Deutschland/CH 2024 · 94 min. · FSK: ab 12 Regie: Willy Hans Drehbuch: Willy Hans Kamera: Paul Spengemann Darsteller: Leo-Konrad Kuhn, Alva Schäfer, Shadi Eck, Darja Mahotkin, Charlotte Hovenbitzer u.a. |
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Die kühne Utopie absoluter Freiheit... | ||
(Foto: Grandfilm) |
Der 17-jährige Simon (Leo Konrad Kuhn) trödelt in der Umkleidekabine beim Schuhe anziehen, sucht noch nach der Wasserflasche, die anderen sind schon alle beim Training, er ist dabei, die Treppe runterzugehen, und sieht durch den Türausschnitt auf den Boden der Turnhalle, wo er nur die Füße der Trainierenden vorbeitraben sieht, von rechts nach links, dann wieder von links nach rechts. Er macht kehrt und verlässt das Betongebäude, ohne vorher noch die Umkleide aufzusuchen: ein spontanes Ausbüxen… Ohne recht zu wissen, wohin, lässt er sich dann von einem Bekannten, dem er zufällig begegnet, mitnehmen im Auto, an den Fluss, wo die Clique des Bekannten abhängt in der matten Trägheit eines Sommernachmittages.
Eine eigenartige Stimmung herrscht hier, planlos überlassen sich die Jugendlichen dem bloßen Vergehen der Zeit, die mit dem Wasser des Flusses nur so dahinzutreiben scheint. Geflirte, Neckereien, Hänseleien, belangloses Gelaber, einer erzählt von einem Cousin in Kassel, vom Pizzaessen in der Wohnung dort, »eine Geschichte aus dem echten Leben«, ohne Pointe, ohne Fortsetzung, die echolos verhallt, versickert zwischen dem Plätschern des Wassers und den Steinen am Ufer.
Dann ein Anflug von Dramatik, ein Blutfleck auf dem weißen T-Shirt Simons, der aus seinem Ungeschick resultiert, als er den ihm zugeworfenen Ball nicht fängt, sondern direkt ins Gesicht bekommt, vielleicht war der Ball aber auch nur ungeschickt geworfen, viel zu abrupt und zu hart. Auch diese Episode bleibt im Ungefähren, in einem unentschiedenen Auf-der-Kippe-Stehen. Das Ungeschick oder skill issue (so der englische Titel des Films, der auch als Graffiti einmal an einer Betonwand zu lesen ist) ist keinem der Akteure anzulasten, es ergibt sich als ungerichtete Resultante aus der Situation, aus dem Zustand des Zögerns, Zauderns, in dem vor allem Simon sich befindet. Kipp-Punkte prägen die Atmosphäre hier, Zonen der Ununterscheidbarkeit, in der die scheue Zärtlichkeit, die eingeübt werden will, plötzlich umschlagen kann in Verletzung und Aggression.
Die Erzählweise des ganzen Films folgt insgesamt einer Logik des Ausbüxens. Die Kamera von Paul Spengemann kadriert zum einen sehr präzise Einstellungen und Ausschnitte, löst diese aber dann immer wieder auf, lässt sich von Bewegungen im Bild verleiten, ins Hors-champ abzuschweifen. Simon, der nicht so recht dazu gehört, sondert sich mit der einzelgängerischen Marie (Alva Schäfer) ab. Aber eher ist es die Kamera, die die beiden absondert und im Unterholz, im Gestrüpp umherstreifen lässt. Und die ganze Zeit das Wasserrauschen des Flusses im Hintergrund einfängt, die Reflexe der tiefstehenden Sonne, das Rieseln des Laubes an den Bäumen im Gegenlicht, in der manchmal aufkommenden leichten Brise: reine akustische und optische Eindrücke lösen sich in einem diffus-vagen Impressionismus von Flecken und Klecksen auf, die ihre überbordende Konkretheit auch der Körnigkeit des Filmmaterials verdanken.
Das Sehen bekommt in Der Fleck eine haptische Qualität, die Oberflächen als Texturen erfasst. Auf 16mm gedreht, spürt der Film mit sinnlich tastender Kamera dem Abdriften der Wahrnehmung der Jugendlichen nach, die Kamera übernimmt ihren Blick, macht sich dann aber auch frei davon, gewinnt eine eigene Präsenz. In einer faszinierend trancehaften Sequenz stößt sie in experimentelle Dimensionen vor, lotet die Grenzen des Wahrnehmbaren, des Sichtbaren aus und taucht ins Unheimlich-Abgründige ein, verwandelt für kurze Momente die unscheinbare Idyllik eines Schweizer Flusses in die bedrohlich-dräuende Kulisse eines Horrorfilms oder in den exotischen Urwald eines Abenteuerfilms. Dann macht sie wie in einem Scherzo einen kurzen Abstecher zu einem Kindergeburtstag an einer anderen Stelle am Fluss, um wieder zurückzukehren zu den Jugendlichen.
Der Fleck ist das Langfilmdebüt des gebürtigen Freiburgers Willy Hans, der an der Hochschule für bildende Künste Hamburg unter anderem bei Angela Schanelec studierte. Den experimentellen Gestus seiner bisherigen Kurzfilme (überwiegend analog gedreht) hat er für Der Fleck genutzt, um herkömmliche Dramaturgien aufzusprengen und das diffuse Lebensgefühl eines träge dahinfließenden Nachmittages am Fluss in die kühne Utopie absoluter Freiheit zu transformieren.