Deutschland 2024 · 86 min. · FSK: ab 12 Regie: Anatol Schuster Drehbuch: Anatol Schuster Kamera: Julian Krubasik Darsteller: Sabine Timoteo, Anton von Lucke, Maria Spanring, Michael Wittenborn, Kerstin Agger u.a. |
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Die Gefühle, die die Gesellschaft spalten... | ||
(Foto: Neue Visionen) |
Ein modernes Märchen: Klara (gespielt von Sabine Timoteo) verhält sich zunehmend merkwürdig: Die erfolgreiche Frau steigt von einem auf den anderen Tag einfach aus ihrem Leben aus. Und nicht nur das: Sie steigt sehr bald auch auf aufs Flachdach ihres mehrstöckigen Wohnhauses. Aber nicht aus Lebensmüdigkeit: Sondern sie lebt nun einfach wie der Kinderheld »Karlsson vom Dach« ganz oben über ihrem bisherigen Apartment im Freien, verschenkt alle ihre Besitztümer und scheint sich selbst nicht mal am Regen draußen zu stören.
Ein Mensch geht in die Rebellion, geht in ihre eigene Welt. Sie ist dabei absolut friedlich, aber das Außen, unsere Gesellschaft erträgt schon diese Form der Verweigerung nicht, denn es wirkt offenbar sehr provokativ, dass Klara die kapitalistischen Verhältnisse und die Vernetzungen des normalen Lebens einfach ablehnt.
Können wir das akzeptieren? Können wir uns vorstellen, dass sich jemand in der Komplettentsagung wohlfühlt? Oder braucht Klara professionelle Hilfe? Das legen jedenfalls die – gut gemeinten?! – Kontrollreflexe unserer therapeutischen Gesellschaft nahe.
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Jean, ein junger Komponist moderner E-Musik, der mit seiner Frau Helene und dem gerade neugeborenen Kind im gleichen Haus lebt und Klara bisher als Nachbarin und Vermieterin kannte, ist von dieser Frau und ihrer Entscheidung fasziniert – seine Ehefrau, Pianistin und Klavierlehrerin, die stärker zwischen der Sehnsucht nach Sicherheit und der Angst vor einem spießigen Leben schwankt, davor so zu werden wie ihre Eltern ist von dieser Faszination aber zunehmend beunruhigt.
Erst recht, als auch noch die Medien das Schicksal der Dachbewohnerin aufgreifen und bekannt machen. Schnell entwickelt sich ein seltsamer Personenkult um Klara. Es gibt sowohl sektiererisch-fanatische Anhänger, wie fanatische Gegner, deren Debatten mitten auf der Straße aufeinanderprallen: »Wären wir nicht glücklicher, wenn wir uns auf das Wesentliche konzentrierten?« – »Die Frau ist krank.« – »Die Frau hat recht. Es gibt nicht immer Mehr. Wir müssen lernen, zu verzichten« – »Verzichten, verzichten, ich hab’s Leben lang verzichtet.«
So fragt Chaos und Stille durchaus offen und mit ironischen und selbstkritischen Anklängen nach Alternativen zum normalen Leben und handelt von der Sinnkrise unserer Gegenwart: Denn den Menschen des Jahres 2025 ist längst der große Glaube daran abhanden gekommen, dass es möglich wäre, aus dem Alltag der Wohlstands- und Wohlfahrtsgesellschaften komplett auszusteigen. Bisher haben sich auch keine der entsprechenden Alternativmodelle bewährt.
Könnte so eine neue Bewegung der Eigentumslosigkeit etwas Substanzielles mit der Gesellschaft machen? Zugleich ist erkennbar, dass Klara hier zunächst vor allem zur Projektionsfläche für alle möglichen Loser der verschiedensten Lager und Milieus wird.
Man sollte auch nicht übersehen, dass sich Klara ihren von anderen zur Kapitalismuskritik verklärten Entsagungsakt und die Freiheit zum Verzicht nur leisten kann, weil sie offensichtlich genug Geld besitzt.
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Mit Chaos und Stille ist dem Regisseur Anatol Schuster ein spannender, facettenreicher und bezaubernder, künstlerisch faszinierender Film geglückt.
Wo er von Klara erzählt, fragt er nach dem Sinn unseres Lebens im kapitalistischen Hamsterrad des immer mehr, immer reicher, immer weiter.
Wo er vom Komponisten Jean erzählt, fragt er nach den jungen Menschen von heute, die gerade eine Familie gegründet haben, und erst am Anfang ihres Lebens stehen,
aber schon glauben, am Horizont das Ende unseres Lebens, so wie wir es gewohnt sind, zu erkennen. Er fragt in der Figur des Jean aber vor allem auch danach, wie weit wie Kunst und Leben zusammenpassen, wann ein Kompromiss nötig ist, und wann man umgekehrt bei seinen Überzeugungen, seinem Idealismus bleiben sollte, auch gegen äußere Anpassungszwänge.
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Auch an anderen Figuren zeigt der Film diesen Konflikt; etwa in der Figur des Seelenarztes Dr. Wunderlich, dessen Patientin Klara wird, von der er aber ähnlich fasziniert ist, wie Jean. Irgendwann muss sich Wunderlich bei der Klinikverwaltung für seine Menschlichkeit rechtfertigen, dafür eine Patientin zu behandeln, die »nichts einbringt«: »Wir müssen auch darauf achten, was wir uns wirtschaftlich leisten können«, erklärt ihm eine junge Controllerin herzlos, »Wir können nicht alle gleichbehandeln, egal ob versichert oder nicht. Dann werden am Ende die belohnt, die sich weigern, gesellschaftsfähig zu sein. Und das führt ins Chaos.«
Schließlich geht es Anatol Schuster auch um die Gesellschaft: Die Medien, die sozialen Netzwerke und den Populismus; um die Gefühle, die die Gesellschaft spalten und sie die Vernunft vergessen lassen.
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In seiner Machart ist Chaos und Stille ein eigenwilliger Film, der mit prominenten Schauspielern hervorragend besetzt ist: Sabine Timoteo als Klara auf dem Dach, Anton von Lucke als Komponist Jean und Michael Wittenborn in einem brillanten Auftritt als Arzt sorgen für besondere Darstellerqualität.
Besonders bedeutsam ist auch die Musik: Atmosphärische, fragile Klänge geben »Chaos und Stille« einen ganz eigenwilligen Charakter.
Humorvoll und mit scharfem Blick für soziale Dynamiken erzählt Anatol Schuster von einer Gesellschaft, der der Glaube an eine große Alternative längst abhanden gekommen ist.
Seinen Film hat der Regisseur, der heute in Berlin lebt, aber in Bensheim an der Bergstraße aufwuchs und 1985 im hessischen Darmstadt geboren wurde, in seiner Geburtsstadt gedreht: Ohne festes Drehbuch und mit relativ wenig Geld – was man dem Film aber an keiner Stelle ansieht, im Gegenteil.
Das Ergebnis ist eine hochinteressante Regie- und Produktionsleistung, die zeigt, was möglich sein könnte im deutschen Kino.
Dieser Film der vom Widerstand der Menschen gegen die Übermacht des Alltags handelt und von der Widerständigkeit des Lebens, ist selbst ein Akt des Widerstandes.
Der Kunst gegen die Zwänge aus Konsumismus, Ökonomie und Quote.