Der freie Wille

Deutschland 2006 · 171 min. · FSK: ab 16
Regie: Matthias Glasner
Drehbuch: , ,
Kamera: Matthias Glasner
Darsteller: Jürgen Vogel, Sabine Timoteo, André Hennicke, Manfred Zapatka, Judith Engel u.a.
Theo und Netti und der kurze Traum vom Happy End

Täter verstehen

Ein Film über einen Seri­en­ver­ge­wal­tiger kann nicht angenehm oder im schlichten Sinne unter­haltsam sein – und wenn er es wäre, spräche das eher gegen ihn. Weil Der freie Wille von Matthias Glasner, im Februar im Wett­be­werb der Berlinale gelaufen und mit einem »Spezi­al­preis« prämiert, nie in diese Gefahr kommt und ein Film ist, der mit seinem Thema in großen Teilen sensibel, über weite Strecken klug und jeden­falls in ernst­zu­neh­mender Weise, also immer sehens­wert umgeht, ist er aber aller Beachtung wert. Auch dort, wo er Kontro­versen geradezu provo­ziert. Der freie Wille ist das leider immer noch zu seltene Beispiel eines deutschen Films, der auch ästhe­tisch seinem Sujet gewachsen ist, der also nicht nur – wie zum Beispiel Das Leben der Anderen – ein »wichtiges« Thema behandelt, oder moralisch korrekte Haltungen repro­du­ziert, sondern sich auch um einen, dem Thema ange­mes­senen, filmi­schen Ausdruck bemüht.

Das beginnt bereits damit, dass Der freie Wille mehr ist, als ein Film über einen Seri­en­ver­ge­wal­tiger. Im Zentrum stehen zwei Personen, Theo und Nettie. Man lernt sie kennen und – in gewissen Grenzen – verstehen. Zunächst begleitet der Film Theo (Jürgen Vogel). Er zeigt ihn, einen Mann um die 30, als Spüler in einer Kneipe, und auch wenn man als Zuschauer – was schon bei der Berlinale kaum möglich war – so unbe­fangen im Kino sitzt, dass man nicht schon von Anfang an weiß, um wen es hier geht, und dass Jürgen Vogel diese Figur spielt, dann ahnt man in wenigen Sekunden: hier hat man es mit einer unbe­re­chen­baren, extrem ange­spannten, latent aggres­siven Person zu tun, deren innere Anspan­nung sich jederzeit entladen kann. Ein verkrampfter Charakter und eine mensch­liche Zeitbombe. Wenige Minuten später verge­wal­tigt Theo eine junge Radfah­rerin.

Nach diesem brutalen Auftakt setzt der eigent­liche Film erst jetzt ein: Jahre später, nach Verbüßung seiner Haft­strafe, wird Theo unter strengen Auflagen entlassen. Er lebt in mit anderen Ex-Straft­tä­tern und unter Aufsicht eines Sozi­al­päd­agogen in einer Reso­zia­li­sie­rungs-WG. Im Folgenden wird man Zeuge seiner zöger­li­chen Versuche, sich wieder ins normale Leben einzu­ge­wöhnen, vor allem seines Umgangs mit seiner Aggres­sion und seinem Sexu­al­trieb. Schnell ist klar: seine Fantasien kreisen weiterhin um Verge­wal­ti­gungen, ebenso deutlich ist aber, dass Theo ernsthaft versucht, es nicht zur Tat kommen zu lassen, seinen Trieb zu bändigen, und in eine andere Richtung zu lenken.

Hier kommt nun Nettie ins Spiel (großartig: Sabine Timoteo), die Tochter von Theos Chef (Manfred Zapatka), deren Leben wir gleich­falls beob­achten. Mit ihrem Vater verbindet sie ein prekäres Abhän­gig­keits­ver­hältnis, ein Miss­brauchs­ver­dacht wird ange­deutet, aber nie ausge­spro­chen. Es ist klar, das Theo und Nettie sich begegnen werden, somit geht es zunächst darum, auch sie uns so vorzu­stellen, dass klar wird, warum Theo und sie ein Paar werden können. Er ist schüch­tern und verklemmt, sie unter schroffer Maske extrem verletz­lich. Gerade dadurch finden sie zusammen, und eine Weile scheint ein Happy End möglich. Doch dann zeigt sich Theos Trieb stärker, er wird rück­fällig, gesteht dies Nettie. Im dritten Teil forscht sie Theos Vorge­schichte nach und versucht, ihn zu verstehen. Ganz am Ende treffen sich beide noch einmal, und Theo, weil er seinem Trieb nicht entkommen kann, bringt sich um.

Die Stärke von Glasners Insze­nie­rung ist eine konse­quente Bild­sprache, ein distan­zierter, unauf­ge­regter Blick, und auch die Nüch­tern­heit, mit der der Film auf die Dinge schaut, die Zurück­hal­tung, mit der er der Versu­chung nicht nachgibt, alles auszu­spre­chen, und Schwarz-Weiß zu malen, sowie ihre Humanität. Glasner versteht es, uns einen Täter als Mensch näher zu bringen, ohne dessen Taten zu vernied­li­chen. Das gelingt, anders als etwa beim Täter Hitler in Eichin­gers Der Untergang, nicht, indem naiv Theos »andere Seiten« gezeigt werden. Man sieht auch ihn zwar einmal beim Spaghetti-Essen und in normalen Alltags­si­tua­tionen. Vor allem aber sieht man ihn, wie er mit seinen Taten und mit sich selbst hadert. Dass er sich seiner selbst bewusst ist, dass er Moral besitzt, auch wo er unmo­ra­lisch handelt, macht ihn mensch­lich.

Ob Glasner deshalb recht hat, wenn er beglei­tend argu­men­tiert, Theo sei eben keine Bestie, sondern ein Mensch, steht auf einem anderen Blatt. Denn unsere, mit Abscheu gemischte Faszi­na­tion für diese Figur liegt eher gerade darin, dass in Theo beides verschmilzt: Bestie und Mensch.

Doch der Film hat auch Schwächen: Sie liegen zum einen im mitunter affek­tierten, auf eine gewisse Weise zu eitlen Spiel des männ­li­chen Haupt­dar­stel­lers/Drehbuch-Co-Autors/Co-Produ­zenten. Jürgen Vogel hat viel Herzblut in Film und Rolle gesteckt, aber er zeigt es auch über­deut­lich. Schwerer wiegt, dass Der freie Wille immer wieder vom Zeigen ins Erklären und Psycho­lo­gi­sieren abrutscht und allzu oft das Uner­klär­bare doch deuten möchte. So wird etwa Theos Rückfall dadurch »motiviert«, dass er Nettie im Gespräch mit einem anderen Mann beob­achtet und dies als Flirt miss­ver­steht. Solche Dinge lenken von der eigent­lich inter­es­santen und provo­zie­renden Grund­frage ab: Wie frei ist unserer Wille? Und inwieweit können Trieb­täter überhaupt von ihrem Trieb kuriert werden?

Glasners Antwort auf diese Frage ist doppelt reak­ti­onär: Sie können es nicht, antwortet er, und stellt sich damit auf jene, heute modische Seite der Forschung, die einer Biolo­gi­sie­rung von Geist und Wille das Wort redet. »Die Gene« sind quasi alles, die mensch­liche Freiheit nahezu nichts. Darüber hinaus bringt sich Glasners Theo am Ende um, »richtet sich selbst«, wie man früher sagte, und vollzieht damit das Todes­ur­teil für seines­glei­chen, das im aufge­klärten europäi­schen Rechts­staat zwar längst abge­schafft ist vom »gesunden Volks­emp­finden« der Stamm­ti­sche, aber immer noch favo­ri­siert wird. Damit schafft der Film am Ende das Problem, das er aufwarf, wieder aus der Welt – und vernichtet seine größte Leistung, uns nämlich das näher gebracht zu haben, was wir fürchten.

Hier hat man weiter zu disku­tieren. Ähnlich wie Der Untergang gefällt sich auch Der freie Wille in Schick­sals­m­e­ta­physik und der Provo­ka­tion, uns einen Täter näher zu bringen und diesen zu vermensch­li­chen – inklusive der dazu­gehö­rigen latenten Entlas­tungs­gesten. Wozu das alles aber überhaupt gut sein soll, was wir dadurch eigent­lich erfahren, bleibt in diesem allzu haltungs­losen Film offen.