Das Fest geht weiter!

Et la fête continue!

Frankreich/I 2023 · 107 min. · FSK: ab 12
Regie: Robert Guédiguian
Drehbuch: ,
Kamera: Pierre Milon
Darsteller: Ariane Ascaride, Jean-Pierre Darroussin, Lola Naymark, Robinson Stévenin, Gérard Meylan u.a.
Das Fest geht weiter!
Optimismus und Zuversicht, ohne die Probleme auszublenden...
(Foto: Film Kino Text Jürgen Lütz / Die FilmAgentinnen)

Mit einem Hauch heiterer Melancholie

Robert Guédiguian gelingt es, aktuelle soziale Probleme in Marseille engagiert aufzugreifen und abermals mit einer betörenden Liebeserklärung an das Licht seiner Heimatstadt und das Kino zu verknüpfen

Zwei Leben bräuchte man, das erste, um für sich selbst zu sorgen, und ein weiteres, um den anderen zu helfen, so spricht Rosa (Ariane Ascaride) einmal zu sich selbst. Eher scheint sie aber zuerst für die anderen da zu sein, als Kran­ken­schwester auf ihrer Station, als enga­gierte Marseiller Kommu­nal­po­li­ti­kerin, die sich als Spit­zen­kan­di­datin eines links-grünen Bünd­nisses aufstellen lässt, und schließ­lich als Dreh- und Angel­punkt der großen Familie mit arme­ni­schem Hinter­grund, ihres Bruders und der beiden Söhne samt Anhang. Dass sie sich nun, länger schon verwitwet und kurz vor der Rente stehend, auch noch verliebt, in Henri (Jean-Pierre Darroussin), der, so stellt sich heraus, ausge­rechnet der Vater von Alice (Lola Naymark), der frisch Verlobten ihres Sohnes Sarkis (Robert Stévenin) ist, könnte der Auftakt für ein komö­di­an­ti­sches Fami­li­en­me­lo­dram um die späte Liebe sein.

Doch Robert Guédi­guian, in Marseille geboren und mit all seinen Filmen den kleinen Leuten dort treu geblieben, hat im Grunde ein eigenes Genre geprägt: er verknüft auf unver­gleich­liche Art den enga­gierten Autoren­film mit dem populären Kino. Das Leben der einfachen Leute in den einstigen Arbei­ter­vier­teln Marseilles bekommt bei ihm einen beson­deren Glanz, der auch vor Düster­keiten (wie in seinem vorletzten Film Gloria Mundi – Rückkehr nach Marseille) nicht zurück­schreckt. Für Das Fest geht weiter! hat er aber eine entschieden positive Tonart ange­schlagen. Dabei hebt der Film krisen­hafte Momente genug in sich auf. Guédi­guian ließ sich wie so oft in seinem viele Filme währenden Schaffen (in Frank­reich ist mitt­ler­weile schon sein 24. Werk im Kino gelaufen, La Pie Voleuse, Die diebische Elster) von aktuellen poli­ti­schen und sozialen Problemen anregen. Die Figur von Rosa ist inspi­riert von der ökolo­gisch enga­gierten Ärztin Michèle Rubirola, die 2020 Bürger­meis­terin als Kandi­datin eines linken Bünd­nisses wurde, dem sich die Grünen erst im zweiten Wahlgang anschlossen. Ihr Wahlsieg ist vor dem Hinter­grund eines Skandals zu verstehen, der Marseille 2018 erschüt­terte, als mitten im quirlig belebten Stadt­zen­trum nahe der Canebière, in der Rue d’Aubagne, am fünften November zwei Wohn­häuser eins­türzten und acht Menschen unter den Trümmern begruben. Ein Fanal, das auf Nach­läs­sig­keiten der städ­ti­schen Politik und auf üble Machen­schaften der Immo­bi­li­en­branche hinwies. Guédi­giuan stellt diese Ereig­nisse ins Zentrum des Films, um das herum sich sein leben­diges Figu­ren­ar­senal gruppiert.

Alice, die Verlobte Sarkis, wohnt in direkter Nach­bar­schaft der einge­stürzten Häuser, sie engagiert sich in einer Bürger­schafts­hilfe, die unter anderem dieje­nigen unter­s­tützt, die nach eilig anbe­raumten Zwangs­eva­ku­ie­rungen ebenfalls einsturz­ge­fähr­deter Häuser umge­sie­delt werden mussten (es waren an die 6000 Personen). Und sie setzt sich ein für die symbol­träch­tige Umbe­nen­nung des Platzes in der Nähe des Unglücks im Viertel Noailles zur Place du 5 Novembre 2018, wie sie auch im wirk­li­chen Marseille statt­ge­funden hat. Der feier­liche Akt, an dem sich alle Figuren betei­ligen, stellt einen pathe­ti­schen Höhepunkt des Films dar.

Auch der armenisch-azer­bai­dscha­ni­sche Konflikt um Berg-Karabach wird eingebaut: die arme­ni­sche Diaspora, zu der die Film­fa­milie gehört (wie übrigens Regisseur Guédi­guian selbst), ist davon betroffen, Milas, der Bruder von Sarkis, will als Arzt im Land seiner Vorfahren Hilfe leisten.

Ja, huma­ni­täre Ergrif­fen­heit und Rührung scheut Guédi­guian nicht. Doch finden sich diese Momente aufge­hoben in einer Art melan­cho­li­schen Heiter­keit, zu der auch das unver­gleich­liche Marseiller Licht mit seinem Wider­schein über dem Meer beiträgt. Henris Blick auf die Stadt, der als Vater von Alice in Marseille zu Besuch ist, um Versäumtes bei seiner Tochter wieder­gut­zu­ma­chen, lässt sich immer wieder von diesem Licht betören und von der Atmo­sphäre sommer­li­cher Nächte gefan­gen­nehmen, die die Kamera mit einem leichten Hauch des Irrealen versieht: es ging Guédi­guian und Kame­ra­mann Pierre Milon ganz bewusst um eine Tonalität, die Opti­mismus und Zuver­sicht ausstrahlen sollte, ohne die Probleme auszu­blenden.

Das Pathos kulmi­niert in einer thea­tra­li­schen Szene auf der Frei­licht­bühne des Théâtre Sylvain, in der die berühmte Filmmusik von Georges Delerue aus Godards Le mépris anhebt und gleich darauf Rosa aus den Gefäng­nis­briefen ihrer Namens­pa­tronin Rosa Luxemburg zitiert: »Aber mein innerstes Ich gehört mehr meinen Kohl­meisen als den 'Genossen'.«

Mit diesem Topos linker Melan­cholie, in dem sich das Private resi­gnativ vom Poli­ti­schen scheidet, hebt Guédi­guian umso nach­drück­li­cher hervor, wie sehr seine Filmfigur Rosa eine Wunsch­fan­tasie sein könnte, in der die Zersplit­te­rung der linken Grup­pie­rungen aufge­hoben wäre im Traum eines Front Populaire, ganz ohne Beige­schmack eines Front National. Und darü­ber­hinaus wollte Guédi­guian mit dem Musik-Zitat aus Le mépris Godard einfach seine Reverenz erweisen, von dessen Tod er erfuhr, als der Film im Schnitt war.