Ellbogen

Deutschland/F/TR 2024 · 90 min. · FSK: ab 16
Regie: Asli Özarslan
Drehbuch: ,
Kamera: Andac Karabeyoglu
Darsteller: Melia Kara, Jamilah Bagdach, Asya Utku, Nurgül Ayduran, Doga Gürer u.a.
Ellbogen
Gemeinsam einsam...
(Foto: jip)

Keine Chance für Jugendliche mit Migrationshintergrund?

Aslı Özarslans Verfilmung des Bestseller-Romans von Fatma Aydemir mit einer Protagonistin, die sich weder in Berlin noch in Istanbul heimisch fühlt, aber eine Menge Power hat, ist atemberaubend

Im Jahr 2017 veröf­fent­lichte die in Karlsruhe geborene und in Berlin lebende Autorin Fatma Aydemir ihren Debü­t­roman Ellbogen, für den sie gleich zwei Lite­ra­tur­preise erhielt. Die junge Regis­seurin Aslı Özarslan, ebenfalls Jahrgang 1986, die u. a. Doku­men­tar­film­regie an der Film­aka­demie Baden-Würt­tem­berg studiert hatte, wurde auf das Buch aufmerksam und konnte die Autorin davon über­zeugen, es zu verfilmen.

Haupt­figur in der Buch­vor­lage wie im Film ist die 17-jährige Hazal, deren Eltern aus der Türkei stammen. Hazal träumt davon, trotz einiger Ecken und Kanten in ihrem Lebens­lauf eine Chance zu bekommen und einen Ausbil­dungs­platz zu finden. Doch trotz bester Absichten scheitert sie an Vorur­teilen, die weniger mit ihr selbst zu tun haben, als mit ihrem Migra­ti­ons­hin­ter­grund. Entstanden ist eine Mischung aus Enttäu­schung und Wut, die sie nur schwer kana­li­sieren kann, zumal sie auch in der Familie nur von ihrer Tante Vers­tändnis und Rückhalt findet. In Elma und Gül hat sie immerhin zwei beste Freun­dinnen, mit denen sie gut abhängen kann und die ähnliche Erfah­rungen wie sie gemacht haben. Wenigs­tens ihren 18. Geburtstag möchte sie mit beiden gebührend in einem ange­sagten Berliner Club feiern, fein heraus­ge­putzt und nicht mehr ganz nüchtern. Doch auch hier erfahren sie eine Abfuhr, der Türsteher ist der Auffas­sung, sie seien keine Stamm­gäste. Auf dem Rückweg wird Hazal in einer U-Bahn-Station von einem Studenten übel angemacht. Die Situation eskaliert und der Student kommt zu Tode, wie Hazal erst einige Zeit später erfährt. Gleich am nächsten Morgen flüchtet Hazal nach Istanbul, in eine Stadt, die sie nicht kennt und in der sie sich genauso fremd wie in Berlin fühlt. Aber sie ist fest entschlossen, nicht aufzu­geben und ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen ...
Der Coming-of-Age-Film wurde mit Laien­dar­stel­le­rinnen umgesetzt, wobei vor allem Melia Kara in der Rolle von Hazal brilliert. Das verleiht dem Film eine große Authen­ti­zität, zumal die Regis­seurin auch auf ihre Erfah­rungen aus dem Doku­men­tar­film­stu­dium zurück­greifen konnte. Besonders gelungen ist die filmische Umsetzung, die darauf bedacht ist, ganz bei der Haupt­figur zu bleiben und die Ambi­va­lenz ihrer Gefühle zwischen Wut und Enttäu­schung sowie dem Willen zur Selbst­be­haup­tung zu visua­li­sieren. Sie hat keine Scheu, auch mal ihre Ellbogen zu benutzen, selbst wenn das nicht immer zu ihrem Vorteil ist. Neugier für die Figur und Spannung entstehen durch eine Montage mit harten Schnitten, wobei die nach­fol­gende Szene häufig zum Über­ra­schungs­mo­ment wird, da zunächst nur Nah- und Detail­auf­nahmen zu sehen sind und der größere Kontext erst einige Sekunden später erkennbar wird. Die Kamera fängt Hazals innere Zerris­sen­heit zudem in symbol­kräf­tigen Bildern ein, etwa durch verwir­rende spie­gelnde Fens­ter­fronten, die Hazal mitten im Geschehen zeigen, aber wie durch ein Glas­fenster hindurch zugleich ausge­schlossen. Ihre Suche nach der eigenen Identität, zu der später noch die Ausein­an­der­set­zung mit den kultu­rellen Wurzeln ihrer Eltern hinzu­kommt, werden anhand von zahl­rei­chen Spie­gel­bil­dern unter­stri­chen, sei es, um sich im Spiegel zu schminken und attrak­tiver zu machen, selbst­kri­tisch in einem zerbro­chenen Spiegel oder in einem Auto­spiegel, um ihre wahre Identität gegenüber der Polizei zu verschleiern.

Einige der im Film ange­spro­chenen Themen werden nur ange­deutet, aber nicht ausge­führt oder sprach­lich auf einen Nenner gebracht. Beispiels­weise die Kurden­pro­ble­matik in der Türkei, die von Halil ins Spiel gebracht wird, einem Mitbe­wohner von Mehmet, bei dem Hazal in Istanbul vorü­ber­ge­hend unter­ge­kommen ist. Halil ist Kurde und wird von der Polizei gesucht, was auch für Hazal nicht ohne Folgen bleibt. Das Publikum, das in einem offenen Ende durch Hazals Blick in die Kamera direkt ange­spro­chen wird, muss sich auch vorher schon selbst Gedanken machen und eigene Schluss­fol­ge­rungen ziehen bei all dem, was nicht gezeigt oder ausge­spro­chen wird. Sehr deutlich und wieder­holt weist der Film dagegen darauf hin, dass Hazal und ihre Freun­dinnen in Berlin ständig mit Vorur­teilen konfron­tiert sind, die auch rassis­ti­sche Bezüge aufweisen. Solche Formen von struk­tu­reller Gewalt und insbe­son­dere gegen Frauen sind in Berlin allge­gen­wärtig, wobei die türkische Polizei in der Ausübung von physi­scher Gewalt auch nicht gerade zimper­lich ist.

Seine Urauf­füh­rung hatte der Film auf der Berlinale 2024 in der Sektion Gene­ra­tion 14plus. Genau an diese Ziel­gruppe richtet er sich in beson­derem Maß, denn mit struk­tu­reller Gewalt und Rassismus sollte man sich nicht erst im Erwach­se­nen­alter ausein­an­der­setzen.

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Zur aktuellen FSK 16-Einstu­fung dieses Films
Seit vielen Jahren wird immer wieder von unter­schied­li­cher Seite gefordert, dass die FSK gerade im sensiblen Bereich des Kinder- und Jugend­films ihre Alters­frei­gaben zeitgemäß anpasst. Geschehen ist nahezu nichts. Statt­dessen behauptet die FSK gebets­müh­len­artig, dass sich die Alters­stufen bewährt haben – und das trotz eigener in Auftrag gegebener Unter­su­chungen, die belegten, dass es gerade zwischen 12 und 16 Jahren große Entwick­lungs­sprünge bei den Jugend­li­chen gibt. Inter­es­siert offenbar aber nicht die Bohne!

Es ist völlig absurd, dass die FSK Ellbogen auch im Wider­spruchs­ver­fahren erst ab 16 Jahren frei­ge­geben hat, in dem es explizit um Gewalt gegen Frauen und Rassismus geht, vor einigen Jahren dem Film Gegen die Wand aber eine Alters­frei­gabe von 12 Jahren beschei­nigte. Da ging es ja auch »nur« um versuchten Selbst­mord.

Guten Gewissens empfehlen lässt sich der Film erst ab 14 Jahren, aber dieses Alter scheint für die FSK immer noch völlig irrele­vant. Mit der Freigabe erst ab 16 Jahren verliert der Film einen erheb­li­chen Teil seines unmit­telbar ange­spro­chenen Publikums (auch für den Einsatz im Schulkino), und das bei so wichtigen Themen wie Entste­hung von Vorur­teilen, Rassismus und Gewalt gegen Frauen. Leider ist das kein Einzel­fall!