Deutschland 2019 · 82 min. · FSK: ab 12 Regie: Anatol Schuster Drehbuch: Anatol Schuster Kamera: Adrian Campean Darsteller: Ahuva Sommerfeld, Kara Schröder, Nirit Sommerfeld, Robert Schupp, Murat Seven u.a. |
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Grimmig und bestimmt |
Einmal habe ich meine Nachbarin gerettet. Aus ihrer Badewanne. Sie war schon dehydriert, hatte sich das Hüftgelenk ausgekugelt und lag fantasierend nun schon den dritten Tag in der kalten Wanne. Da war sie schon neunzig, hat noch einmal zwei neue Hüftgelenke bekommen. Jetzt wohnt sie noch immer nebenan. Mit dem Rauchen hat sie erst mit 85 angefangen, als ihr Mann gestorben ist.
In den Großstädten leben viele solche sehr alten Menschen, meist bekommt man sie aber nicht wirklich zu Gesicht, weil sich ihr Leben viel in der eigenen Wohnung abspielt. Anatol Schuster hat nun einen Film über die neunzigjährige Frau Stern (Ahuva Sommerfeld), wie er sie in seinem gleichnamigen Film genannt hat, gedreht. Frau Stern ist Jüdin, sie ist eine Holocaustüberlebende, die Liebe hat sie von Israel nach Berlin gebracht. Am liebsten umgibt sie sich mit jungen Menschen, denn die haben mit der deutschen Vergangenheit nichts zu tun.
Frau Stern ist der zweite Film von Anatol Schuster, nach Luft, den Anatol Schusters an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film als Abschlussfilm gemacht hat. Luft war eine träumerischen Ode an eine in Deutschland lebende Familie russischer Herkunft, Schuster erhielt für den leisen, hauchenden Film den Starter Filmpreis der Stadt München. Auch Frau Stern zeigt wieder, dass Schuster die Menschen liebt, die eine tiefe Vergangenheit in sich tragen und eine andere Kultur. Auch die verträumte Klezmer-Musik lässt einen an seinen ersten Film erinnern, eingespielt vom Orchester Shlomo Geistreich um Nirit Sommerfeld, Tochter von Ahuva.
Diese motivierten Bezüge sind für einen Spielfilm eigentlich völlig willkürlich, für Schuster aber dennoch wichtig, denn sie geben seinem Film den hybriden Touch, trotz der lose gespannten Spielfilmhandlung dokumentarische Wahrheiten in sich zu tragen. Und auch wenn Ahuva Sommerfeld zwar nicht neunzig, sondern »erst« 81 war, als sie die Hauptrolle übernahm, lebt der Film ganz und gar von ihrer widerständigen Persönlichkeit, die mit einer gewissen kindisch gewordenen Altersweisheit auf das Leben und das Treiben der Gesellschaft blickt.
»Ich will sterben«, sagt Frau Stern mit festem Blick in die Kamera. Sie sitzt beim Arzt, Sterbehilfe aber ist in Deutschland verboten. Dann will sie sich eine Knarre besorgen, gar nicht so leicht in Berlin. Zwischendurch legt sie sich auf die Gleise, aber ein freundlicher junger Mann hilft ihr auf. Anatol Schuster mischt die schon in Luft tragend eingesetzte Melancholie in Frau Stern mit leichtem, schwarzem Humor und zeichnet das Portrait einer vitalen, aber lebensmüden alten, charmanten Frau, die mit mehr Wassern gewaschen ist als wir alle zusammen.
Anatol Schuster zeigt mit der Rolle für Ahuva Sommerfeld sein Gespür für außergewöhnliche Menschen, die er in sanfte Geschichten zu betten weiß. Auch Frau Stern spielt wie schon Luft auf der Klaviatur der leisen Untertöne, zeigt einen Ausweg aus der Tristesse des funktionalen Lebens, der Lebensfunktionen. Realisiert hat Schuster seinen Film komplett ohne Förderung, und es ist fast ein Wunder, dass Frau Stern, ohne Rücksicht auf narrative Moden zu nehmen und langsam erzählt, jetzt in die deutschen Kinos kommt.
Kurz nach der Premiere auf dem Filmfestival Max Ophüls Preis in Saarbrücken Anfang dieses Jahres ist Ahuva Sommerfeld in Berlin gestorben. Das gibt dem Film eine gewisse kontingente Dringlichkeit, die Geschichten, denen man begegnet, zu erzählen, so lange es noch möglich ist.