Österreich/Deutschland 2013 · 88 min. · FSK: ab 16 Regie: Barbara Eder Drehbuch: Barbara Eder Kamera: Hajo Schomerus Schnitt: Dieter Pichler, Rosana Saavedra Santis |
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Verärgernd statt verstörend |
Sie betritt ihr Zimmer im Motel. Zuerst schaut sie prüfend hinter den Duschvorhang, unters Bett, dann setzt sie sich vorsichtig und betrachtet lange das Naturgemälde an der Wand.
Sie blickt in den Abgrund, und das seit über 40 Jahren: Helen Morrison ist eine renommierte forensische Psychiaterin aus Chicago. Nach einem langen Arbeitstag, hört man ihre Stimme aus dem Off sagen, könne sie nicht gleich nach Hause. Die Kraft, mit der sich die Gedankenwelt des Unglaublichen über
die eigene legt, lässt sich schwer wieder abschütteln. Morrison ist eine von sechs Protagonisten in Barbara Eders Dokumentarfilm Blick in den Abgrund, in dem sie Profiler, forensische Psychologen und Psychiater in Europa, Südafrika und den Vereinigten Staaten porträtiert.
Vielen Zuschauern mag es ganz genauso gehen wie der hochprofessionellen Helen Morrison. Die Unmittelbarkeit, mit denen sie und ihre internationalen Kollegen „ihre Fälle“ hier vorstellen, lösen einengendes Unwohlsein aus, vergleichbar dem, wenn man „Aktenzeichen XY … ungelöst“ am heimischen Bildschirm verfolgt: Die Gefahr ist echt, da draußen, und niemand, vielleicht nicht einmal der Täter selbst, weiß, wo und wann sie akut wird. Emotionsverstärkend wirken dann auch noch Szenen, in denen der pensionierte FBI-Profiler Hazelwood Verhaltenstipps für Frauen gibt (»Erstens: Alle Fenster und Türen dichtmachen. Zweitens: Anrufbeantworter mit Hundegebell im Hintergrund besprechen und drittens: niemals neben einem Kleintransporter parken.«). Anerkennenswert ist auch der enorme Rechercheaufwand, den Eder auf sich genommen hat, um diese unterschiedliche Persönlichkeiten aufzutun, die überall auf der Welt der gleichen, furchterregenden und aufreibenden Arbeit nachgehen. Unbenommen gelingt der Österreicherin, die unter anderem für die Regie bei der TV-Krimireihe Cop Stories verantwortlich zeichnete, den an Horror- und Crimegeschichten übersättigten und abgestumpften Zuschauer zu fesseln.
Doch leider ist Eders Blick in den Abgrund längst nicht so tief; wie er sein möchte. Dafür kommt sie ihren Protagonisten im vermeintlichen Close-Up nicht nahe genug, sie bleiben einem größtenteils fremd. Das mag unter anderem am Kunstgriff der erdachten Szenarien liegen, in denen die Regisseurin ihre Hauptdarsteller nebst Lebenspartner durch den Film hindurch platziert. Prinzipiell ist gegen Fiktion im Dokumentarfilm selbstverständlich nichts zu sagen. Erst recht bei dieser Thematik, und die Wechselwirkung von sogenannter Realität und fiktionalen Elementen ist Eder mitunter auch gelungen. Dennoch hätte ein journalistischerer Ansatz dem Film vermutlich besser getan, denn meist wirken die fingierten Zwischenspiele hölzern, die Hauptpersonen und ihrer Lebenspartner darin mitunter wie unbeholfene Laiendarsteller.
Darüber hinaus ist vieles von dem Gezeigten unschlüssig und lässt den Zuschauer mit Fragen zurück, die eher verärgern als verstören – vor allem beim Porträt des erfolgreichen Profilers und fleißigen Buchautoren, Kriminalhauptkommissar Stephan Harbort, der im ICE lautstark Aktenstudium betreibt (darf er das überhaupt?) und sich, in einem, zugegeben gelungenen, Spannungsbogen auf die Spuren des einstigen „Phantoms vom Grunewald“ begibt. Allein: Warum tut er das, wo jener Serienmörder doch längst überführt ist? Und warum hat Harbort bei seinem Interview mit einem Triebtäter seinen Bestseller „100 Prozent tot“ dabei, von der Kamera glasklar festgehalten? Ein Abgrundböser, wer Böses dabei denkt.