Das Ereignis

L'evenement

Frankreich 2021 · 100 min. · FSK: ab 12
Regie: Audrey Diwan
Drehbuch: ,
Kamera: Laurent Tangy
Darsteller: Anamaria Vartolomei, Kacey Mottet Klein, Luàna Bajrami, Louise Orry-Diquéro, Sandrine Bonnaire u.a.
Bildnis einer Jugend
(Foto: Prokino)

Selbstbestimmung in Zeiten der Repression

Audrey Diwan erzählt in ihrer herausragenden Bestsellerverfilmung Das Ereignis von Puritanismus und Feigheit der Moralprediger

»C'est quoi ta probleme?« – »La solitude.«
Dialog­aus­schnitt

Anne träumt davon, Schrift­stel­lerin zu werden. Auch sonst trifft sie das »Ereignis« im denkbar ungüns­tigsten Moment, nämlich ausge­rechnet, als die Studentin kurz vor Abschluss ihres Lite­ra­tur­stu­diums und vor einer viel­ver­spre­chenden akade­mi­schen Karriere steht. Dieses titel­ge­bende »Ereignis« ist mit das Schlimmste, was im Frank­reich des Jahres 1963, als es die Pille noch nicht gab, einer jungen, unver­hei­ra­teten Frau passieren kann: Sie ist ungewollt schwanger.
Verzwei­felt versucht sie im Folgenden, das Kind nicht bekommen zu müssen. Aber die Möglich­keiten einer Abtrei­bung sind eng begrenzt, legal ist nichts davon, vielmehr droht Gefängnis, und die, die ihr helfen könnten und denen sie sich anver­trauen kann, lassen sie oft genug im Stich. Am trag­fähigsten ist noch die Soli­da­rität der gleich­alt­rigen Freun­dinnen unter­ein­ander. Weder der Versuch, sich selbst mit frag­wür­digen »Haus­mit­teln« von der Not zu befreien, noch der – straf­recht­lich hoch­ge­fähr­liche – Besuch bei einer Engel­ma­cherin helfen. Ein Rennen gegen die Zeit. Immer wieder verzwei­felt sie am Puri­ta­nismus und an der Kälte der Gesell­schaft.

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Wir lernen Anne erst in ihrem ganz normalen Leben und Alltag als ganzen Menschen kennen. Das ist sehr wichtig, gerade um zu begreifen, was ihr nun geschieht: Weil ihre neue aktuelle Notlage nun plötzlich alles bestimmt und jede Sekunde in Annes Leben präsent ist, bestimmt sie nicht alles. Gerade hier und jetzt ist das wichtig und muss sich bewähren, was Annes Leben sonst ausmacht: Ihre Freunde, ihr Studium, ihre lite­ra­ri­schen Vorlieben, ihre Familie, ihr Geschmack.

Regis­seurin Audrey Diwan vermeidet Psycho­lo­gi­sie­rungen und zeit­geist­ty­pi­sche Melo­dra­matik: Weder ist ihre Haupt­figur Opfer irgend­einer Gewalt noch ein Opfer irgend­einer besonders leiden­schaft­li­chen Liebe. Sie war nicht leicht­sinnig, es war kein unbe­darftes »erstes Mal«, aber auch keines­wegs ausschwei­fende Lebens­weise oder irgend­eine Verant­wor­tungs­lo­sig­keit. Sondern »es« ist einfach passiert. Diese Banalität des Sexuellen ist in mancher Hinsicht sehr gegen­wärtig und bringt uns Anne sehr nahe. Aber sie steht auch wiederum der ebenso gegen­wär­tigen Neigung fern, Sex immerzu mit Bedeutung aufzu­laden, oder als Sinnbild oder Zeichen für etwas anderes zu nehmen.

Was wir erfahren, ist, dass Anne eine junge Intel­lek­tu­elle ist, in ihren Vorlieben und Inter­essen eine für die sechziger Jahre sehr typische junge Frau, Leserin von Sartre, Beauvoir, von Aragon und Kafka. Sie denkt über die rheto­ri­sche Figur der »Anaphore« nach und sympa­thi­siert mit dem Kommu­nismus. Ihre Gegenwart begreift sie als Zeit der Befreiung, als Epoche des Aufbruchs. Sie will nicht sein wie ihre Eltern, obwohl sie diese liebt, sondern dem Milieu ihrer Herkunft entfliehen. Und Bildung und Wissen­schaft und Kunst sind ein Mittel dazu. Ihre Eltern haben eine kleine Gast­wirt­schaft in der Provinz, sie lieben und unter­stützen die Tochter, aber deren aktuelle Notlage über­for­dert ihr Verständnis und so können sie ihr auch nicht wirklich helfen.

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Es ist auch ein ganz anderes Frau­en­bild, das hier entworfen wird: Ein weniger konser­va­tives. In diesem ist eine Frau nicht in erster Linie Mutter. Sie möchte auch nicht in erster Linie Mutter sein, sondern sie möchte ein freier selbst­be­stimmter Mensch sein. Sie versteht das Mutter­sein nicht als Erfüllung, sondern als eine von mehreren Möglich­keiten und gerade jetzt als Bedrohung. Denn sie möchte sich wissen­schaft­lich bilden und sie möchte freien Sex. Ein paar Jahre später wird man auf den Pariser Straßen »Egalité! Liberté! Sexualité!« skan­dieren.
So geht es dieser Haupt­figur nicht allein um das Recht am eigenen Körper, sondern eben um mehr: Die Selbst­be­haup­tung des Geistes, um sexuelle Selbst­be­stim­mung und um den Anspruch aufs eigene Glück.

Trotzdem er in der Vergan­gen­heit spielt, ist dies kein Film über die Vergan­gen­heit: Im Gegenteil ist Abtrei­bung nach kurzer Libe­ra­li­sie­rungs­phase in den letzten dreißig Jahren im Einklang mit dem neuen Konser­va­tismus wieder zu einem der Haupt­themen leiden­schaft­li­cher ideo­lo­gi­scher Kontro­versen in den klas­si­schen west­li­chen Demo­kra­tien geworden, wie erst recht in manchen später demo­kra­ti­sierten Ländern. Nie war es ganz verschwunden. Das spiegelt sich auch im Kino wider. Seit 2004 erschien eine Reihe von Filmen, die auf die eine oder andere Weise die Abtrei­bung proble­ma­ti­sierten, meistens mit Blick auf eine Vergan­gen­heit, als Abtrei­bung verboten war. Alle diese Filme wurden heraus­ra­gende Festi­val­er­folge: Der promi­nente Mike Leigh gewann 2004 mit Vera Drake über eine gutmütige Frau, der in den 1950er Jahren in London illegale Abtrei­bungen durch­führte, um Mädchen und Frauen »in Schwie­rig­keiten« zu helfen, die Fest­spiele von Venedig. Drei Jahre später gewann Cristi Mungiu mit 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage in Cannes. Anne Zohra Berrached gewann mit 24 Wochen einen Silbernen Deutschen Filmpreis. Eliza Hittman gewann mit Niemals Selten Manchmal Immer einen Silbernen Bär in Berlin. Und auch Das Ereignis hat bei den Film­fest­spielen von Venedig 2021 (über­ra­schend) den Haupt­preis gewonnen.

Im Unter­schied zu den diversen anderen Abtrei­bungs­dramen geht es hier tatsäch­lich um die Notlage der Frau. Und um nichts sonst. Nicht wie bei Loach um die Frau, die »es« macht, und um schlechte soziale Verhält­nisse. Nicht wie im rumä­ni­schen Abtrei­bungs­drama eigent­lich um den bösen Kommu­nismus, nicht wie im US-Inde­pen­dent-Film Niemals Selten Manchmal Immer um den bösen Kapi­ta­lismus und Klas­sismus und die gute weibliche Soli­da­rität, und in 24 Wochen um unseren Umgang mit Behin­de­rung. In beidem sind unge­wollte Schwan­ger­schaft und Abtrei­bung nur ein Mittel zur Verschär­fung von Thesen zu Gesell­schaft und Politik. Hier geht es wirklich darum. Es geht einfach sehr konzen­triert um einen Menschen, der in Not ist, und genau damit, in seinem exis­ten­zi­ellen Allein­sein, universal für die ganze Mensch­heit steht.
Und das ohne Forcie­rung: Auf sehr sanfte, subtile Art. Der Film bleibt die ganze Zeit in der Nähe von Anne; die Kamera begleitet sie wie die einzige Freundin, die ihr in dieser Lage geblieben ist, erzeugt ein Gefühl der Intimität. Wir erkennen: Dies ist etwas ganz Persön­li­ches, das jemand einmal erlebt hat.

Und so war es: Diwans Film basiert auf der zum Teil auto­bio­gra­phi­schen Vorlage »L’Événement« von der fran­zö­si­schen Best­sel­ler­au­torin Annie Ernaux. Ernaux und Diwan erzählen zugleich von der bitteren Not aller Frauen Mitte des 20. Jahr­hun­derts. Es geht um das Recht der Frau, selbst zu entscheiden, ob sie ihr Kind behalten will. Heute ist dieses Recht in den meisten Ländern zumindest auf dem Papier unan­ge­fochten, aber der Film erinnert daran, wie viel weniger frei Frauen noch waren: Sie konnten nicht einmal über ihren eigenen Körper verfügen.

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Es ist ein sehr starker Film, dessen Wirkung sich erst allmäh­lich, erst nach einigen Tagen ganz entfaltet. So ging es mir seiner­zeit in Venedig. Wir Kriti­ker­kol­legen schienen mir damals später über »The Event« (so der englische Titel) mehr mitein­ander zu sprechen als über fast alle anderen Filme im Wett­be­werb. Gerade für einen Mann ist es eine spannende Erfahrung, sich hier sehr gut in die Position einer Frau hinein­ver­setzen, oder sich ihr jeden­falls annähern zu können – gerade weil der Film sehr unauf­dring­lich ist, nicht »predigend« und thesen­haft daher­kommt.
Geradezu körper­lich evoziert der Film die Erfahrung vieler Frauen früherer Epochen: Wie man seinen Körper hasst. Aggres­sionen gegen ihn entwi­ckelt.

Dies ist auch ein magne­ti­scher Auftritt von Anamaria Varto­lomei in der Haupt­rolle. Alles ist auf sie konzen­triert, aber auch in den Neben­rollen ist das ein toll gespielter Film.
Insze­niert ist der Film sehr zwingend, gradlinig erzählt, dabei aber nie ins Repor­ta­ge­hafte abglei­tend. Die Kamera bleibt der Haupt­figur immer nahe. Er repro­du­ziert ihren Blick, arbeitet dabei geschickt mit Unschärfen.
Sie arbeitet auch mit den Mitteln des klas­si­schen Kinos – 16mm und 4:3-Format. Auch dieses Format, wie Kostüme, wie Musik, wie kleine Details des Setde­signs bringen uns ins Zeitalter der früheren 60er zurück: das heißt einmal in jene unver­gleich­lich guten und bezau­bernd leichten und befrei­enden Filme der Nouvelle Vague von Truffaut und Godard und anderen.

Ich musste während des Films aller­dings auch immer wieder denken: Wie würde Truffaut so etwas erzählen? Wenn er es überhaupt erzählen würde. Agnès Varda? Die Jungen der Sechziger. Oder Antonioni? Visconti? Aber das ist viel­leicht die falsche Frage. Diwans Film ist ein leben­diges, mutiges und äußerst frei­mü­tiges Statement.
Das 4:3-Format ist aller­dings auch enger als das heute gewöhn­liche 16:8. Es steht nicht nur für Konzen­tra­tion, sondern auch für die Enge einer Zeit und die Enge eines Blicks auf die Welt. Dieser Enge gegenüber ist der Film ein Manifest der Selbst­be­stim­mung.

Mein Buch gehört mir

Audrey Diwan hat mit L’événement zu einer sinnlichen Verfilmung eines schmerzhaften Ereignisses gefunden, das die Schriftstellerin Annie Ernaux erst hervorgebracht hat

Ein Studen­ten­leben in den frühen 1960er Jahren. Zwischen dem Wohnheim mit Gemein­schafts­du­sche, dem Essen in der Kantine, den steil aufstei­genden Hörsälen und den Beatclubs der Stadt suchte man sich ein Leben zusammen. Was möchte ich werden? Lehrerin? Verhei­ra­tete Frau? Schrift­stel­lerin? Wie finde ich die Liebe, und wo sind die Freunde? Werde ich angepasst sein oder mir mein eigenes Leben suchen, trotz den Erwar­tungen der Eltern, die in der Provinz alles tun, damit die Tochter, die so gar nicht aus höherem Hause stammt, ein Studium in Literatur verfolgen kann? Und was ist, wenn das alles schief­geht?

»Ereignis« hat die fran­zö­si­sche Schrift­stel­lerin Annie Ernaux den Moment genannt, an dem fast alles schief­ge­gangen wäre. In ihrem auto­bio­gra­phi­schen Werk hat sie über die schwie­rigen Monate in ihrem Leben 1963 geschrieben, dicht dran an ihrem eigenen Leben, eine zu sachliche Wirk­lich­keits­re­kon­struk­tion, um den Text als »Auto­fik­tion« labeln zu können. Audrey Diwan hat die Erin­ne­rung verfilmt, nach L’autre (2008) und Passion Simple (2020) ist es die dritte Verfil­mung des schier uner­schöpfli­chen Schrei­bens der vom Leben ange­trie­benen Autorin.

Anne, die im Film Ernaux’ Mädchen­name Duchesne trägt, kommt aus einem kleinen Nest in der Provinz, ihre Eltern haben ein Bistro, schuften, damit die Tochter Literatur studieren kann. Das Klein­bür­gertum treibt Anne um, sie hat Größeres vor. Sie ist eine hoch­karä­tige Studentin und eine diskus­si­ons­freu­dige Intel­lek­tu­elle, aber das reicht ihr nicht. Sie ist auch hungrig nach dem Leben. In Angoulême, wo der Film spielt, liegen im Jahr 1963 die revo­lu­ti­onären 68er noch in weiter Ferne, aber es gibt die Beat-Musik und die Tanz­lo­kale, wo es sich wild allein oder eng umschlungen zu zweit tanzen lässt. Es geht um Jungs, um das Verhältnis der Geschlechter, aber auch darum, allein in eine Bar zu gehen und sich nicht abschleppen zu lassen.

Aber schon zu Beginn des Films funk­tio­niert für Anne dieses Eintau­chen in das aufre­gende Nacht­leben nicht mehr. Sie hat entdeckt, dass sie schwanger ist. Und wird für den Rest des Filmes alles in Bewegung setzen, dass sie das Kind nicht austragen muss, das ihre ehrgei­zigen Lebens­pläne jäh durch­kreuzt. Anamaria Varto­lomei, die für die Rolle den César als beste Nach­wuchs­dar­stel­lerin erhalten hat, verköpert sie mit aufrechter Haltung, unbe­irrbar und leidens­stark. Der Typ, mit dem sie sich einge­lassen hatte, entstammt dem schnö­se­ligen Bürgertum von Bordeaux, er ist froh, dass sie »es« wegmachen lassen will. Doch das ist gar nicht so einfach, Anfang der Sech­zi­ger­jahre in Frank­reich. Abtrei­bung wurde mit einer Gefäng­nis­strafe geahndet, und zwar für alle poten­tiell Betei­ligten: die Ärzte, Hebammen, Phar­ma­zeuten, die Frau natürlich. Außerdem drohte der Entzug der Aufent­halts­be­rech­ti­gung und Berufs­verbot.

Das ist die Fallhöhe, die Anne bei ihrer Tour de Force der nächsten Monate vor Augen hat. Anne kann in jedem Moment abstürzen und andere mit sich reißen. Ihr schmaler Pfad, bis sie zu einer Engel­ma­cherin findet, ist gefähr­lich suizidal, wenn das gesamte soziale Leben auf dem Spiel steht. Und dennoch geht Anne offensiv mit ihrer Schwan­ger­schaft um, fragt die Ärzte, Bekannte, weiht die Freun­dinnen ein. Eine sagt ihr: »Wenn du ins Kran­ken­haus kommst, weil es Kompli­ka­tionen gibt, musst du Glück haben, damit sie als Grund notieren: Fehl­ge­burt. Wenn du Pech hast, steht da ‚Abtrei­bung’. Dann wirst du nach dem Kran­ken­haus direkt ins Gefängnis kommen.«

Annie Ernaux hat für ihre auto­bio­gra­phi­sche Rekon­struk­tion ganz bewusst einen sach­li­chen Stil gewählt, der die Fakten und Etappen ihrer Abtrei­bung festhält, nicht ihre Emotionen, ihre Angst und das Aufge­wühl­t­sein. Audrey Diwan folgt diesem Stil. Musik setzt hier nur ein, wenn sie auch ihre Prot­ago­nis­tinnen hören können, es ist die Musik der Sech­zi­ger­jahre, keine emoti­ons­tra­gende Filmmusik. Die enge Kadrie­rung von 4:3, dem Academy-Format, bringt das Erleben der Prot­ago­nistin ganz nah heran. Keine Einstel­lung, kein Korn des 16mm-Materials rückt von ihr ab, in subjek­tiven Perspek­tiven, die sie wie in einem Film von Gus Van Sant von hinten zeigen, und wenn sich undeut­lich die Szene vor ihr auftut, erscheint sie als Urheberin des Gesche­hens und Akteurin zugleich. Oft filmt die Kamera ihre Haut, die schim­mernd die ärmel­losen Strick­tops einrahmt. Anne scheint verletz­lich, aber auch stark, in der schönen Kombi­na­tion von zarter Haut und Muskeln. Es sind sehr sensible, gar empfind­same Bilder, mit denen die Kame­ra­frau Laurent Tangy, die eigent­lich als DOP für den fran­zö­si­schen Polar (zuletzt für Cédric Jimenez’ Bac Nord) bekannt ist, gefunden hat. Gleich­zeitig kommt sie mit der Enge des Bildes sehr gut zurecht, eine Enge, die auch die Einsam­keit und den engen Kosmos der schwan­geren Anne trans­por­tiert.

Als es dann zum titel­ge­benden Ereignis kommt, erspart einem der Film nichts, und es gilt, dann auch wirklich stark zu sein und die Augen offen­zu­halten – und die Wahrheit des Körpers zu konfron­tieren wie einst die 23-jährige Annie Ernaux. Regis­seurin Diwan, die bislang vor allem als versierte Dreh­buch­schrei­berin für Poli­zei­filme und Thriller in Erschei­nung getreten ist, nimmt auch ein Risiko auf sich, wenn sie hier der Präzision der lite­ra­ri­schen Vorlage folgt. Das könnte konser­va­tive Kräfte, Abtrei­bungs­gegner oder auch einfach nur zart­be­sai­tete Gemüter gegen den Film aufbringen, wurde in Venedig jedoch mit dem Goldenen Löwen belohnt.

Die Kombi­na­tion aus Mut und nüch­terner Sach­lich­keit, histo­ri­scher Brisanz und Frau­en­frage macht den Film zu einem Meilen­stein im Abtrei­bungs­genre, weil er so nahe am Körper dran ist wie kein Film vor ihm. Weder Eliza Hittmans Niemals Selten Manchmal Immer (2020), der stärker auf das soziale Unrecht abzielt, noch Claude Chabrols Une affaire de femmes (1988), der zur Zeit der deutschen Besatzung von einer Engel­ma­cherin in einem schäbigen Hinterhof handelt, behandeln das Thema in dieser Konse­quenz.

Für Annie Ernaux markiert das Ereignis eine meta­phy­si­sche Schwel­lenü­ber­schrei­tung, bei der zugleich Tod und Geburt beteiligt sind: Der Tod des Foetus leitet die Geburt der Schrift­stel­lerin ein. »Reborn«, so nannte das Susan Sontag, auch sie hatte diese Werdung von der Frau zur Schrift­stel­lerin in ihrem Tagebuch, das im Jahr 1963 endet, mit einer ähnlichen Meta­phorik belegt. »Der wahre Zweck meines Daseins ist«, schreibt Ernaux am Ende von »L’événement«, »meinen Körper, meine Empfin­dungen und meine Gedanken in Schrift zu verwan­deln, und meine Existenz voll­s­tändig in den Köpfen und dem Leben anderer Menschen aufzu­lösen.« Die sinnlich-nüchterne Verfil­mung von Diwan haucht ihr jetzt wie in einer zweiten Geburt neues Leben ein, und gibt ihr eine vibrie­rende Körper­lich­keit zurück.