Deutschland 2025 · 93 min. · FSK: ab 12 Regie: Fatih Akin Drehbuch: Fatih Akin, Hark Bohm Kamera: Karl Walter Lindenlaub Darsteller: Jasper Billerbeck, Laura Tonke, Lisa Hagmeister, Kian Köppke, Lars Jessen u.a. |
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Drama zwischen Pflichterfüllung und Menschlichkeit... | ||
(Foto: Warner) |
April 1945 auf einem Kartoffelacker der nordfriesischen Insel Amrum: Der Ortsgruppenleiter der NSDAP oder ein sonstiger Offizieller im Braunhemd weist die Bäuerin Tessa Bendixen zurecht, die gerade mit einer Kinderschar das Feld bestellt. Mit ihrem Gerede vom baldigen Ende des Krieges betreibe sie „Wehrkraftzersetzung“ und werde vor einem Standgericht landen. Schließlich wünscht der NSDAP-Mann der keinesfalls eingeschüchtert wirkenden Frau verblüffenderweise einen „schönen Tag“. Wurde diese nervtötende neudeutsche Floskel tatsächlich schon vor achtzig Jahren gebraucht, und dann auch noch in diesem völlig unpassenden Zusammenhang? Solche Fragen stellen sich beim Betrachten von Fatih Akins neuem und vorab viel gepriesenem Werk „Amrum“ des Öfteren. So manche Szene wirkt steif und gestellt, als riefe der Regisseur permanent aus: »Achtung, Achtung, wir drehen hier einen Film über den Nationalsozialismus!« Andererseits muss man dem Film zugutehalten, dass er aus der Perspektive eines Zwölfjährigen erzählt ist, der staunend eine Welt voller Wunder und Grausamkeiten erlebt.
Jasper Billerbeck, der bei einem Segeltraining in Niedersachsen entdeckt wurde, nimmt in seiner allerersten Rolle als Nanning sofort für sich ein. Der ruhige blonde Junge habe ihn an den zehnjährigen Helmut Schmidt erinnert, so Fatih Akin. Jasper ist das optische Gegenteil vom wilden dunkeläugigen Heimkind Uwe (Uwe Bohm) aus Hamburg-Wilhelmsburg in Hark Bohms legendärem Jugendfilm Nordsee ist Mordsee aus dem Jahr 1976, um den eine heftige Debatte wegen der Jugendfreigabe entbrannte.
Nicht nur die gebürtige Hildesheimerin Diane Kruger als unerschrockene Landwirtin Tessa hatte nach eigenen Angaben Mühe, die Dreharbeiten im nordfriesischen Dialekt zu absolvieren, für die eigens ein Heimatkundler als Coach angeheuert wurde. „Öömrang“ heißt Amrums Mundart, die nur noch von etwa 600 Menschen gesprochen wird. Bei Ebbe nimmt die autofreie Insel die niedliche Form eines Wassertropfens an, bei aufkommender Flut hingegen droht für Spaziergänger
schnell Lebensgefahr.
Hier auf Amrum, der Heimat seiner Mutter, erlebte der 1939 geborene Autorenfilmer Hark Bohm mit seiner Familie das Ende des Zweiten Weltkriegs. 1943 waren die Bohms in Hamburg ausgebombt worden, der Vater befand sich als SS-Obersturmbannführer in Kriegsgefangenschaft. Es sind Hark Bohms Kindheitserinnerungen, die er in seinem Roman „Amrum“ niederschrieb und die den gleichnamigen Film grundieren, für den er wiederum mit seinem Freund
Fatih Akin das Drehbuch verfasste.
Jasper Billerbeck spielt Nanning, der sich in ständigem Loyalitätskonflikt mit seiner hochschwangeren Mutter Hilke befindet, einer glühenden Nationalsozialistin – oder wie Fatih Akin das Dilemma zusammenfasst: „Fuck, sie ist Nazi!“. Hilke muss es gewesen sein, die sich mitten in der Nacht aufmachte, die Kartoffelbäuerin zu verraten. Ihre Schwester Ena zweifelt schon lange am System, kann sich aber nicht gegen Hilkes selbstzerstörerische ideologische Inbrunst wehren und auch nicht ihre beiden Neffen und die kleine Nichte davor schützen. Lisa Sagmeister gestaltet diese Nebenrolle mit großer Eindringlichkeit.
Das persönliche Drama, das der „Untergang“ des NS-Regimes mit Hitlers Selbstmord am 30. April 1945 für so viele Deutsche einläutete, ist eins zu eins in Laura Tonkes Gesicht abzulesen. Damit beweist sie erneut ihre besondere Qualität als Charakterdarstellerin. Als der Volksempfänger das Ende des „Führers“ verkündet, setzen bei Hilke prompt die Wehen ein. Nach der Geburt des vierten Kindes – in Abwesenheit des verhafteten Vaters – verweigert sie
jede Nahrung. Nur einen Wunsch hätte sie: ein Stück Weißbrot mit Butter und Honig. In der Sorge um seine Mutter setzt Nanning alles daran, an die Zutaten für ein Weißbrot zu kommen, und sei es noch so klein. Unter anderem wird er von der Flut überrascht, als er zu seinem Nazi-Onkel Onno auf die Nachbarinsel Föhr läuft. Um ein paar Gramm Zucker zu bekommen, muss er ihm die sogenannten Schwertworte der Hitlerjugend aufsagen.
Diesen ideologischen Irrsinn der Menschen kontrastiert der
Film mit phantastischen Naturaufnahmen und dem Rhythmus der Jahreszeiten, wie er sich an der Nordsee zeigt. Die Inselpanoramen in Grau, Blau und Braun nehmen manchmal drei Viertel der Leinwand ein. Aber auch in diesen stillen Momenten schimmert für Nanning und seinen Freund, den „Moby Dick“-Leser Hermann (bravourös: Kian Köppke), immer wieder die Gewalt durch, etwa beim Töten von Wildhasen oder einer Robbe. Amrum war eine Insel der Walfänger. An diese Tradition erinnert
Detlev Buck, nordish by nature, in einer Paraderolle als Fischer namens Sam Gangsters. Man meint es förmlich im Kinosaal zu riechen, wenn er die Schollen zum Räuchern auf eine Schnur auffädelt.
Fatih Akin hat in Amrum sein zuweilen übergroßes Ego auf angenehme Weise zurückgenommen. Und doch ist die Handschrift des Hamburgers mit türkischen Wurzeln zu erkennen, etwa als eine Gruppe abgerissener Flüchtlinge aus Ostpreußen auf der Insel ankommt. „Sprechen die deutsch?“ fragt ein Einheimischer. „Das sind Deutsche“, lautet die Antwort. Thematisch ist der Film mit Siegfried Lenz‘ Roman „Deutschstunde“ verwandt, wobei die letzte Verfilmung von Christian Schwochow nicht an die literarische Vorlage heranreichte. Im fiktiven Ort Rugbüll als dem „nördlichsten Polizeiposten Deutschlands“ spielt sich für den halbwüchsigen Siggi Jepsen in der NS-Zeit ein Drama zwischen Pflichterfüllung und Menschlichkeit ab, wie es so nur dem gespenstischen deutschen Grundsatz entspringen kann, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun. Dagegen setzt Amrum ein berührendes Zeichen der Empathie.