem Säufer Cahit, die man als engagiertes Statement für die freie Lebensplanung von türkischen Mädchen (miss)verstehen kann.
Möglicherweise ist die Ehe aber auch »nur« ein McGuffin, der die gesamte, verhängnisvolle Handlung ins Rollen bringt.
Hier liegt auch die Antwort zu all den Fragen, die sich darum drehen, ob das nun ein deutscher Film sei oder Migrations-Kino, ob Akins persönlicher Hintergrund Voraussetzung für das Gelingen von Gegen die Wand war oder ob das ein anderer deutscher Regisseur auch so gekonnt hätte, usw.
Solche Fragen nach Staatszugehörigkeit und Ethnie verblassen angesichts der leidenschaftlichen Filmkunst, die Gegen die Wand präsentiert.
Die erfreuliche Erkenntnis im direkten Vergleich von Yasemin und Gegen die Wand ist eben nicht, dass es grundlegende, gesellschaftliche Verbesserungen in den letzten Jahren gegeben hat, sondern dass Fatih Akin heute Szenen gelingen, die in ihrer Intensität an Scorsese und von Trier erinnern.
Der wahre Skandal von Gegen die Wand ist übrigens nicht etwa eine Verunglimpfung von türkischen Traditionen oder die pornographische Vergangenheit der Hauptdarstellerin Sibel Kekilli (wenn nur alle Pornodarstellerinnen so schauspielern könnten!), sondern dass dieser absolut sehenswerte Film trotz Goldenem Bären, frenetischen Kritiken und riesigem Presserummel in seinen Zuschauerzahlen wieder weit hinter manch hirnlosem Mainstream-Quatsch zurückbleiben wird.