Anderswo

Anywhere Else

Deutschland 2014 · 82 min. · FSK: ab 0
Regie: Ester Amrami
Drehbuch: ,
Kamera: Johannes Praus
Darsteller: Neta Riskin, Golo Euler, Hana Laslo, Hana Rieber, Dovaleh Reiser u.a.
Plädoyer für einen neuen Heimatbegriff

Fremde Heimat

Ich erinnere mich an eine Freundin, die sich grund­sät­z­lich und stets betont auf eine Seite stellte. Die Ansichten Max Stirners, der in seinem heftig umstrit­tenen Hauptwerk »Der Einzige und sein Eigentum« einmal sagte: »Ich habe meine Sach auf nichts gestellt.« würde sie wahr­schein­lich noch heute so verbieten wollen wie damals die Zensoren der Vormärz-Zeit. Vor ein paar Jahren schloss sie sich einer Pro-Palästina- Akti­ons­gruppe an. Es gab noch ein letztes Gespräch, in dem ich versuchte, darauf hinzu­weisen, dass hier wie in vielen anderen Konflikt­fel­dern es doch ziemlich riskant sei, nur mit einem Auge zu sehen. Sie lachte nur verächt­lich, reihte einen unvor­stell­baren Reigen an Gräu­el­taten der israe­li­schen Armee auf und brach das Gespräch dann ab; seitdem haben wir keinen Kontakt mehr. Heute würde ich nichts mehr sagen. Statt­dessen würde ich ins Kino gehen und mit ihr Ester Amramis Diplom­film Anderswo ansehen.

Denn Anderswo beschreibt das Israel, das wir norma­ler­weise nicht in den Medien gespie­gelt bekommen. Es ist ein Israel der Grau- und Zwischen­töne, des Alltags und es ist das Israel, in das die Israelin Noa (Neta Riskin) nach acht Jahren Studium in Berlin zurück­kommt. Mit ihrer über­s­tür­zten Reise in die Heimat versucht Noa vor allem ihren Konflikten Herr zu werden: das Thema ihrer Abschluss­ar­beit – ein Lexikon der unüber­setz­baren Wörter – ist abgelehnt worden und die Beziehung zu ihrem Freund Jörg (Golo Euler) steht genauso auf dem Prüfstand wie das Leben an sich. Ihre Reise nach Israel wirft jedoch weitere Fragen auf. Die Beziehung zu ihrer Mutter (Hana Laslo) ist dabei nur eines von vielen Konflit­kfel­dern, die sich in den Jahren der Abwe­sen­heit alles andere als von selbst gelöst haben.

Amrami, die selbst aus Israel stammt und seit 10 Jahren in Berlin lebt, konden­siert diesen kultu­rellen Brücken­schlag über ein mit ihrem Partner Momme Peters entwi­ckeltes Drehbuch, das auch in der filmi­schen Umsetzung in fast allen Belangen überzeugt. Noas Ringen um eine »Heimat« kontras­tiert dabei schmer­z­voll mit dem Alltag in der Heimat, der vor allem ein prekärer Spagat zwischen Normal- und Ausnah­me­zu­stand ist. Verstärkt wird ihre Suche nach einer neuen Identität auch über die ambi­va­lente Rolle ihres Bruders, der seinen Militär­dienst in der israe­li­schen Armee ebenso hinter­fragt wie die Rollen­mo­delle innerhalb der Familie, mit der auch Noa zu kämpfen hat. Vor allem die über­starke Mutter, die beein­dru­ckend von der israe­li­schen Star-Schau­spie­lerin Hana Laslo verkör­pert wird, bietet ein dankbares thera­peu­ti­sches Mittel zum Zweck. Schau­spie­le­risch brilliert hier auch immer wieder Neta Riskin als Noa, die sowohl die leisen Töne einer verzwei­felten Sinn- und Lebens­suche zu bedienen versteht als auch den offen ausge­tra­genen, psycho­dra­ma­ti­schen Konflikt.

Den Aspekt der verlo­renen »Heimat« verstärkt Amrami über einen semi-doku­men­ta­ri­sches Hebel, in den Film gestreute, »echte« Inter­views mit Migranten (einer der Inter­view­partner ist der in Berlin lebende Schrift­steller Vladimir Kaminer), die ein ihnen wichtiges, aber nicht über­setz­bares Wort ihrer Heimat­sprache erklären. Das in die Realität trans­por­tierte »fiktive« Examens­thema von Noa unter­bricht aller­dings den ansonsten überz­eu­genden narra­tiven Fluss des Films unnötig, auch wenn es Amramis Kern­aus­sage noch einmal verstärkt.

Dennoch ist Anderswo nicht nur ein sehens­wertes und faszi­nie­rendes Plädoyer dafür, es mit dem über­stra­pa­zierten Begriff »Heimat« – ganz im Sinne Vilém Flussers – etwas anders anzugehen, sondern auch ein nicht zu unter­schätz­ender Beitrag darüber, wie die Realität eines Landes wie Israel jenseits unserer medialen Wirk­lich­keit aussieht.