Averroès & Rosa Parks

Frankreich 2024 · 150 min. · FSK: ab 12
Regie: Nicolas Philibert
Drehbuch:
Kamera: Nicolas Philibert
Schnitt: Nicolas Philibert, Janusz Baranek
Die Welt auf den Kopf stellen, um sie auf Händen zu tragen
(Foto: Grandfilm)

Die Farbe Beige

Nicolas Philiberts »Averroès & Rosa Parks« ist das Sequel von »Auf der Adamant«. Im zweiten Teil seiner Trilogie zeigt er die Arbeit in der Psychiatrie

»Ich will unbedingt hier raus. Was, wenn ich eine Frau kennen­lerne? Was soll ich ihr sagen? Dass ich den ganzen Tag in der Psych­ia­trie bin?« – Aus Averroès & Rosa Parks

Sanft und schwebend nähert sich der neue Film von Nicolas Philibert der Klinik Esquirol in Paris. Eine Drohne über­fliegt den viel­glied­rigen Orga­nismus des Gebäudes, das schöne Bild – »ist das nicht der Bois de Vincennes, dort?« – ist aus einem Imagefilm und wird vom Tablet abge­spielt, Pfle­ge­rinnen und Pfleger beugen sich drüber. Es gleicht auch einem Gefängnis, sagt der eine, oder einer Schule: Alle diese Gebäude sind gleich gebaut.

Averroès & Rosa Parks, etwas umständ­lich nach den zwei Abtei­lungen der psych­ia­tri­schen Klinik benannt, ist ein Wieder­sehen mit alten Bekannten. Schon in Auf der Adamant, dem mit dem Goldenen Bären ausge­zeich­neten Vorgän­ger­film, konnte man kaum lassen von den char­manten und ehrlichen Menschen, denen man auf dem kunst­the­ra­peu­ti­schen Schiff in der Seine begegnete. Jetzt wendet sich Philibert der klini­schen Arbeit zu. Die Verschie­bung zwischen der freien Kunst­the­rapie und dem medi­zi­ni­schen und sozialen Zugriff durch die Insti­tu­tion ist frap­pie­rend: Hatte man die Menschen auf dem Boot der Adamant als liebens­werte Kreative mit leicht kruden Ideen kennen­ge­lernt, wirken sie nun über­ra­schend zurück­ge­zogen und verlieren sich auch mal im Labyrinth ihrer Ideen, die sie fast mono­lo­gisch ausbreiten.

Hier, im zweiten Teil seiner Trilogie über die Psych­ia­trie, geht es noch um den teils beschwer­li­chen Prozess, aus der Krankheit heraus­zu­treten. Heilung, das ist im psych­ia­tri­schen Kontext ja eher ein schwie­riges Konzept. Aber der Rück­ge­winn von Eigen­s­tän­dig­keit und Selbst­be­stimmt­heit, und vor allem: das Entkommen aus der Klinik, das sind wichtige Schritte, um in der Gesell­schaft wieder anzu­kommen. Das wird im dritten Teil der Trilogie folgen, in Die Schreib­ma­schine und andere Quellen der Spuren­si­che­rung. Noch ist es aber nicht so weit.

Einer soll in eine thera­peu­ti­sche Wohn­ge­mein­schaft entlassen werden. Die Sorge, eventuell mit seinen Gebeten die Mitbe­wohner zu stören, gibt Anlass zu einem Exkurs über den Laizismus. Ein anderer Patient war auf Heim­be­such, will arbeiten und seine Zeit nicht mit Warten verbringen. Zwei­ein­halb Monate soll er noch in der Psych­ia­trie bleiben.

Um sie zum Reden zu bringen, werden Fragen gestellt. Mit den Patienten sprechen Pfleger, Ärztinnen und Sozi­al­ar­bei­te­rinnen, fragen immer wieder nach, sehr vers­tänd­nis­voll, einfüh­lend, auch aufklä­rend. Sie versuchen deutlich, den Pati­en­tinnen die Last von den Schultern zu nehmen, wollen sie aber auch stärker invol­vieren in ihr eigenes Schicksal. Aktiv werden, einen Willen finden, das sind die ersten Annähe­rungen an Nietz­sches »Lebens­kraft«, auf die sich ein Patient in der Hoffnung, dass es doch mal besser werden könnte, beruft. Ob ihm die Therapie etwas gebracht habe, will die Sozi­al­ar­bei­terin wissen. Nein, eigent­lich nicht, sagt er, aber es war inter­es­sant. Philibert ist bei den Gesprächen mit seiner Kamera dabei. Er inter­ve­niert nicht, hält sich, wie im Direct Cinema geboten, unsichtbar, wie eine Fliege an der Wand. Ihn inter­es­sieren die Prozesse und das Denken sichtbar zu machen, das sich zwischen Patient und Gegenüber im Dialog entwi­ckelt.

Mit den Patienten lernen wir auch die Gänge der Station kennen und die Farbe Beige, in der die Klinik gestri­chen ist. Mit Trip­pel­schritten gehen manche leicht tänzelnd den Flur entlang, halten sich an dem Brett fest, das die Wände vor Macken und Schmutz schonen soll. Ja, das ist trist. Ein Kran­ken­pfleger trommelt dynamisch die Pati­en­tinnen zusammen, er hält jetzt gleich eine Thera­pie­stunde.

Averroès & Rosa Parks zeigt die Pati­en­tinnen und Patienten vorur­teils­frei, ohne Vorge­schichte oder Diagnose. Das Setting des Kran­ken­hauses lässt sie jedoch unmit­telbar als Kranke erkennbar werden, das bringen der Ort und die Hier­ar­chien mit sich. Auf dem Boot der Adamant war das anders. Da hatten sie einen nahezu unbe­treuten Freiraum und konnten sich zeigen, mit ihrem Witz, ihren Träumen, ihren Bega­bungen.

Philibert ist ein Doku­men­ta­rist der gesell­schaft­li­chen Utopie. Auch in der Klinik hat er Menschen gefunden, die sich aufrichtig um die Erkrankten kümmern, die aufmerksam und engagiert sind, die Lösungen anbieten, auch wenn es darum geht, ein Medi­ka­ment abzu­setzen. Die humane Psych­ia­trie, die Philibert in Esquirol entdeckt, beruht noch zum großen Teil auf dem Wort und hält Medi­ka­mente und Eingriffe für nicht ausrei­chend.

Während sein Doku­men­tar­film-Kollege Raymond Depardon in 12 Tage (2017) den Finger auf die Uner­bitt­lich­keit des Systems der psych­ia­tri­schen Zwangs­in­ter­nie­rung legte, schaut Philibert lieber dorthin, wo das System funk­tio­niert. Sein Film ist von einer tiefen Humanität durch­zogen und von einer aufrich­tigen Liebe zum Menschen in seiner großen Diver­sität.