Blue in the Face

USA 1995 · 88 min. · FSK: ab 12
Regie: Wayne Wang, Paul Auster
Drehbuch: ,
Kamera: Adam Holender
Darsteller: Harvey Keitel, Lou Reed, Michael J. Fox, Roseanne u.a.

Wissen Sie, wir sind hier in Brooklyn ...

Hinter einem Laden­tisch sitzt ein Mann mit unge­wöhn­li­cher Brille.

Mann: »Einer der Gründe, warum ich in New York lebe, ich kenn mich hier aus. Ich kenn mich nicht aus in Paris. Ich kenn mich nicht aus in Denver. Ich kenn mich nicht aus in Maui. Toronto kenn ich nicht. Und so weiter. Und so weiter. Bleibt nicht mehr viel. Ich kenne kaum jemanden, der in New York lebt und der nicht sagt: 'Aber ich geh weg von hier.' Und ich will schon seit 35 Jahren von hier weg. Jetzt bin ich fast soweit.«

Diese erste Szene aus Blue in the Face ist mit ihrer Komik und ihrer Absur­dität charak­te­ris­tisch für den gesamten Film. Es ist Lou Reed, der da spricht. Er hat keine spezielle Rolle, spielt sich selber und gibt zwischen den Szenen immer wieder Kommen­tare zum Besten. Man könnte sagen, er ist der haus­ei­gene Philosoph eines kleinen Tabak­la­dens, der Brooklyn Cigar Company. Sie ist der Mittel­punkt des Films, hier treffen sich die Bewohner Brooklyns, um über Alltäg­li­ches zu reden, um zu streiten und zu philo­so­phieren. So lernt man als Zuschauer nach und nach die Menschen dieses New Yorker Viertels kennen. Viele sind zornig und unzu­frieden, werfen sich gegen­seitig Belei­di­gungen an den Kopf und schreien sich an, sie sind gereizt und kampf­be­reit. Trotzdem sind sie Freunde, sie mögen und brauchen einander. Ein Beispiel ist der Stamm­kunde Bob (Jim Jamusch), er möchte mit dem Rauchen aufhören und zele­briert seine letzte Zigarette in der Brooklyn Cigar Company mit Auggie (Harvey Keitel), dem Boß des Ladens. Ein Gespräch mit vielen kleinen Geschichten entwi­ckelt sich rund um das Thema Rauchen. Aber auch andere Leute kommen und mit ihnen andere Geschichten. So entsteht peu à peu ein Stimmungs- und Charak­ter­bild von Brooklyn selber, gezeichnet durch den Alltag seiner Bewohner.

Der Tabak­laden dürfte Kino­gän­gern aus dem Film Smoke bekannt sein, ebenso Auggie und einige andere Figuren. Dennoch ist Blue in the Face keine bloße Neuauf­lage, denn Paul Auster setzt hier andere Schwer­punkte als in seinem ersten Film. Wurden in Smoke vor allem zwei Personen heraus­ge­hoben – Auggie und der Schrift­steller Paul Benjamin (William Hurt) – und deren Leben näher betrachtet, so gibt es in Austers neuem Film eigenlich keine Haupt­fi­guren mehr. Alle Rollen bekommen in etwa das gleiche Gewicht, nicht einzelne Charak­tere, sondern das Lebens­ge­fühl eines ganzen Stadt­vier­tels wird thema­ti­siert. So sagt Paul Auster selbst, »wer irgend etwas anderes als eine über­mü­tige Feier des Brook­lyner Alltags daran erblicken wollte, würde einen großen Fehler begehen.«

Blue in the Face ist eine Anein­an­der­rei­hung einzelner Episoden aus der Cigar Comany, die im Prinzip mitein­ander austauschbar sind, aufge­lo­ckert und getrennt durch Kurzin­ter­views über New York und die Kommen­tare von Lou Reed, dem Mann mit der unge­wöhn­li­chen Brille. Der Film hat keine fort­lau­fende Handlung, er lebt von Worten und Spon­ta­n­eität, was eine beacht­liche Leistung von den Schau­spieler verlangt. Man hat das Gefühl, daß von der Regie lediglich das Stichwort zu einer Szene ge geben und jede weitere Ausge­stal­tung den Darstel­lern und ihrer Impro­vi­sa­ti­ons­kunst anver­traut wurde. Aber auch wegen der vielen harten Schnitte, der häufigen Ein- und Über­blen­dungen wirkt Blue in the Face nicht konstru­iert, es entsteht ein leichtes Wirr-Warr, ein Chaos wie im richtigen Leben. Mit diesen Mitteln gelang es dem Gespann Paul Auster/Wayne Wang das Thema kurz­weilig und locker zu gestalten, was ange­sichts des fehlenden Plots sicher nicht ganz einfach war. Blue in the Face ist herrlich unkon­ven­tio­nell. Es macht Spaß diesen lustigen und leichten, aber dabei nicht ober­fläch­li­chen Film anzusehen.