Deutschland 2022 · 90 min. · FSK: ab 12 Regie: Heiko Aufdermauer, Johannes Girke Drehbuch: Heiko Aufdermauer, Johannes Girke Kamera: Johannes Girke, Heiko Aufdermauer, Victoire Bonin Schnitt: Johannes Girke, Heiko Aufdermauer |
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Innige Straßen-Liebe | ||
(Foto: UCM.ONE) |
Die ersten Szenen sind erstaunlich und elektrisierend. Sophie (15) und Dominik (17) umarmen sich und knutschen, als würden sie sich nach einem schlimmen Streit versöhnen. Oder als hätten sie sich eine Ewigkeit nicht gesehen. Oder ist die körperliche Nähe ein Ersatz für etwas anderes? Sind ihre Körper vielleicht das Einzige, was sie »besitzen«? Sicher ist, dass man in Filmen, wo es von Liebespaaren nur so wimmelt, so ein Liebespaar nur extrem selten zu sehen bekommt.
Angesichts ihrer Intensität und Wahrhaftigkeit denkt man unwillkürlich: Was für tolle Schauspieler! Man freut sich auf den nächsten Film, in dem sie mitspielen werden. Bei den natürlichen Dialogen fragt man sich: Welche Drehbücher hat dieser großartige Autor bisher geschrieben? Doch dann kommt in Erinnerung: Berlin Bytch Love ist keine Fiktion, sondern Realität. Sophie und Dominik sind keine Rollennamen, sie sind auch keine Schauspieler. Sie sind »echte Menschen«, die kein Dach über dem Kopf haben.
Obdachlose, die nachts in Einkaufspassagen Schlafsäcke ausrollen, die sich unter Brücken mit Sperrmüll ein kleines, zugiges Zuhause gezimmert haben oder ihren gesamten Besitz in geklauten Einkaufswagen vor sich herschieben, gibt es immer mehr. Oft bitten sie mit selbst gebastelten Schildern um ein paar Cent, da sie sich in einer Notsituation befinden. Viele sind Flüchtlinge, Opfer von Kriegen, ethnischen »Säuberungen« oder Klimakatastrophen.
Sophie und Dominik jedoch sind Deutsche und in Deutschland geboren. Sie ist von zu Hause abgehauen. Er hat eine Anklage wegen kleinerer Diebstähle und Drogenkonsum am Hals. Beide werden von der Polizei gesucht.
Kaum hat man das Paar und ihren Alltag etwas kennengelernt und staunend kapiert, dass sie ihre Freiheit genießen, bringt eine neue Information die Idylle ins Wanken. Sophie ist schwanger und zwar schon im vierten Monat. Kein Wunder, dass sie sich eine Wohnung wünscht mit einem richtigen Bett. Dominik träumt davon, nach Frankreich auszuwandern, wo sie einen Bekannten haben...
Spätestens ab hier fiebert man so sehr mit, dass man am liebsten seine Hilfe angeboten hätte. Gerne würde man Sophie freundlich darüber aufklären, dass Rauchen nicht nur schädlich für ihre eigene Gesundheit ist. Sondern dass Nikotin auch dem Ungeborenen Schaden zufügt. Dominik würde man gerne klarmachen, dass es wenig Sinn mache, länger wegzulaufen. Viel einfacher wäre es, vor Gericht zu erscheinen.
Diesen ungewöhnlichen Sog und die starke Identifikation der Zuschauer mit Sophie und Dominik erreichen die Filmemacher Heiko Aufdermauer und Johannes Girke durch eine extrem zurückhaltende Erzählweise, die sie konsequent durchhalten: ohne Off-Kommentare, ohne Erklärungen und natürlich ohne moralische Bewertungen.
Als Zuschauer fühlt man sich in Sophies und Dominiks Lebensdrama geworfen wie in einen reißenden, kalten Fluss. Und dann hat auch noch ihr Baby seinen ersten »Auftritt« auf einem Ultraschallbild. Dementsprechend erleichtert ist man, als die beiden sich stellen – und eine Wohnung zugewiesen bekommen.
Nach der Geburt ihres Kindes hofft man ein paar Sekunden lang auf ein Happy End. Obwohl man sich inzwischen genug zusammenreimen konnte, um zu ahnen, wie sehr Dominik seinem eigenen und dem Glück einer Familie im Weg steht. – Das Ende der Doku ist offen.
Wer mehr darüber wissen will, unter welchen schwierigen Bedingungen sie entstand und wie es mit Sophie und Dominik weiter gegangen ist, der kann das alles in einem Radiointerview erfahren, das die beiden Filmemacher gegeben haben.