USA/GB 2019 · 98 min. · FSK: ab 12 Regie: Roger Michell Drehbuch: Christian Torpe Kamera: Mike Eley Darsteller: Susan Sarandon, Kate Winslet, Mia Wasikowska, Sam Neill, Rainn Wilson u.a. |
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Gesteigertes Konfliktpotential | ||
(Foto: Leonine) |
Und dann sitzt die ganze Familie zusammen, genießt das in Gemeinschaftsarbeit entstandene Mittagessen, witzelt, wärmt alte Anekdoten auf und begibt sich im Anschluss auf einen Wochenendspaziergang, wo noch mehr Anekdoten herausgeholt werden. Man kennt dieses Bild, man schaudert davor und irgendwo sehnt man sich doch danach. Befeuert durch Feel-Good-Movies und Werbespots hat sich dieses Familienidyll im Unterbewussten eingegraben. Auch in Blackbird –
Eine Familiengeschichte gibt es solche Szenen. Sie wirken im neuen Spielfilm von Roger Michell (Notting Hill, Morning Glory) dann auch besonders befremdlich – nicht nur wegen der tieftraurigen Ernsthaftigkeit der Handlung.
Allein schon das Landhaus des älteren Ehepaares Lily (Susan
Sarandon) und Paul (Sam Neill) ist ein Tempel der Harmonie: Hochwertige Einrichtung, lichtdurchflutete Zimmer, das Meer in direkter Nähe. In diesem Heim soll sich nun für ein Wochenende die gesamte Familie zum Bilderbuchtreffen versammeln. Da wäre zunächst die Tochter Jennifer (Kate Winslet) mit ihrem Mann Michael (Rainn Wilson) und Sohnemann Jonathan (Anson Boon), das Paradebeispiel der spießbürgerlichen Kleinfamilie. Sie ist von Kontrollwahn getrieben, er bringt ungefragt
unnützes Wissen ein, wo immer es gerade nicht passt, der Nachwuchs sitzt leicht apathisch daneben. Das genaue Gegenteil kommt in Gestalt der zweiten Tochter Anna (Mia Wasikowska). Das liegt weniger daran, dass sie lesbisch ist und ihre On-Off-Partnerin Chris (Bex Taylor-Klaus) mitbringt, sondern an der verunsicherten Anspannung, die sie mit sich schleppt. Im Gegensatz zu ihrer Schwester versucht sie gar nicht, etwas aufrecht zu erhalten, das im Endeffekt nur Schein ist. So kommt es schon
kurz nach der Ankunft zu Reibungspunkten, die man natürlich vor Lily verstecken muss. Der nächste Grund zur Unlust Jennifers ist das plötzliche Auftauchen von Liz (Lindsay Duncan). Nun gut, sie ist die älteste Freundin ihrer Mutter, mit der sie damals die wilde Hippie-Zeit durchgemacht hat. Aber gehört sie deswegen schon zur Familie? In die helle, freundliche Kulisse mischen sich nun also auch die Konflikte, die seit Jahren auf der Flamme des Familienherdes stehen.
Die schwerste
Herausforderung ist dann aber doch der Hintergrund der Zusammenkunft. Schon von Anfang an ist klar, dass mit Lily etwas nicht stimmt. Sie kommt nur schwer aus dem Bett, Gläser entgleiten ihr, der Körper fängt langsam, aber sicher an, seine Arbeit einzustellen. Erst nach dem ersten Drittel des Films wird bekannt, dass sie unter amyotrophischer Lateralsklerose leidet und schon in naher Zukunft komplett gelähmt sein könnte.
An dieser Stelle könnte man eine Spoiler-Warnung setzen, aber es wäre sinnlos, über Blackbird zu sprechen und den Dreh- und Angelpunkt zu verschweigen. Um nämlich dieser dunklen Zukunft zu entkommen, hat sich Lily für den Freitod entschlossen. Paul nimmt dabei als pensionierter Arzt die Rolle des aktiven Sterbehelfers ein. Das Treffen ist also als Abschied gedacht und alle Verwandten (bis auf Jonathan) sind bereits in das Vorhaben eingeweiht. Diese Dimension ist es dann, die das Besondere an Blackbird ausmacht. Das Heile-Welt-Theater wird nicht um seiner selbst willen gespielt, sondern folgt dem höheren Zwecke, Lily drei letzte perfekte Tage zu bereiten. Das Konfliktpotential ist also noch gesteigert, da vor allem die beiden Schwestern zwischen dem Respekt vor der eigenen Mutter und der Trauer hin- und hergerissen sind. Die Kulisse strahlt dabei trotzdem eine Atmosphäre aus, die keineswegs bedrängend oder düster ist, sodass sich die gesamte Aufmerksamkeit auf die zwischenmenschlichen Aspekte konzentriert. Und die sind – wie man es bei einem solch namhaften Schauspieler-Ensemble erwartet – so stark in Szene gesetzt, dass man während der kompletten Laufzeit bei den Figuren bleibt. Besonders ist hier Jennifer hervorzuheben, die mit ihrer Rolle als Herrin der Lage zu kämpfen hat. Sie ist in den Ritualen bereits so festgefahren, dass sie für die Mutter sogar ein Geschenk mitgebracht hat, das sie selbstverständlich nie benutzen wird.
Nun sind da aber auch diese irritierenden Momente, jene, in denen der Film wirklich diese unecht wirkende Harmonie heraufbeschwört. Dann steigt das Ganze in die Sphäre der Margarine-Werbung auf, in der alles in Ordnung ist. Da ist kein Zweifel mehr zu spüren, keine Angst und keine brodelnden Vorwürfe. Sicher ist es für den Zuschauer angenehmer, bei der ganzen Schwere diese leichten Momente zu haben, beispielsweise wenn beim improvisierten Weihnachtsessen ein Joint herumgegeben wird. Aber interessanter wäre es doch gewesen, wenn das Fragile und Dysfunktionale der Familienkonstellation dauerhaft zu spüren wäre. Etwas mehr Nüchternheit wäre der Drastik der Handlung zugute gekommen und hätte die Frage angestoßen, welche Einigkeit und Geborgenheit die Blutsbande wirklich bieten können.
Sieht man davon aber ab, bleibt Blackbird ein gelungener Film, der vor allem durch die Leistung seiner Schauspieler durchgehende Spannung erzeugt. Und ganz nebenbei zeigt er, wie Sterbehilfe und Freitod ohne moralisierende Elemente angegangen werden können (ähnlich, wie es Eliza Hittmans großartiger Niemals Selten Manchmal Immer mit dem Thema Abtreibung macht). Und für die Szenen wirklicher Emotionalität, die doch ohne das Idealbild der Familienbande funktionieren, lohnt sich der Kinobesuch doch.