GB/USA 2023 · 105 min. · FSK: ab 12 Regie: Andrew Haigh Drehbuch: Andrew Haigh Kamera: Jamie D. Ramsay Darsteller: Andrew Scott, Paul Mescal, Jamie Bell, Claire Foy, Carter John Grout u.a. |
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Bei den Charakteren von All of Us Strangers fallen Leben und Tod, Furcht und Mitleid in eins. Sie haben Mühe, Gestalt und Souveränität zu wahren, während sie um ihre erschütterten Biographien kreisen. Mal nehmen sie verzerrte Formen in Glasscheiben an, mal duplizieren sie sich in Spiegeln, bis ihre Abbilder in der Ferne entschwinden. Oder sie treten als Wiedergänger und Projektionen einer verlorenen Zeit auf, wie es eben nur im Kino möglich ist. Konsequent, dass Regisseur und Autor Andrew Haigh auch seine Hauptfigur von Beginn an zwischen allen Fronten erscheinen lässt. Als halbtransparente Reflexion im Fensterglas lässt sie den trübseligen Blick über die Londoner Morgendämmerung schweifen.
So abgegriffen derlei visuelle Ideen inzwischen wirken, so passend führen sie in die fantastischen, sinnestrübenden Räume dieses Films. Fantastisch weniger im wertenden Sinne! Das London von All of Us Strangers ist sogar ein überaus trister, unwirklicher Ort. Sein zentraler Schauplatz erscheint als düstere Hochhaus-Festung, in der wenige Vereinsamte hausen und in der Vorkehrungen getroffen werden müssen, damit sich ihre Bewohner nicht lebensmüde aus den Fenstern stürzen. Nein, fantastisch vielmehr in einem zwielichtigen, uneindeutigen Sinne. So, wie es der Literaturwissenschaftler Tzvetan Todorov für die fantastische Literatur beschrieben hatte: als Spannung, die permanent zwischen dem Unheimlichen und Wunderbaren, dem rational Erklärbaren und Übersinnlichen schwankt. All of Us Strangers schöpft daraus seine ganze faszinierende Atmosphäre.
Sowieso hat dieser hinreißende neue Film von Andrew Haigh literarische Wurzeln. Er basiert auf einem Roman des Japaners Taichi Yamada, von dem Haigh nur das Gerüst übernommen hat. Zum Glück! Seine Leinwandadaption übertrifft die etwas spießige literarische Vorlage und erzählt eine facettenreichere Version ihres Stoffes. Das beginnt schon damit, dass Haigh den heterosexuellen Roman zur homosexuellen Romanze umdichtet und somit ganz neue Konflikte und Bedeutungsfelder eröffnet. Adam (Andrew Scott), der Protagonist, ein Drehbuchschreiber, lernt hier Harry (Paul Mescal) kennen, der unbemerkt im selben Haus lebt. Ihrer Liebe stehen allerdings nicht nur Lebenskrisen, Bindungsängste und Selbstzweifel im Wege, sondern zuvorderst deren Ursprünge und Einflüsse, die viel weiter zurückreichen. Altlasten umklammern die beiden, Bündel aus der Kindheit, elterliche Prägungen, die man ein Leben lang mit sich herumschleppt.
All of Us Strangers entgrenzt nun in der psychischen Aufarbeitung die gesamte Großstadt. Bahnfahrten und Wanderungen werden zu zwischenweltlichen Reisen, die Sphären und Zeiten ineinanderfließen lassen. Adam begegnet plötzlich seinen verstorbenen Eltern, die er fortan in der Peripherie der Stadt besuchen geht und die ihn freudig zu Hause begrüßen – nur eben in einer älteren Gestalt. Adam war eigentlich noch ein Kind, als Mutter und Vater bei einem Unfall ums Leben kamen. Wo der Roman von Taichi Yamada ewig grübelt, ob und wie diese Begegnung überhaupt real sein kann, lässt sich All of Us Strangers viel offener und konsequenter auf dieses Gedankenspiel ein. Er fächert das vergangene und doch weiterhin präsente Familiengefüge großflächig auf. Allerlei Erinnerungen und unausgesprochene Empfindungen gilt es zu verhandeln.
Fremdheit, die der Titel vorgibt, entwirft er dabei als dreifaches Spannungsfeld: innerhalb der Familie, zwischen den Liebenden und zwischen ihnen und der Mehrheitsgesellschaft, die sie als abweichend markiert. Die Wiederbegegnung mit den Eltern reißt Wunden vernachlässigter Fürsorge, des Wegsehens, fehlender Empathie auf. Haigh führt den zermürbenden Prozess vor, dem Ideal einer intakten, versöhnten Kernfamilie als Ursprung des eigenen Lebensweges nachzueilen, wissend, dass diese Hatz zugleich das Hier und Jetzt schmerzhaft aus den Angeln hebt. An sich ein konventionelles Narrativ, das seine Brisanz jedoch in der Zuspitzung auf den Umgang mit Homosexualität erfährt. Nicht zuletzt das verspätete Offenbaren selbiger enthüllt hier die Ungleichzeitigkeit von Ressentiments und diskriminierenden Alltagspraktiken. Vergangen sollen sie sein und doch spuken sie noch überall umher. Adams Mutter (Claire Foy) reagiert auf das Outing ihres Sohnes sofort mit Sorge und Furcht vor Aids. Die Katastrophe einer Generation liegt auch Jahrzehnte später in der Luft, obwohl die Zeiten andere sind.
So repetitiv All of Us Strangers anschließend Familientherapie betreibt, so gekonnt wissen Andrew Scott und Paul Mescal sie mit ihrem Schauspiel zu konzentrieren. Anziehung, aber auch charakterliche Verschlossenheit und Unsicherheiten im Selbstverständnis ihrer Figuren mit solcher Chemie und ausgestellter Verletzlichkeit zu verkörpern – Chapeau! Ihr Spiel produziert große, ergreifende Charaktermomente. Nicht nur in den Dialogen, sondern gerade auch in den Sexszenen, in der stimmungsvolle Lichtsetzungen, intime Nahaufnahmen und Kamerabewegungen an Körpern elegante Choreographien ergeben.
Dass diese Erotik vom Untoten und Spukenden überschattet wird, verwundert kaum. Auch innerhalb von Andrew Haighs Filmographie. 45 Years mit Charlotte Rampling, sein bislang wohl populärstes Werk, hat die Richtung bereits vorgegeben. Das Gespenstische, wie es etwa Jacques Derrida und Mark Fisher prominent definierten, hat in heutiger Popkultur weiterhin Hochkonjunktur. Als erzählerisches Mittel löst es feste Kategorien, Wirklichkeiten und Gegensätze auf und kann sie paradox neu zusammenfügen. All of Us Strangers nutzt solche Verfahren klug, um von homosexueller Identität und ihrer Aushandlung zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu erzählen. Von der Beschwörung von Toten abgesehen, die hier so seltsam und nonchalant auf die Lebenden treffen, als wäre es das Normalste der Welt: Wenn das Gespenstische Raum, Zeit und Wahrnehmungen in die unsichere Schwebe versetzt, eignet sich das hervorragend, um die entrückte, aufgesplittete Realität der beiden Hauptfiguren erfahrbar werden zu lassen.
Adam und Harry sind zwei Heimgesuchte, die dazugehören und nicht dazugehören, die sich von Gewaltgeschichten zu lösen versuchen und doch mit ihnen auf ewig verflochten sind. Ihre Sexualität leben sie in einer vergleichsweise liberalen Gegenwart frei aus. Dennoch sind sie von gesellschaftlich aufgebundener, eingesickerter Selbstscham und -entfremdung gezeichnet. Das Coming Out, von dem Harry in der traurigsten Szene dieses Melodrams berichtet, entzieht sich dem Mythos eines glückseligen Befreiungsrituals, sondern wird als endgültige Manifestation der verwehrten Zugehörigkeit geschildert. Die empfundene Distanz und Fremdheit gegenüber der Familie und Gesellschaft wird vollends real, aller oberflächlichen Offenheit zum Trotz. Also führt es in die großstädtische Vereinsamung, die auch eine neue Beziehung und gemeinsame Ausflüge in die grellen Stroboskoplichter der Nachtclubs kaum zu überwinden vermögen.
Andrew Haigh hat insbesondere in seinem grandiosen Weekend schon einmal den Blick für solche marginalisierten Lebensrealitäten geschärft. In All of Us Strangers experimentiert er weiter, verabschiedet er sich ästhetisch von früherem Realismus und scheut nicht den Exzess. Hemmungslos und großaufgenommen wird hier gefühlt, geweint, geliebt und man fühlt gebannt mit. Den Modus des vergeblichen »zu spät«, den die Filmtheoretikerin Linda Williams für das Genre des Melodrams ausmachte, fasst Haigh in höchst intensive Szenen. Schließlich ist seine Männerromanze sowie ihre Auseinandersetzung mit dem Ich und den Familien jederzeit vom (erneuten) Abschied her gedacht. Das, was hätte sein können, ist das, was niemals war und niemals sein wird. All of Us Strangers ist eine Anrufung der Vergangenheit, die Innerstes offenbart, während ihre Adressaten tragisch im Nichts verblassen.
Gerade das Finale mag man leicht als überzogen und unnötig verkitscht abstempeln. Interessant gewählt und im positiven Sinne irritierender als in der Vorlage ist es dennoch. Wenn All of Us Strangers den Song »The Power of Love« und dessen Musikvideo aufgreift, ist das vielleicht entfernter von Frankie Goes To Hollywood, als man zunächst denken könnte. Vielleicht ist Haighs Vision näher an Richard Wagner und einem zeitgenössischen, schwulen »Tristan und Isolde«. Ihre Hinwendung zum All, zum leuchtenden Gestirn und zur ultimativen Überschreitung, da die Wahrnehmung eh kaum noch zwischen Diesseits und Jenseits unterscheiden und kein echtes Glück mehr finden kann, bleibt als letzte Liebesutopie.