Be Natural – Sei du selbst

Be Natural: The Untold Story of Alice Guy-Blaché

USA 2019 · 103 min. · FSK: ab 0
Regie: Pamela B. Green
Drehbuch: ,
Musik: Peter G. Adams
Schnitt: Pamela B. Green
Der erste Film einer Frau ist eine Reproduktionssatire (La fée des choux, 1896)
(Foto: Filmperlen)

Feministische Subversion

Ist es ein Zufall, dass die Filmpionierin Alice Guy-Blaché in Vergessenheit geraten ist? Ein Dokumentarfilm macht sich auf die Spurensuche, die Antwort fällt ziemlich eindeutig aus

Film­pio­nierin sagt sich so einfach. Alice Guy-Blaché begann mit dem Filme­ma­chen 1896, nur ein Jahr nach der Geburts­stunde des Kinos, das mit der Pariser Präsen­ta­tion des Kine­ma­to­gra­phen durch die Brüder Lumière angesetzt wird. Eigent­lich war sie als Gaumont-Sekre­tärin zuständig für die Bewerbung photo­gra­phi­scher Appa­ra­turen, das Sortiment wurde auf eine einfache Version des Kine­ma­to­gra­phen ausge­weitet. Die Sekre­tärin fragte den Arbeit­geber, ob sie auch mal ein paar Film­szenen drehen dürfte, so erzählt Alice Guy-Blaché in einem Fern­seh­in­ter­view, das 1957 entstand. Ja, das ist was für junge Frauen, soll er gesagt haben. Die Werbung für den Kine­ma­to­gra­phen zeigte eine über­ra­schende Gender­ba­lance: ein Mann und eine Frau halten glei­cher­maßen das Gerät in der Hand und haben Spaß beim Filmen.

Alice Guy-Blaché reali­sierte also 1896 ihren ersten Film: La fée des choux, über eine vergnügte Kinder-Gärtnerin, im wahrsten Wortsinn, die Babys aus einem Weiß­kohl­beet erntet. Bereits in diesem aller­ersten Film zeigt sich der Schalk von Guy-Blaché, ihre Ironie und der Humor, mit der sie die Rollen der Geschlechter aufpickte. Früher als die Brüder Lumière und sogar noch vor dem Phan­tasten Georges Méliès, der 1896 Filme über Karten­spieler und Plakat­kleber drehte, erkannte sie das phan­tas­ma­ti­sche Potential der Apparatur, die mit Stopp-Tricks, Über­blen­dungen und Montage erlaubte, die Wirk­lich­keit zu über­bieten, vor allem aber auch: sie zu verlassen. Während sich die Brüder Lumière der Faszi­na­tion hingaben, die Wirk­lich­keit repro­du­zierbar gemacht zu haben, nutzte Guy-Blaché die filmi­schen Möglich­keiten für imaginäre Welten. Ein weiteres, großar­tiges Beispiel ihrer Imagi­na­ti­ons­kraft: Le matelas épilep­tique (The Drunken Matress) (1906), die die Tücken eines (liebes­ero­ti­schen) Objekts zeigt. Oder La femme collante (The Sticky Woman) (1906): eine profes­sio­nelle Brief­mar­ken­a­b­le­ckerin zieht mit ihrem leckenden Mund die Aufmerk­sam­keit eines Schwe­renö­ters auf sich. Als er sie küsst, bleibt er mit seinem üppigen Schnauzer an ihrem klebrigen Mund haften, schließ­lich kann nur eine Schere die beiden trennen – mit einer aus den Angeln gehobenen Gender­mar­kie­rung, denn jetzt trägt auch die Frau Bart. Oder, noch einmal von 1906, Les résultats du féminisme (The Conse­quences of Feminism): Ein simpler Rollen­tausch – die Männer bügeln zuhause die Wäsche, die Frauen rauchen Zigarre – zeigt die ganze Stereo­typie der damaligen Welt­ord­nung auf. Und setzt subver­sive Ideen und womöglich revo­lu­ti­onäre Gedanken frei.

Die ameri­ka­ni­sche Filme­ma­cherin Pamela Green hat in ihrem Doku­men­tar­film Be Natural: The Untold Story of Alice Guy-Blaché die femi­nis­ti­sche Wirkungs­kraft der Film­pio­nierin heraus­ge­ar­beitet. Ihr Einfluss reichte bis zu Sergej Eisen­steins Panzer­kreuzer Potemkin (1926) mit der berühmten Trep­pen­szene, in der sich ein Kinder­wagen selbständig macht, und Oktober (1928), mit seinen sich männlich gebär­denden Flak-Schüt­zinnen. Eisen­stein, so weiß es der russische Film­his­to­riker Naum Kleiman, erwähnte die Filme von Alice Guy-Blaché in seinen Notizen. Sehr sorg­fältig führt Pamela Green für jede These das Origi­nal­ar­gu­ment und das histo­ri­sche Dokument auf. Sie überlässt (fast) nichts der Speku­la­tion, häuft Mate­ria­lien und biogra­phi­sche Details an, versam­melt die Töchter, zeichnet Stamm­bäume und versieht Einflüsse mit Linien und Pfeilen. Für jede Aussage findet sie das passende Dokument, visua­li­siert auf der Landkarte, in welchen Archiven sich das Wissen über die erste Filme­ma­cherin der Geschichte verstreut hat, ganz so, dass einem fast Sehen und Hören vergeht.

Dabei benennt sie deutlich die Nach­läs­sig­keit der Filmwelt, die Alice Guy erst jetzt beginnt anzu­er­kennen und als Filme­ma­cherin bekannt zu machen. Erst 2019 wurde sie in die New-York-Times-Serie »Over­looked No More« aufge­nommen, die sich histo­ri­schen Personen widmet, über die die NYT fälsch­li­cher­weise nie berichtet hat. Dass sie übersehen und vergessen war, ist dem Ideen- und Werk­dieb­stahl durch ihre männ­li­chen Kollegen und der Blindheit von Histo­ri­kern der fünfziger und sechziger Jahre geschuldet, arbeitet Pamela Green heraus. Die gewis­sen­lose Aneignung ihres Werks durch die männliche Welt brachte, dass sie, aus der Film­ge­schichte gestri­chen, bald völlig in Verges­sen­heit geriet.

Ihren Lebens­abend in den Sech­zi­ger­jahren (sie starb 1968), auch das erzählt der Film, verbrachte Guy-Blaché damit, ihre Filme zu suchen und ihre Autor­schaft zu zemen­tieren. Sie ging in die Archive, ließ Werk­ver­zeich­nisse und Kartei­karten korri­gieren, ein fast müßiges Unter­fangen in der männer­do­mi­nierten Filmwelt. Und so setzt Pamela Green auch die über­fäl­lige Schrei­bung der »Her-Story« fort, einer Film­ge­schichte, der auch den Frauen Tribut zollt, dabei aber nicht nur nach den unsicht­baren Cutte­rinnen im Schnei­de­raum oder den schönen Stars vor der Kamera sucht, sondern auch nach den Akteu­rinnen fahndet.

Über 700 Filme hat Guy-Blaché wohl insgesamt reali­siert und war bis 1906 weltweit die einzige filmende Frau. Sie hat Talente entdeckt, diese statt vor hinter die Kamera geholt, auch davon berichtet der allum­fas­sende und gründ­liche Film. Formal hat Pamela Green wie eine typische ameri­ka­ni­sche Doku­men­tar­fil­merin gear­beitet, ihr Film ist überaus fleißig und infor­mativ – bewirkt am Ende aber leider auch die heillose Infor­ma­ti­ons­ü­ber­schüt­tung des arglosen Zuschauers, der gar nicht hinter­her­kommt, alle Fakten zu sortieren.

Wäre der Film ein bisschen weniger umfassend gewesen – es hätte ihm gutgetan. Auch wenn man dann auf die ein oder andere origi­nelle Beob­ach­tung hätte verzichten müssen – z.B. die Begehung von Paris an Origi­nal­schau­plätzen und die Über­blen­dung mit den entspre­chenden Szenen, oder die dann doch recht speku­lativ bleibende Parallele zwischen der frühen Film­ge­schichte und den ersten Youtube-Videos. Allein die Bekannt­ma­chung von Alice Guy-Blaché, die Heraus­ar­bei­tung ihres femi­nis­ti­schen Humors und ihr frühes Prak­ti­zieren von Film als subver­sive Kunst aber macht diese dichte Doku­men­ta­tion äußerst sehens­wert.