Frankreich 2009 · 78 min. · FSK: ab 0 Regie: Thomas Balmès Drehbuch: Thomas Balmès Kamera: Jérôme Alméras, Steeven Petitteville Schnitt: Reynald Bertrand, Craig McKay |
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Alles geht – der kleine Ponija in Namibia |
Kaum zu glauben! ist der erste Impuls nach diesem Film. Dass es den nicht schon gibt! Dass so etwas erst jetzt in die Kinos kommt! So einsichtig, so verführerisch, so überzeugend und selbstverständlich ist die Idee: Gefilmter Alltag im vorsprachlichen Raum, über vier geografische Räume verteilt, ein sprachlos-subtiler Kommentar zum Stand unserer Globalisierung. Oder anders gesagt: vier Babys – in Japan, der Mongolei, Namibia und der USA erleben ihr erstes Jahr mit ihren Eltern, ihren ethnischen Besonderheiten, teilnehmend, zärtlich umsorgt von der dadurch fast unsichtbaren Kamera des Dokumentarfilmers Thomas Balmès.
Was es dort zu sehen gibt, ist dann fast noch unglaublicher als die späte Geburt dieses Films an sich und macht fast alles Suchen nach fremden Welten in den Untiefen des Alls überflüssig, denn die wahre Fremde erzeugt der Mensch anscheinend doch am besten selbst.
Schon die Geburten(räume) trennen nicht nur Farb- und Materialwelten. Und so etwas wie die selbstverständlich allgemeingültige Wickel- und Behandlungsmethode nach der Geburt wirkt plötzlich wie ein schlechter eurozentristischer Witz. Denn wenn es bei allen physiologischen Ähnlichkeiten wie den zwei Ohren und zwei Augen eines nicht gibt, dann allgemeine Gültigkeiten in der (Früh-)Erziehung: anders als in Ingeborg Stadelmanns Hebammensprechstunde »in einem rötlichen Lichtschimmer und einem angenehmen warmen Raum, eingehüllt in weiche, warme Handtücher«, wird das mongolische Baby Bayar nach der Geburt in harte Tücher gepuckt wie ein Paket und auf einem dumpf tuckernden Motorrad samt Mutter aus postsowjetischer Krankenhaustristesse in die Weiten der mongolischen Steppe gebracht, um dort in einer Jurte erst einmal weiter eingeschnürt liegen zu bleiben, während der nomadische Alltag seiner Wege geht. Das namibische Himba-Baby Ponijao lebt zwar in ähnlich nomadischen Verhältnissen, doch auf irgendeine Weise eingehüllt wird hier überhaupt nicht; bis auf einen Lendenschurz und eine Kette bleibt Ponijao unbekleidet wie sein Umfeld – aber nicht unbegleitet. Geschwister und erweiterte Familie sind nah, greifen aber wenig ein und Ponijao sucht sich sein Spielzeug selbst: mal einen alten Tierknochen, an dem er zu nagen beginnt, dann einen Hund, der erst ihn leckt, dann von Ponijao selbst leckend entdeckt wird. Diese Erfahrungen macht Bayar in der Mongolei erst, nachdem er seinem Kokon entsteigt und ans Bett angebunden seine ersten abgezirkelten Entdeckungsrunden dreht, bevor auch er sich, nun frei beweglich, unter die Tiere mischen darf.
Und so geht es auch weiter. Harte Schnitte zwischen den Welten und den Babys erzeugen gerade durch die hoch industrialisierten Erlebniswelten der japanischen Mari und der amerikanischen Hattie einen manchmal kaum zu begreifenden Kontrast zu den nomadischen Lebenswelten – ein Kontrast, der aus der Sicht von Hebammensprechstundenlektüre, Geburtsvor- und Nachbereitungskursen, unserem eigenen Islington-Glockenbach-Prenzl-Kulturkreis, oft über das sprachlose Staunen hinausgeht. Dass dieses Metastaunen immer wieder erleichterndem Lachen weicht und zu keiner moralischen Aburteilung mutiert, dürfte dabei – zumindest für uns – gerade an den »modernen« Erziehungsmodellen liegen, die uns durch Hattie in Amerika und Mari in Japan vorgehalten werden. Erst durch den Vergleich werden die eigenen Tabus und Beschränkungen – ursprünglich ja gerade aus dem Wunsch nach der Überwindung alter Tabus und Modelle geboren – plötzlich sichtbar. Hilfreich bei dieser sanften, einer Babymassage nach Frédérick Leboyer gleichkommenden Therapie, ist Balmès konsequenter Verzicht auf jegliche Kommentare. Die vorsprachlichen Laute der Babys und die erzieherischen, verbalen Eingriffe der Eltern sind, unübersetzt, der einzige, aber überaus spannende Dialogfaden des Films; die meist dezent zugemischte musikalische Untermalung stört kaum.
Balmès jedoch gelingt mehr, mehr sogar als dem, was der große Ethnologe Bronislaw Malinowski einmal über die Aufgabe des Ethnografen, des Erfassers fremder Welten, geschrieben hat, der nicht mehr und nicht weniger als »die Perspektive des Eingeborenen, seine Einstellung zum Leben und wie er die Visionen seiner Welt verwirklicht« darstellen können müsse. Denn Balmès lenkt den ethnografischen Blick nicht nur auf die fremde Kultur, sondern auch auf die eigene und zeigt schlüssig, dass die »Eingeborenen« im Spiegelbild unserer Sehnsüchte immer auch wir sind (und umgekehrt, wie die nach dem Screening des fertigen Film sehnsüchtig nach Japan schauende Mutter von Ponija) – auf uns und unsere Babys also genauso zutrifft, was Malinowski einst über die Trobriander und ihre Kula schrieb:
»Yet it must be remembered that what appears to us an extensive, complicated, and yet well ordered institution is the outcome of so many doings and pursuits, carried on by savages, who have no laws or aims or charters definitely laid down. They have no knowledge of the total outline of any of their social structure. They know their own motives, know the purpose of individual actions and the rules which apply to them, but how, out of these, the whole collective institution shapes, this is beyond their mental range. Not even the most intelligent native has any clear idea of the Kula as a big, organised social construction, still less of its sociological function and implications.« (Argonauts of the Western Pacific, Dutton, 1961, S. 83)
Aber vielleicht ist das Wissen darum, wie wir glauben, denken und handeln auch egal und in den Händen eines Thomas Balmès besser als bei uns aufgehoben – erst recht in Bezug auf die Lebenslinien unserer Babys, denn was letztendlich zählt, ist doch nur eins: am Ende laufen sie alle.