Deutschland 09

Das Gewicht des Alltags

In einem der Zimmer des Kran­ken­hauses brennt Licht. Auf der Station selbst herrscht kaum Betrieb. Eine Schwester geht in ein kleines Zimmer. Sie greift zum Telefon und wählt. Ein ICE rast unter­dessen durch eine unwirk­liche Land­schaft. Die Felder sind in tief­dunkles, diffuses Licht getaucht, der Himmel ist in weiter Ferne. Das Land scheint in einem Dämmer­zu­stand zu sein, kurz bevor die Nacht zum Tag wird.

In der Wohnung einer Traban­ten­stadt steht ein Mädchen im T-Shirt am Esstisch. So allein wirkt sie sehr erwachsen. Das Telefon klingelt. Das Mädchen nimmt den Anruf entgegen. »Ja, ist aus«, sagt sie mit monotoner Stimme und fährt mit ihrer Hand über die Gasschalter am Herd. Imposant erstreckt sich der Himmel über einen Fluss, langsam ziehen Nebel­schwaden über das Gewässer. Ein erstes Tages­licht dringt durch die Wolken­decke. Für einen kurzen Moment denkt man an das Land der deutschen Dichter und Denker. Schließ­lich sehen wir an einer Kreuzung, wie sich ein Bus in die Abbie­ge­spur vor einer Ampel einreiht. Dann werden wir auch schon mit einem Zitat aus dem Film Erster Tagentlassen. »Im Moment habe ich keinen Hunger, obwohl ich weiß, daß der Hunger weiter macht, der Moment weiter macht, die Erde weiter macht, die sozialen Lagen machen weiter, und der Hund, der in der Nach­bar­woh­nung einge­sperrt ist und schon den ganzen Morgen bellt, macht weiter.« Rolf Dieter Brinkmann schrieb diese Zeilen 1974 in Köln.

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Auffällig viele allein­er­zie­hende Mütter mit ihren Kindern tauchen in Deutsch­land 09 auf. »13 kurze Filme zur Lage der Nation« soll dieses Sammel­su­rium sein. Also etwas von Gehalt und was man ernst nehmen können sollte. Umso erstaun­li­cher, dass den Filme­ma­che­rinnen Angela Schanelec, Nicolette Krebitz und Sylke Enders (aber auch Isabelle Stever) das Thema, wie berufs­tä­tige Frauen und ihre Kinder den Alltag meistern, auf den Nägeln brennt. Aus verschie­denen Blick­win­keln nähern sie sich diesem schwie­rigen subject an.

Angela Schanelec fängt in Erster Tag die Stimmung einer Morgen­däm­me­rung ein. Ein klas­si­sches deutsches Thema, denkt man allein an das Gedicht »Morgen­däm­me­rung« von Joseph von Eichen­dorff. Doch statt Deutsch­land in der ersten Morgen­stunde in roman­ti­schem Lichte zu zeigen, tastet Schanelec in streng kompo­nierten Bildern die Wirklickeit ab. Und diese besteht eben darin, dass ein Zug frühmor­gens Menschen zur Arbeit in die Stadt bringt, eine Frau im Kran­ken­haus Nacht­schicht schiebt und ihre Tochter zuhause alleine ist. Ob ein Mann zu dieser Familie in Erster Tag gehört? Auszu­gehen ist davon erst einmal nicht. Lediglich die Natur birgt einen Moment der Ruhe und Erha­ben­heit, als das erste Tages­licht durch die Wolken schimmert. Der Gedanke kommt auf, dass der Tag auch anders beginnen könnte. Aber nur einen Moment lang, denn immer noch hat man das Bild im Kopf, wie das Mädchen im T-Shirt ganz auf sich selbst gestellt den Tag angeht. Ändern wird sich da nichts, daran lässt das Zitat keine Zweifel. Etwas verhuscht lässt Schanelec den Zuschauer mit diesen Eindrü­cken zurück. Aber das Statement, dass die soziale Lage für allein­er­zie­hende Mütter alles andere als rosig aussieht, bleibt.

Unter klaren Vorgaben dagegen startet Nicolette Krebitz ihren Beitrag Die Unvoll­endete. In ihrem Was-wäre-wenn-Spiel lässt sie Helene Hegemann, Susan Sonntag (Jasmin Tabatabai) und Ulrike Meinhof (Sandra Hüller) in einer Berliner Wohnung aufein­ander treffen. Ein Trick ermög­licht die Zusam­men­kunft der Power­frauen, die zu verschie­denen Zeiten leben bzw. lebten. Bei diesem Treffen wird getanzt, geraucht, gelacht. Und viel über die Rolle der Frau in der Gesell­schaft disku­tiert. Was sie zurück­wirft, was sie in ihrem Dasein vorwärts bringt. Eupho­risch wird ein Manifest getippt. Ein sinnlich anre­gendes Spiel. Dabei scheint es, dass nichts dieses Polit-Trio stoppen könnte. Bis Helene den Vorschlag macht, Susan und Ulrike sollten ihre Iden­ti­täten tauschen. Susan könnte in Hamburg oder Berlin leben, Ulrike in New York. »Das geht nicht« ist beider Antwort. Harsch erinnert Susan Helene an die Existenz ihres Sohnes, Ulrike an die ihrer Tochter. Mitten in ihrem Diskurs über allein­er­zie­hende Mütter und die Rollen­auf­tei­lung zwischen Mann und Frau lösen sich die Hedo­nis­tinnen der Moderne schließ­lich in Luft auf. Und lassen eine ernüch­terte Helene zurück.

Recht unver­mit­telt bricht in dem 10-Minüter die Diskus­sion über allein­er­zie­hende, intel­lek­tu­elle Mütter ins Geschehen ein; aber sie reibt sich nicht minder an der Wirk­lich­keit auf. Frauen, Kinder und Beruf – ein Dilemma, für das es trotz Femi­nismus und gender studies keine Lösung zu geben scheint. Zumindest bietet Nicolette Krebitz in Die Unvoll­endete keine an. Und der Titel sugge­riert, dass es auch in Zukunft keine geben wird. Zweifel schlei­chen sich da ein. Was wäre, wenn sich die drei Prot­ago­nisten tatsäch­lich begegnet wären? Hätten sie die Rollen­ver­tei­lung zwischen Mann und Frau so tradi­tio­nell disku­tiert? Wären sie tatsäch­lich ohne ein poli­ti­sches Konzept für Frauen, und somit auch für allein­er­zie­hende Mütter, ausein­ander gegangen? Wenn ja, wozu dann dieser Hokus­pokus? Man tappt im Dunkeln.

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In Schief­lage würgt ein Junge seine Mutter während der Autofahrt. Von hinten. Klar, es ist ein Spiel. Aber gleich mit der ersten Szene sehen wir eine über­for­derte Mutter. Der Verkehr geht nur schlep­pend vorwärts, die Kinder auf der Rückbank nörgeln gewaltig. Regis­seurin Sylke Enders geht ihre Story frontal an. Spiel­fil­martig, fern­seh­taug­lich. In verschie­denen Milieus zeigt sie, wie zwei allein­er­zie­hende Mütter mit ihren Kindern zurecht kommen. Eine Mutter ist Jour­na­listin (mit Haus und einem Garten), die andere wohnhaft in einer Plat­ten­bau­sied­lung. Mehr erfahren wir über sie nicht. Dazwi­schen steht ein Sozi­al­ar­beiter, der eine Suppen­küche für hungernde Kinder betreibt. Zu besseren Zeiten hatte er studiert; viel­leicht sogar Geis­tes­wis­sen­schaft.
Die Mütter strampeln sich ab, wollen zur Gesell­schaft dazu­gehören. Während eine ein Pony für die Geburts­party ihrer Tochter orga­ni­siert, schafft die andere vieles nicht mehr aus eigener Kraft. Das Essen muss ihr Sohn aus der Suppen­küche besorgen. Egal welche Strategie die Mütter fahren, die Kinder entziehen sich ihnen. Weil die Zeit fehlt? Oder der Vater? Das lässt sich nur vermuten. Trotz der klischee­haften Darstel­lung legt die Regis­seurin den Finger in die Wunde. In der Absicht, eindring­lich aufzu­zeigen, dass die Löcher im sozialen System größer werden und die Leid­tra­genden in erster Linie Kinder sind. Dann endet der Film auch schon.

Eigent­lich könnte man auch Isabelle Stever Doku­men­ta­tion Eine demo­kra­ti­sche Gesprächs­runde zu fest­ge­legten Zeiten in diese Reihe mitauf­nehmen. Voraus­ge­setzt eines der Kinder aus der Schul­klasse im multi­kul­tu­rellen Münchner Stadt­viertel Hasen­bergl würde von der Mutter allein aufge­zogen. Auszu­schließen ist das keines­wegs. In ruhigen Bildern verfolgt Stever, wie eine Lehrerin einen Kinderrat mit Schreiber, Moderator und Gesprächs­teil­neh­mern einberuft, um das Problem »Marco will nicht mehr Volley­ball spielen« friedlich zu lösen. Ein enga­gierter Versuch (und ein ebenso enga­gierter Film), um die ausein­an­der­klaf­fende Naht­stelle zwischen Familie und Gesell­schaft zu kitten. Da kann die Erzie­herin auch schon mal zu einer pädago­gisch nicht 100% korrekten Methode greifen.

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Alles in allem: Es bleibt erstaun­lich, wie schwer in den unter­schied­li­chen Kurz­filmen das Gewicht des Alltags auf den Schultern der Mütter (und ihren Kindern) lastet, und die Gesell­schaft dabei ausein­ander zu driften droht. Ja, »die sozialen Lagen machen weiter«, tagtäg­lich, und das lässt in Deutsch­land 09 aufhor­chen. Auch wenn diese Beiträge, die subjek­tive Sicht­weisen auf das eigene Land sind, nicht immer mit hoher Filmkunst einher gehen.