An Unfinished Film

Singapur/Deutschland 2024 · 107 min. · FSK: ab 12
Regie: Lou Ye
Drehbuch: ,
Kamera: Zeng Jian, Florian Zinke
Darsteller: Qin Hao, Mao Xiaorui, Qi Xi, Huang Xuan, Ming Liang u.a.
An Unfinished Film
Vielschichtiger dokumentarischer Realismus...
(Foto: Alamode / Die FilmAgentinnen)

Die große Unterbrechung

Lou Yes »Unvollendete«: An Unfinished Film ist witzig, gewitzt und einer der besten Filme über die Pandemie

Alles fängt ganz harmlos an: Der Film­re­gis­seur Xiaorui findet durch Zufall Material aus einem eigenen alten Film wieder (tatsäch­lich bedient sich Regisseur Lou Ye hier aus seinem eigenen preis­ge­kröntem Film Spring Fever von 2009), der seiner­zeit aus poli­ti­schen Gründen abge­bro­chen werden musste, und danach nie zu Ende gedreht werden konnte – eine offene Wunde in seiner künst­le­ri­schen Biografie. Der Inde­pen­dent-Regisseur ruft seinen damaligen Haupt­dar­steller Jiang Cheng an und überredet den inzwi­schen berühmten Schau­spieler, ihm beim Dreh zusätz­li­cher Szenen zu helfen, um das Projekt seines unvoll­endeten Films wieder aufgreifen und ihn über zehn Jahre später fertig­zu­stellen.
Alles verläuft zunächst nach Plan. Die Dreh­ar­beiten beginnen aufs Neue und das Projekt entwi­ckelt sich in eine gute Richtung – zumindest ein paar Tage lang.

Dann geschieht Merk­wür­diges: Eher beiläufig ist in den Nach­richten von einem seltsamen Virus die Rede. Etwas später treffen besorgte Anrufe aus dem Familien- und Freun­des­kreis bei den Team-Mitglie­dern ein, erste Menschen reagieren über­vor­sichtig, anderen kommt das hyste­risch vor.

Aber plötzlich ist das Hotel, in dem das ganze Team beher­bergt wird, abge­rie­gelt. Jetzt erst begreifen wir: Dieser Film spielt vor gut fünf Jahren in China, und was das Publikum hier erlebt, ist der Ausbruch dessen, was sich bald zur größten Pandemie des 21. Jahr­hun­derts entwi­ckeln wird: Corona.

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Es ist keine über­ra­schende Nachricht: In einem auto­ri­tären Staat wie China waren Lockdown- und Corona-Schutz­maß­nahmen während der Pandemie seiner­zeit mit ungleich größerer Rigo­ro­sität und Entschlos­sen­heit und ohne Rücksicht auf indi­vi­du­elle Inter­essen durch­ge­setzt worden.
Davon erzählt jetzt der chine­si­sche Regisseur Lou Ye, der spätes­tens seit seinem zweiten Spielfilm Suzhou River einer der pronon­cier­testen Vertreter des chine­si­schen Gegen­warts­kinos ist. 1965 geboren ist Lou Ye ein Angehö­riger der soge­nannten »Sechsten Gene­ra­tion« des Chine­si­schen Kinos, also der besonders kriti­schen Filme­ma­cher, die als junge Erwach­sene die blutige Nieder­schla­gung der Studen­ten­pro­teste von 1989 erlebten und deren Spiel­filme die Fiktion oft mit doku­men­ta­ri­scher Heran­ge­hens­weise kreuzen und einen direkten, unver­blümten Blick auf die Verhält­nisse werfen.

Es ist ein schlauer Kniff des Regis­seurs, die Geschichte der Corona-Pandemie und der chine­si­schen Schutz­maß­nahmen aus der Sicht eines Filmteams zu erzählen.
Das Resultat ist einer der span­nendsten »Film-im-Film«-Filme seit langer Zeit. Dabei geht es aller­dings nicht um heitere Insi­der­späße und Gags aus der Filmwelt, und auch nicht um eine pathe­ti­sche Feier des Kinos als eines außer­ge­wöhn­li­chen Ortes, oder der Kunst als der Voll­endung des mensch­li­chen Daseins.

Sondern hier sind Film und Dreh­ar­beiten – bei denen Lou Yes reale Mitar­beiter sich selbst spielen – einfach ein drama­tur­gi­sches Mittel, um eine Gruppe von sehr verschie­denen Menschen ähnlichen Alters und Milieus zu schildern, die aus ihren normalen privaten Umge­bungen und Arbeits­zu­sam­men­hängen heraus­ge­nommen an einem fremden Ort zusam­men­ge­kommen sind, um gemeinsam eine Arbeit zu erledigen, an deren Ausfüh­rung sie jetzt aber durch äußere Umstände gehindert werden.

An Unfi­nished Film ist ohne Frage auch ein kriti­sches oppo­si­tio­nelles Statement, eine Wort­mel­dung des dissi­den­ti­schen China, denn hier werden staat­liche Willkür und die Unfähig­keit der Behörden ebenso gezeigt, wie die negativen Züge des sozialen Lebens: Eine Gesell­schaft aus Egozen­tri­kern denkt nur an sich, stabil geglaubte Struk­turen zerfallen im Nu und entpuppen sich als Schein.

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Am Anfang wirkt An Unfi­nished Film nur wie eine ironische, politisch raffi­nierte Komödie über die chine­si­schen Medien. Als die Pandemie sich immer mehr steigert und nicht mehr nur wie ein panik­ma­chendes Gerücht erscheint, wandelt der Film bald aber eher in einen mit vergleichs­weise beschei­denen Mitteln insze­nierten Kata­stro­phen­film. Bald bricht im Hotel das Chaos aus. Es kommt zu Schlä­ge­reien zwischen panischen Crew­mit­glie­dern und Gesund­heits­per­sonal in Schutz­an­zügen, während immer mehr Menschen krank werden und zusam­men­bre­chen. Auch ohne Spezi­al­ef­fekte wirft der Regisseur die Dramatik der Ereig­nisse sehr effektiv auf die Leinwand, und erinnert an chao­ti­sche Momente und an weltweit geteilte Erfah­rungen der Bürger während der ersten Wochen der Corona-Pandemie. Mit Beginn des Lockdowns und der zuneh­menden Nutzung von Split­screen-Technik und Aufnahmen aus Smart­phones und Social-Media-Portalen entwi­ckelt sich An Unfi­nished Film zu einem inten­siven, intimen Drama.

Im letzten Drittel setzt der Regisseur auch mehr und mehr echtes, oft erschre­ckendes und von den Behörden unter­drücktes doku­men­ta­ri­sches Material aus Wuhan ein. So wandelt sich der Film in eine hoch­po­li­ti­sche, leiden­schaft­liche erzählte Anklage gegen über­mäßige Einmi­schung des Staates in das Privat­leben als auch eine Hommage an das Trauma einer ganzen Nation, und an die Wider­stands­fähig­keit der Menschen.

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Einer der bewe­gendsten Momente des Films ist eine Szene, in der der Haupt­dar­steller per Video­anruf mit seiner zutiefst verängs­tigten Frau spricht, während das gemein­same Baby neben ihr schläft – die Situation zwingt ihn dazu, ihr auf eine Weise seine Liebe zu gestehen, wie er es noch nie zuvor getan hat. Unaus­ge­spro­chene Todesängste und die beschränkten Kommu­ni­ka­ti­ons­mög­lich­keiten mischen sich mit emotio­naler Dring­lich­keit.
Auch wegen solcher Szenen ist dies ein heraus­ra­gender Film aus China, der dem viel­schich­tigen doku­men­ta­ri­schen Realismus für den Filme­ma­cher wie Lou Ye und Jia Zhang-ke stell­ver­tre­tend stehen, eine neue weitere Ebene verleiht.

Neben all dem ist dieser Film auch eine stell­ver­tre­tende Reflexion darüber, was es bedeutet, »unvoll­endet« zu sein. Die meisten Menschen dürften die Erfahrung kennen, was es bedeutet, dass etwas zu Ende ist, ohne »fertig« zu sein. Lou Ye kennt diese Erfahrung seit Summer Palace, seinem mutigen Drama über die drama­ti­schen Ereig­nisse am Tiananmen-Platz. Nach seiner Premiere im Jahr 2006 wurde der Film von den chine­si­schen Behörden massiv unter­drückt und ist selbst über die üblichen Schleich­wege so gut wie nicht zu sehen. Lou Ye ist aus vielen Gründen selbst ein Unvoll­endeter.

Hier erinnert er an die große und erschre­ckende Unter­bre­chung unser aller Lebens, von dem man bis dahin immer annahm, dass es stetig in gewohnten Bahnen weiter­gehen würde.
Dies ist einer der besten Filme über die Pandemie.