Dem Leben entgegen

Schweden/Österreich 2018 · 94 min. · FSK: ab 12
Regie: Gülseren Sengezer
Drehbuch:
Kamera: Mathias Toivonen
Schnitt: Mathias Toivonen
In die Mädchenjahre zurück: Elise Reifeisen-Hallin
(Foto: @GMfilms)

Verlorene Kindheit

Nur wenige jüdische Kinder konnten im schwedischen Exil vor den Nazis in Sicherheit gebracht werden. Gülseren Şengezer hat ihnen in Dem Leben entgegen ein sensibles Denkmal gesetzt

Die verschneite schwe­di­sche Land­schaft liegt friedlich ausge­breitet wie im Inneren einer Schnee­kugel, auf den Tannen­spitzen stäubt es puderfein, eine unberührte Land­schaft, durch die ganz geräu­schlos ein Zug gleitet. Man denkt an Michel aus Lönne­berga, an Bullerbü und überhaupt an Astrid Lindgren. Ihre welt­berühmten Kinder­bücher sind in der unmit­tel­baren Zeit nach dem Krieg entstanden. Kurz davor noch war Schweden ein geschützter Raum für viele Exilanten, die vor den Nazis geflohen waren. Doch nur wenige jüdische Kinder, 500 waren es, wurden im Zweiten Weltkrieg von dem politisch neutralen, aber trotzdem anti­se­mi­ti­schen Land aufge­nommen. Dass die Eltern nach­kommen würden, war ausge­schlossen. Und so waren diese Kinder oft schon mit vier oder fünf Jahren auf sich alleine gestellt und in ihren schwe­di­schen Gast­fa­mi­lien als Juden eher nur geduldet. Es war noch keine Zeit für Pippi Langstrumpf und die positiven Erzäh­lungen vom Allein­sein starker Kinder.

Welche Auswir­kungen eine einsame Kindheit auf ein Menschen­leben haben kann, davon erzählen vier Über­le­bende in dem Erin­ne­rungs­film Dem Leben entgegen. Kurz vor Ausbruch des Krieges gelangten sie mit den soge­nannten Kinder­trans­porten nach Schweden, sie sind vier, fünf, dreizehn und vierzehn Jahre alt, als sie von ihren Eltern Abschied nehmen müssen. Erst später verstehen sie, weshalb die Eltern nicht auf den Bahnsteig kommen: Juden ist damals der Bahnhof verboten. Sie verstehen nicht, weshalb sie fahren müssen, warum sie allein sind, warum sie von dem Bruder getrennt werden. Sie verstehen nicht, weshalb die Fremden, die sie aufnehmen, so distan­ziert sind. Warum sie in der Schule von der Lehrerin nicht aufge­rufen werden. Warum ihnen gesagt wird, dass sie Juden sind, auch wenn sie sich nicht danach fühlen. Und sie gar nicht so genau wissen, was das ist: Juden.

Eindrucks­voll die Perspek­tive der Kinder, in die sich die Prot­ago­nisten zurück­ver­setzen. Zu Beginn des Films kehren sie mit geschlos­senen Augen in ihre Vergan­gen­heit zurück – und gelangen in diesen inten­siven Momenten in den Erin­ne­rungssog hinein. In den zerfurchten Gesich­tern, in den Falten der über Neun­zig­jäh­rigen lässt sich ein langes Leben ablesen und auch die ein oder andere Sommer­sprosse und ein Grübchen entdecken. Eine der Frauen trägt die schul­ter­langen Haare offen, das verleiht ihr etwas Mädchen­haftes, und man kann sich in ihr sehr gut die kleine Elise vorstellen. Denn nicht so sehr das Faktum der Kinder­trans­porte nach Schweden steht im Zentrum des Films von Gülseren Şengezer, wie der irre­füh­rende Beititel »Kinder­trans­porte nach Schweden« sugge­riert, sondern vielmehr die sehr persön­li­chen Schick­sale dreier Frauen und eines Mannes, von denen die meisten für immer in Schweden geblieben sind.

Die Migration und die Flucht vor dem poli­ti­schen Schicksal inter­es­siert die deutsch-türkische Regis­seurin Gülseren Şengezer für ihren Debütfilm auch als univer­selle Erfahrung. Sie selbst kam mit sechs Jahren nach Deutsch­land, als Kind kurdi­scher Migranten, und sieht sich seitdem mit Fragen wie Identität, Entwur­ze­lung und Verlust konfron­tiert. Dies erklärt die sensible, fast psycho­lo­gi­sche Heran­ge­hens­weise der Regis­seurin, die weniger am Geschichts­fak­ti­zismus inter­es­siert ist, denn am Erleben ihrer einst kind­li­chen Prot­ago­nis­tinnen.

Das (früh-)kindliche Trauma, und wie es sich überhaupt allmäh­lich im Leben mani­fes­tiert, steht im Zentrum der Erzäh­lungen. Die Eltern, Geschwister, Freunde und die Heimat schon als Kinder verloren zu haben, das ließ die Befragten – Hans Wiener, Getraud Fletz­berger, Herta Lich­ten­stein und Elise Reifeisen-Hallin – die Ereig­nisse verdrängen. Sie mussten ohne Liebe oder elter­liche Umarmung groß­werden und konnten lange nicht über den erlit­tenen Verlust trauern. Dazu kam ein Schuld­ge­fühl, oft als einzige der Familie überlebt zu haben. Als sie Kinder waren, mussten sie sich in einer feind­se­ligen Umgebung behaupten, ohne überhaupt zu verstehen, warum dies so war. Eindring­lich ist die Erin­ne­rung von Gertraud Fletz­berger. Als »Negerkind«, für das auf Plakaten um Spenden geworben wurde, habe sie sich direkt ange­spro­chen gefühlt: Auch sie habe die abgelegte Kleidung anderer getragen, auch sie hatte Kraushaar. Ihr war gesagt worden, dass sie eine Jüdin sei, aber darunter konnte sie sich kaum etwas vorstellen. »Negerkind«, das war greif­barer.

Zwischen den Zeit­zeu­gen­be­richten, Fami­li­en­fotos und sparsam einge­setztem Archiv­ma­te­rial breitet sich immer wieder in beru­hi­gender Weise – aber auch ein wenig zu bilder­stark – die einsame schwe­di­sche Natur­land­schaft aus (Kamera: Mathias Toivonen), stim­mungs­voll begleitet von der Klari­nette eines Kammer­or­ches­ters. Inspi­ra­ti­ons­quelle dieses ästhe­ti­schen Eska­pismus ist Yann Arthus-Bertrand, der mit Filmen wie Home (2009) oder Human (2015) exzessive Drohnen-Ansichten für den Doku­men­tar­film etabliert hat. Derlei Aufnahmen gehören heute zum festen und auch infla­ti­onär gewor­denen Reper­toire des zeit­genös­si­schen Films, dienen oft auch als Hochglanz-Visi­ten­karte wie in Joseph Vils­maiers heimat­ver­liebtem Bavaria – Traum­reise durch Bayern (2012) oder Werner Herzogs spek­ta­ku­lärem Into the Inferno (2016). Drohnen-Bilder können schnell auch ober­fläch­lich und nichts­sa­gend wirken, ihnen sollte der poli­ti­sche Doku­men­tar­film unbedingt miss­trauen. Man fragt sich so auch, obwohl schön anzusehen, was die erbau­li­chen Bilder in diesem Film eigent­lich wollen – außer auf sich aufmerksam machen.

Obwohl Dem Leben entgegen also ästhe­tisch immer wieder ziemlich hoch hinaus will, vergisst Şengezer zum Glück nicht, welch wunder­bare Land­schaften sie mit den Gesich­tern der über Neun­zig­jäh­rigen bereits gefunden hat. Sie tut gut daran, am Ende noch einmal zu ihnen zurück­zu­kehren und wieder ganz bei ihren Prot­ago­nisten zu sein. Den mahnenden Worten der eindrucks­vollen Elise Reifeisen-Hallin gehört der Schluss. »Man kann nur hoffen, dass sich die Dinge nicht wieder­holen«, sagt sie. »Doch wenn man sieht, was heute in allen Ländern passiert, dann verliert man die Zuver­sicht. Wir müssen selbst dafür sorgen, dass die Welt besser wird.« In diesen Tagen, wo sich ein Angriffs­krieg in Europa wieder­holt und Hundert­tau­sende auf der Flucht sind, ist das eine bitter­ernste Botschaft aus dem letzten, schon längst über­wunden geglaubten Jahr­hun­dert.