Freistatt

Deutschland 2014 · 108 min. · FSK: ab 12
Regie: Marc Brummund
Drehbuch: ,
Kamera: Judith Kaufmann
Darsteller: Louis Hofmann, Alexander Held, Stephan Grossmann, Katharina Lorenz, Max Riemelt u.a.
Schonungslose Blicke

Unglaubliche Tortur

Der Name „Freistatt“ ruft für sich genommen positive Asso­zia­tionen hervor. Lässt an einen Platz im Grünen denken. Ein Fleckchen Erde, an dem man sich unge­hin­dert entfalten kann. Frei von Zwängen und starren Regeln. In Wahrheit steht dieser Ort – im Landkreis Diepholz gelegen – aller­dings für eines der dunkelsten Kapitel der west­deut­schen Heim­ge­schichte. Bis Mitte der 1970er Jahre herrschten in der kirch­li­chen Fürsor­gean­stalt Gewalt und Unter­drü­ckung vor, obwohl die dorthin abge­scho­benen Jugend­li­chen eigent­lich zu christ­lich handelnden Menschen erzogen werden sollten.

Regisseur und Dreh­buch­autor Marc Brummund, selbst in der Nähe der Einrich­tung geboren, wirft in seinem ersten Kinofilm einen scho­nungs­losen Blick auf den mitunter qual­vollen Heim­alltag und bedient sich dabei persön­li­cher Erleb­nis­be­richte, allen voran Schil­de­rungen des ehema­ligen Zöglings Wolfgang Rosen­kötter, der heute als Ombuds­mann in Freistatt wirkt. Entstanden ist ein raues, unge­schöntes Jugend­drama, das dem Schrecken der „Schwarzen Pädagogik“ auf diffe­ren­zierte Weise zu Leibe rückt.

Im Mittel­punkt steht der 14-jährige Wolfgang (Louis Hofmann). Ein kleiner Rebell, der sich nicht in das spießige Leben seiner Familie im nieder­säch­si­schen Osnabrück einfügen will und deshalb von seinem Stief­vater (Uwe Bohm) nach Freistatt abge­schoben wird – was Wolfgangs einfühl­same Mutter (Katharina Lorenz) still­schwei­gend duldet. Ange­kommen in der abge­le­genen Erzie­hungs­an­stalt, sieht sich der renitente Teenager mit einem Auto­ritäts­system konfron­tiert, das nur eine Maxime kennt: bedin­gungs­losen Gehorsam. Während Wolfgang in Anton (Langston Uibel) einen Verbün­deten findet, versucht er, den unmensch­li­chen Heim­struk­turen die Stirn zu bieten.

Bezeich­nen­der­weise verorten Brummund und Koautorin Nicole Armbruster ihre Geschichte im Sommer 1968. In einer Zeit also, die von gesell­schaft­li­chen und kultu­rellen Umbrüchen und einer offenen Aufleh­nung gegen die Eltern­ge­ne­ra­tion geprägt war. Zu spüren ist der Wind der Freiheit, des Anders­den­kens abseits großer Städte aller­dings nur verhalten. In der Provinz herrschen weiterhin konser­va­tive Denk­muster vor. Gewalt ist nach wie vor im Fami­li­en­leben verankert und nimmt im Heim­alltag sogar syste­ma­ti­sche Züge an. Wer nicht spurt, wird von Bruder Wilde (Stephan Grossmann), einem der beiden Erzieher, rück­sichtslos miss­han­delt. Aus jedem Winkel lugen in Freistatt quasi-faschis­ti­sche Methoden hervor: Dumpfes Auto­ritäts­ge­habe bestimmt die Mahl­zeiten, bei denen die Jugend­li­chen nur auf Anweisung sprechen dürfen. Indi­vi­du­elles Fehl­ver­halten zieht Bestra­fungen aller Insassen nach sich, weshalb sich die Jungen auch unter­ein­ander auf brutale Weise diszi­pli­nieren. Und auf dem Weg zur Zwangs­ar­beit im Moor into­nieren die Bewohner das Moor­sol­da­ten­lied, das auf die Häftlinge des Konzen­tra­ti­ons­la­gers Börger­moor zurück­geht.

Ganz nebenbei erzählt der Film, dass einige Erzieher damals überhaupt nicht für den Dienst in einem Jugend­heim quali­fi­ziert waren, sondern aus anderen Berufs­fel­dern kamen. An die Seite von Bruder Wilde, einem solchen „Quer­ein­steiger“, der ganz offen prügelt und ernied­rigt, stellt das Drehbuch die Figur des intro­ver­tierten Bruder Krapp (Max Riemelt), der den aufsäs­sigen Teenagern wohl­wol­lender begegnet. Wie sich später zeigt, hat er jedoch im Geheimen große Schuld auf sich geladen, die ausge­rechnet beim besinn­li­chen Weih­nachts­fest zu Tage tritt. Eine Szene, die auch deshalb sprachlos macht, weil der anwesende Pfarrer das Geschehen mit einem lapidaren Satz beiseite wischt – eine sicher­lich gewollte Anspie­lung auf den unrühm­li­chen Umgang der Kirche mit den in den letzten Jahren publik gewor­denen Miss­brauchs­fällen. Als allwis­sende Präsenz im Hinter­grund fungiert Hausvater Brockmann. Eine Mischung aus gütigem Vater­er­satz und durch­trie­benem Sadisten, den Alexander Held geradezu beängs­ti­gend ambi­va­lent verkör­pert.

Ästhe­tisch fahren Brummund und Kame­ra­frau Judith Kaufmann eine Doppel­stra­tegie. Einer­seits sind mehrfach sonnen­durch­flu­tete Bilder zu sehen, die an verblasste Foto­gra­fien erinnern. Ähnlich den Schnapp­schüssen vom realen Heimleben, die im Abspann gezeigt werden. Ande­rer­seits setzen sich mit zuneh­mender Dauer, je weiter sich die Abwärts­spi­rale für Wolfgang dreht, erdig-ausge­wa­schene Farben durch, die der trost­losen Moor­land­schaft entspringen und den Gefäng­nis­cha­rakter der Fürsor­gean­stalt unter­strei­chen. Insgesamt mutet der Film dem Publikum einige verhält­nis­mäßig harte Gewalt­szenen zu. Momente, die aller­dings keinen Selbst­zweck verfolgen, sondern inhalt­lich begründet sind.

Auch wenn die Musik stel­len­weise über­prä­sent ist, einige Szenen etwas plakativ geraten (Stichwort: Aufstand zum Richie-Havens-Song „Freedom“) und das Drehbuch gegen Ende mehrere Schritte auf einmal nimmt, ist Marc Brummunds Kinodebüt ein gelun­gener Beitrag zur immer noch vernach­läs­sigten Aufar­bei­tung von Miss­hand­lungen in kirch­li­chen und staat­li­chen Heimen. Eine besondere Erwähnung verdient Haupt­dar­steller Louis Hofmann, der den Tour-de-Force-Ritt seiner Rolle bravourös meistert. Beklem­mend und erschüt­ternd ist das Drama nicht nur, weil es mit Unter­s­tüt­zung der heutigen Diakonie Freistatt an den erhal­tenen Origi­nal­schau­plätzen entstand. Auch die letzten Einstel­lungen garan­tieren ein längeres Nach­hallen. Zeigen sie doch, dass eine einfache Rückkehr in ein „normales“ Leben nach derart schreck­li­chen Erfah­rungen nicht möglich ist – eine Erkenntnis, die wohl viele Betrof­fene bestä­tigen können.