Fräulein Julie

Miss Julie

N/GB/CDN/USA/F/IRL 2014 · 130 min. · FSK: ab 12
Regie: Liv Ullmann
Drehbuch:
Kamera: Mikhail Krichman
Darsteller: Jessica Chastain, Colin Farrell, Samantha Morton, Nora McMenamy
Vor lauter Bäumen: Klassiker im Kastanienwald

Wenn das der Ingmar wüsste

»Küssen Sie meine Hand und sagen Sie Danke« – »Fräulein Julie, hören Sie, hören Sie mir zu.« – »Küssen Sie mir erst die Hand.« – »Hören Sie mir zu.« – »Küssen Sie mir zuerst die Hand.« – »Dann sind Sie selbst schuld.« »Woran?« – »Woran? Sind Sie ein Kind? Sie spielen mit dem Feuer.« – »Aber nein, ich träume« – »Nein, das tun sie nicht...« – »Schämen Sie sich, schämen Sie sich John.« – Hysterie pur. Oder Leiden­schaft, wie man’s nimmt. Jeden­falls ist »Fräulein Julie« August Strind­bergs berühm­testes Thea­ter­stück. Ein zu seiner Entste­hungs­zeit revo­lu­ti­onäres, die Zensur­behörden provo­zie­rendes Kammer­spiel, ganz konz­en­triert auf ein Geschlech­ter­ver­hältnis, das auch ein Klas­sen­ver­hältnis ist, auf den emotio­nalen Macht­kampf zwischen der kapri­ziösen Baroness Julie und Jean, dem Diener ihres Vaters.
Es geht hin und her: Mal flirtet er mit ihr, mal lässt er sie abblitzen, mal verführt sie ihn, mal stößt sie ihn zurück.

So weit, so inter­es­sant, aber zumindest als Bildungs­er­lebnis immer noch unbedingt empfeh­lens­wert. Sprache ist bei diesem Stück aller­dings alles, und da beginnt das Problem dieses Films. Denn lange war die deutsche Unsitte, im Gegensatz zu den meisten Nach­bar­län­dern Filme zu synchro­ni­sieren, nicht so schmer­zhaft spürbar wie in diesem Fall: Denn die großar­tigen Schau­spieler mit denen das Film­plakat wirbt, werden im diffusen Sychron­spre­cher­stu­dioton ihrer Stimme beraubt und vokal kastriert. Was bei Super­hel­den­filmen noch verz­eih­lich sein mag, zerstört hier den Film, verkehrt die Atmo­s­phäre der Insz­e­nie­rung in ihr Gegenteil: So dynamisch und zugleich facet­ten­reich das englisch­spra­chige Original, so lahm und gleich­förmig die deutsche Fassung.

Eine wichtige Rolle spielt aller­dings auch, dass die Regis­seurin Liv Ullmann heißt. Für Ullmann, die einst mit Filmen Ingmar Bergmans zum Weltstar wurde, ist es schon der dritte Kino­spiel­film. Ullmann verlagert den Schau­platz des Gesche­hens nach Irland, bleibt aber in Strind­bergs Epoche. Warum sie sich aber ausge­rechnet für diesen Stoff inter­es­siert, bleibt dem Zuschauer uner­klär­lich.

Denn Ullmann verfilmt brav, auf konven­tio­nelle Art fehler­frei, und vermag ganz und gar keine eigenen Akzente zu setzen. Im Gegenteil: Exzess, Wahnsinn und irra­tio­nale Leiden­schaft – also genau das, was den Reiz des Stücks ausmacht –, fehlen hier. Aber warum verdient es unser Interesse? Was hat uns Strind­bergs Tragödie aus dem Jahr 1888 heute zu sagen?
Julie selbst scheint uns noch am nächsten zu stehen: Die Vertre­terin einer verwöhnten Gene­ra­tion ohne mate­ri­elle Probleme, die unter ihrer Freiheit leidet: Da sie alles haben kann, vermag sie sich für nichts zu entscheiden. Der Diener dagegen, der fort­wäh­rend zwischen Abstiegs­angst und Aufstiegs­streben hin und herge­rissen ist, bleibt fremd.

Ansonsten zeigt Ullmann »Fräulein Julie« als staub­tro­ckenes altba­ckenes Kammer­spiel, das ganz den Geist des 19., des vorvo­rigen Jahr­hun­derts atmet.
Ein Melodram halb Hedwig Courths-Maler, halb europäi­sches Kino der 1970er Jahre. Und das Produkt einer patri­ar­chalen Gesell­schaft, in der die Väter nie zu sehen, aber immer als auto­ritäre bedroh­liche Unter­drü­cker anwesend sind.

Revo­lu­ti­onär und provo­zie­rend wirkt hier nichts mehr, und auch der massive Musik­ein­satz – Schuberts 2. Klavier­trio – ist nach Stanley Kubricks Barry Lyndon nur noch ein Zitat, also aus zweiter Hand.

Man muss es so sagen: Stammte dieser Film nicht von Liv Ullmann, würde er kaum in die Kinos kommen. Denn auch wer das Stück nicht kennt, wird hier unter manchen Längen leiden.

Wenn das Ingmar Bergman wüsste!

Die Schau­spieler Colin Farrell, Jessica Chastain und Samantha Morton sind wunderbar anzu­schauen. Aber Chastain ist sichtlich mindes­tens zehn Jahre zu alt, um eine gute Besetzung für die 25-jährige Julie zu sein. Das verändert die Haltung zum Stoff: Mitt­dreißiger, die so fühlen und handeln wie Mitt­zwan­ziger im 19. Jahr­hun­dert, sind uns nicht wirklich nahe.
Auch die gestelzt klingende, arti­fi­zi­elle Sprache der Über­set­zung distan­ziert den Zuschauer zusät­z­lich. Zum Beispiel: »Als kleiner Junge saß ich heimlich da und erspähte sie, als sie durch den Rosen­garten gingen. Ich sah ihre schlanken weißen Fesseln und ich sage Ihnen: Ich hatte dieselben häss­li­chen Gedanken, wie alle jungen Burschen.«

Verfilmt wurde »Fräulein Julie« bereits ein halbes Dutzend mal, zuerst 1912, am berühm­testen Anfang der 50er Jahre unter der Regie von Alf Sjöberg. Diese Verfil­mung kann man sich einmal auf YouTube angucken. Sollte man auch, wenn keine DVD oder ein gutes Kino bereit steht. Wie spannend, wie brennend zeitgemäß ist das alles noch heute!

Wie man Klassiker ansonsten aktua­li­sie­rend, oder zumindest relevant verfilmen könnte, haben die jüngsten Verfil­mungen von »Woyzek«, »Fräulein Else« und »Michael Kohlhaas« bewiesen. Ullmanns »Fräulein Julie« dagegen wird wieder alle blöden Vorur­teile gegen Lite­ra­tur­ver­fil­mungen nähren.