Ungarn/D/F 2011 · 91 min. Regie: Bence Fliegauf Drehbuch: Bence Fliegauf Kamera: Zoltán Lovasi Darsteller: Katalin Toldi, Gyöngyi Lendvai, Lajos Sárkány, György Toldi u.a. |
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»Bezwingende« Bilder |
Ihre Körper sind eng aneinandergepresst, ein undurchschaubares Familienknäuel. Behutsam befreit sich die junge Frau aus der Umarmung der Kinder, bewegt sich langsam dem Morgen entgegen. Was wird er bringen, dieser Tag und die darauf folgende Nacht? Just the Wind erzählt von wenigen Stunden aus dem Leben der Roma-Frau Maria und ihren beiden heranwachsenden Kindern Anna und Rió, die in einer kleinen Siedlung in einem abgelegenen Waldgebiet irgendwo in Ungarn leben. Dort wurde vor Kurzem eine ganze Familie von Unbekannten grausam ausgelöscht, und das Einzige, was die Täter hinterließen, ist die erdrückende, überall spürbare Furcht vor ihrer Rückkehr.
Ein Tag, eine Familie. Diese klare Struktur schwebte dem ungarischen Regisseur Bence Fliegauf schon lange vor, den erschütternden Inhalt lieferte ihm die Realität: Zwischen 2009 und 2010 wurde eine Reihe rassistisch motivierter Morde an Romafamilien in seiner Heimat verübt. Just the Wind ist Fliegaufs fiktive Replik auf diese Verbrechen, die er ausschließlich mit hervorragend agierenden Laiendarstellern besetzt hat. Mit konsequenter Ausschließlichkeit heftet sich die Kamera an die Fersen, an die Gesichter, auf die Wege seiner drei Protagonisten, lässt sie nie los. Ihre Bilder zwingen zur Teilnahme an unzumutbaren Zuständen vom omnipräsenten Zivilisationsunrat über unverhohlenen Rassismus, die den Alltag bestimmen und die jetzt in der existenziellen Bedrohung gipfeln.
Gleichzeitig führt das Gezeigte zur Wahrnehmung dessen, was nicht oder nicht mehr vorhanden ist: Demütigung und Angst lassen Lebensenergie implodieren, da ist entweder, wie bei Mutter und Tochter, nur noch Raum für mechanische Aktionen und Reaktionen oder, wie bei Sohn Rió, für das oberste Ziel der Wehrhaftigkeit. Diese Unmittelbarkeit zeitigt auch eine Abwesenheit von Erklärungen und überlässt so dem Zuschauer die Interpretation ihrer Motive: Warum ergreift Anna keine Initiative, als sie Augenzeugin eines Verbrechens in ihrer Schule wird? Hat dies etwas mit der Vermutung ihres Vaters zu tun, der in Kanada auf die baldige Ankunft seiner Familie hofft und regelmäßig mit seiner Tochter im Videochat Kontakt hat?
Bence Fliegauf geht es jedoch nicht nur um ein »Ecce Roma«, um die Darstellung unwürdiger Existenzbedingungen und unerträglicher psychischer Zustände, die diese Bevölkerungsgruppe in Ungarn ausgesetzt ist. »Jede Gesellschaft muss sich daran messen lassen, wie sie sich gegenüber ihren Minderheiten verhält«, sagt Enthüllungjournalist Günter Wallraff. Ganz in diesem Sinne hat der Ungar mit seinem fiktiven Drama eine ergreifende und gut zu begreifende Prüfschleife geschaffen, in die sämtliche Mitglieder und Anwärter der EU-Staatengemeinschaft geschickt werden können, die rassistische Mordserien verkennen (zum Beispiel Deutschland), große Bevölkerungsgruppen wie Roma in jüngerer Vergangenheit gerne abgeschoben haben (zum Beispiel Frankreich und Deutschland) oder mit EU-Subventionen zwangsumsiedeln (zum Beispiel Serbien). Mit Nestbeschmutzerei, wie sie Fliegauf von Stimmen aus seiner Heimat vorgeworfen wurde, hat das nichts zu tun. Die Reife einer Gesellschaft zeige sich darin, dass sie Kritik an ihr aushalte und sich mit ihr auseinandersetze, sagte er sinngemäß bei der Pressekonferenz im Rahmen der 62. Berlinale, bei der er im vergangenen Jahr den Großen Preis der Jury für Just the Wind bekam. Dass der Film jetzt in unseren Kinos läuft, ist relevant, wo die Hauptsorge nach wie vor auf die vermeintlichen Rettung der Gemeinschaftswährung gerichtet zu sein scheint und Menschenrechte mitunter schnell aus dem Blickfeld geraten können.