Frankreich 2016 · 91 min. · FSK: ab 12 Regie: Philippe de Chauveron Drehbuch: Philippe de Chauveron Kamera: Vincent Mathias Darsteller: Ary Abittan, Medi Sadoun, Cyril Lecomte, Slimane Dazi, Reem Kherici u.a. |
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Spagat zwischen Fiktion, Realität, Drama und Komödie |
José Fernandez ist ein französischer Grenzpolizist, der Flüchtlinge bei der Abschiebung begleitet. Ihre Schicksale sind ihm piep-egal, er macht nur seinen Job. Außerdem hat José eine Freundin, Maria, die verdammt eifersüchtig ist und temperamentvoll. Sowie einen Partner, Guy Berthier. Der versüßt sich die bittere Abschiebungspraxis damit, Stewardessen „klar zu machen“, um mit ihnen ins Bett zu gehen.
Karzaoui ist ein Flüchtling, der nach Afghanistan
abgeschoben wird, weil er einer älteren Dame die Handtasche gestohlen haben soll.
Zwangsweise in seine Heimat zurücktransportiert zu werden, aus der er unter den schlimmsten Strapazen geflohen ist, um nicht gesteinigt zu werden, amputiert oder enthauptet, ist die absolute Katastrophe, also ein super Gau. Kann man einen G. A. U., also den „größten anzunehmenden Unfall“ überhaupt noch steigern? Ja, man kann, das gelingt dem Schicksal ziemlich oft.
Das Setting klingt nach Problemfilm mit Seitenhieben auf die aktuelle Flüchtlingspolitik der EU, inklusive Schlechte-Laune-Garantie wegen des miserablen moralischen Zustands der restlichen Welt.
Zum Glück ist das Setting noch nicht fertig. – Zum Verdruss für seine Charaktere. Das bedeutet in diesem Fall zum Vergnügen für das Publikum.
Denn der Flüchtling, Karzoui, kommt gar nicht aus Afghanistan, sondern aus Marokko. Den Pass, mit dem er sich ausgewiesen hat, hat
er einem anderen Flüchtling gestohlen.
Daraus folgt, José und Guy wollen Karzoui nach Afghanistan abschieben, mit allen Mitteln. Guy will dabei noch Stewardessen flach legen, mit allen Mitteln. Karzoui versucht, nach Marokko zu entkommen. Ohne Papiere, ohne Geld, dafür mit allen anderen Mitteln.
Man ahnt es, der Drehbuchautor und Regisseur Philippe de Chauveron verwandelt das Drama in eine Komödie, ebenso mit allen Mitteln.
Zum Einsatz kommen: alberner Slapstick, scharfer Dialogwitz, Ecstasy, Betäubungsmittel, ausgeschlagene Zähne, Fesselungen, Erbrechen, Reisekrankheit, zig Tassen Espressi, vielleicht sogar hunderte Tassen? Auf jeden Fall heftige Eifersuchtsszenen, käufliche, sowie echte Liebe. Hinterfotzige Notlügen, ehrliche Reue und erstaunliche
Entwicklungen der Charaktere.
Oh, nein! Halt! Stopp! Korrektur! Einige Charaktere bleiben genau so, wie sie sind und machen den anderen das Leben schwer. Sonst wäre Alles unter Kontrolle! keine gelungene sondern eine seichte Komödie, die wie ein programmierter Torpedo auf ein vorhersehbares Happy End hin dümpelt. Laut Interview hat Philippe de Chauveron Szenen, die in einem trostlosen Flüchtlingslager spielen, in einem echten, trostlosen Flüchtlingslager gedreht. Also sucht er Glaubwürdigkeit und Authentizität. Doch kaum steckt der Plot in einer Sackgasse fest, weil ein Charakter zu viel Oberwasser hat, bekommt er einen Schlag mit einem Ruder auf den Schädel, RUMMS! Schon fließen alle Handlungsstränge wieder frei. Zumindest bis der Geschlagene aufwacht und selbst zum Ruder greift.
Können Menschen, die sich gegenseitig bewusstlos geschlagen haben, jemals wieder ruhig und friedlich miteinander reden? Vielleicht sogar Probleme gemeinsam lösen?
In diesem Film können sie es. Und weil alle Probleme glaubwürdig gezeigt werden, glaubt man auch an die Chance ihrer Lösung. Oh, nein! Halt! Stopp! Korrektur! Es gibt auch Dienstvorschriften, Vorgesetzte, das europäische Asylrecht, die Taliban und internationale, seit Jahrzehnten schwelende Konflikte. Dem allen kann
man nicht so einfach ein Ruder über Schädel ziehen, oder etwa doch?
Für so seinen Spagat zwischen Fiktion, Realität, Drama und Komödie braucht man spielwütige Schauspieler, die sich für nichts zu schade sind. Ary Abittan spielt José, den Grenzpolizisten ohne Skrupel. Cyril Lecomte mimt Guy, einen Polizisten, der die lästige Pflicht mit dem Angenehmen verbinden will. (Wer will das nicht?) Medi Sadoun ist Karzoui, der das Unmögliche versucht und es schafft. Oh, nein! Halt! Stopp! Korrektur! Er kommt seinem Ziel nur etwas näher, er versteht mehr und wird verstanden, die Reise hört nicht auf.
So ein unterhaltsames Feuerwerk mit intellektuellem Tiefgang gelingt selten mit dem ersten Schuss. Vor Alles unter Kontrolle! hat Philippe De Chauveron schon mit Monsieur Claude und seine Töchter gezeigt, wie man aus einem scheinbar unlösbaren Konflikt Humor und Hoffnung schöpft. Wie kostbare Funken, die entstehen, wenn man zwei harte Steine präzise gegeneinander schlägt.