Freiheit

Deutschland/Slowakei 2017 · 103 min. · FSK: ab 12
Regie: Jan Speckenbach
Drehbuch: ,
Kamera: Tilo Hauke
Darsteller: Johanna Wokalek, Hans-Jochen Wagner, Inga Birkenfeld, Ricky Watson, Georg Arms u.a.
Ein ungewöhnlicher, intensiver Film

Die Frau, die ging

»Wenn ich mir was wünschen dürfte, käm' ich in Verle­gen­heit...« – es ist die Stimme Marlene Dietrichs, unver­kennbar auf einer Aufnahme in späteren Jahren, die plötzlich erklingt. Friedrich Hollan­ders Lied über das »Heimweh nach dem Trau­rig­sein«, das die Dietrich bis zum Schluss immer wieder gern auf ihren Konzerten anstimmte, sang sie zuerst gegen Ende der Weimarer Republik, in Robert Siodmaks »Der Mann, der seinen Mörder sucht«, in dem ausge­rechnet Heinz Rühmann einen selbst­mord­ge­fähr­deten Ange­stellten spielt.
Der Berliner Regisseur Jan Specken­bach hat den melan­cho­li­schen Song jetzt ausge­graben, und unterlegt seinen zweiten Film (nach Die Vermissten) an entschei­dender Stelle damit. Freiheit könnte auch den alter­na­tiven Titel tragen: »Die Frau, die ihren Mörder sucht«.

Johanna Wokalek spielt hier Nora, eine Anwältin, die von einem auf den anderen Moment alles hinter sich lässt: Mann, zwei Kinder, den hoch­be­zahlten Job und das gute Leben in Berlin. Sie tauscht es ein gegen ein prekäres Driften in eine imaginäre Nebel­win­ter­land­schaft zwischen Wien und Bratis­lava. Eigent­lich weiß man schon von Anfang an, worauf es hinaus läuft, wenn man die Donau sieht, die wie der Toten­fluss »Lethe« aussieht, wenn Nora im Wiener Kunst­his­to­ri­schen Museum Breughels »Turmbau von Babel« ansieht und dann »Orpheus und Eurydike«, wenn immer wieder aus dem Off Purcells Dido die suizidale Erin­ne­rungs-Arie »Rember Me« anstimmt.

Die Musik des Films ist großartig, wenn sie auch gele­gent­lich zu deutlich als Kommentar oder Inten­sitäts­ver­s­tärker einge­setzt ist – ande­rer­seits passt das, denn um Inten­sität, die Suche nach ihr und die Angst vor ihr, geht es in Freiheit.

Kaum zufällig heißt diese Figur Nora – wie in dem Thea­ter­stück von Ibsen »Nora oder Ein Puppen­heim«. Der Fim erzählt diese Story gewis­ser­maßen weiter: Was ist eigent­lich mit dieser Nora, wenn sie die Tür zuschlägt, und ihr Heim endgültig verlässt – so endet Ibsens Stück ja.

Freiheit fängt eigent­lich fast genau an diesem Punkt an – nur im Rückblick erfahrt man ein bisschen etwas über das Gehen, das Leben davor, noch wichtiger aber: Über das Leben der rest­li­chen Fami­li­en­mit­glieder.
Ibsens Nora war ja eine moderne Frau, eine Revo­lu­ti­onärin. Was ist die Nora in Freiheit? Specken­bachs Nora ist auch mutig, aber anar­chis­ti­scher. Sie ist erfüllt vom Auflehnen gegen das Gegebene, das wir alle kennen. Sie steckt in einem Käfig und muss aus diesem Käfig raus. Viele, nicht nur Frauen und Mütter kennen dieses Gefühl. Der einzige Unter­schied ist, dass Nora daraus Konse­quenzen zieht. Dass sie diesem Gefühl nachgibt, und sich davon­treiben lässt.

In Bildern, die die düstere Pracht einer moder­ni­sierten schwarzen Romantik mit beiläu­figem, klug gesetztem sozialem Kommentar vereinen, paral­le­li­siert Jan Specken­bach Noras einsame Reise, ihr Warten ohne Ziel mit dem Weiter­leben ihres Mannes Philip (wunderbar zwischen Satu­riert­heit und Zerbre­chen gespielt von Hans Jochen Wagner) und der Kinder.

Der Film ist eine große Leistung. Zum einen, weil er unter schwie­rigen Bedin­gungen mit wie üblich zu geringer Finanz­aus­stat­tung entstand – offenbar scheuten manche Geldgeber vor diesem unor­tho­doxen Mutter­bild zurück.
In Deutsch­land herrscht immer noch der Mutter­my­thos, eine einsei­tige Verklä­rung und Idea­li­sie­rung der Mutter – andere Verhal­tens­weisen gibt es zwar, sie wird aber Frauen nicht zuge­standen. Aber Nora hat weder einen schlechten Charakter, noch ist sie verrückt.

Jan Specken­bachs Freiheit steht all seinen Figuren zur Seite und verrät sie nie, auch nicht wenn es schwer wird – ohne Frage ist dies ein Film, der das Niveau, das man vom deutschen Kino gewohnt ist, klar über­schreitet.