Marokko/F/DK/S/NL 2024 · 102 min. · FSK: ab 16 Regie: Nabil Ayouch Drehbuch: Nabil Ayouch, Maryam Touzani Kamera: Virginie Surdej Darsteller: Nisrin Erradi, Jalila Talemsi, Joud Chamihy, El Moustafa Boutankite, Lahcen Razzougui u.a. |
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Die Möglichkeit von Freiheit... | ||
(Foto: IMMERGUTEFILME) |
Nabil Ayouch ist kein Unbekannter. Der in Paris geborene und in Casablanca arbeitende Filmemacher hat seine marokkanische Heimat sehr erfolgreich, aber immer auch sehr kritisch betrachtet. Seit seinem Debüt Mektoub (1997) hat er mit Werken wie Ali Zaoua – Auf den Straßen von Casablanca, Much Loved oder Casablanca Beats zwar einen festen Platz im politisch engagierten internationalen Film etablieren können – seine Filme waren immer wieder Marokkos Beiträge für die Oscars, liefen in Cannes oder Toronto – andrerseits wurde Much Loved (2015), Ayouchs Film über Sexarbeiterinnen in Marrakesch, dann auch in Marokko verboten.
Auch Ayouchs neuer Film Alle lieben Touda, der im letzten Jahr in Cannes Premiere hatte, geht mit der marokkanischen Alltagsrealität und vor allem der Realität, unter der Frauen in Marokko leiden, hart ins Gericht. Über die von Nisrin Erradi überragend verkörperte Sängerin Touda erzählt Ayouch eine Geschichte zwischen Selbstermächtigung und Ausgrenzung: Touda ist auf dem Weg, eine Sheikha zu werden, eine im traditionellen Marokko verwurzelte fluide Institution zwischen Sängerin, Poetin und Rebellin. Gleich zu Anfang zeigt Ayouch den hohen Preis, den Frauen für diesen Weg zahlen müssen. Eine überragende sängerische Performance von Touda mündet in eine Gruppenvergewaltigung, die Touda auf dem Nachhauseweg zu ihrem hörbehinderten Kind so vermeintlich souverän »wegsteckt«, dass der Zuschauer nur fassungslos zurückbleibt.
In dieser Szene zeigt Ayouch den schmalen Grat, auf dem sich nicht nur seine Heldin in 100 intensiven Minuten bewegt, sondern auf dem sich emanzipierte Frauen grundsätzlich in Marokko bewegen. Zwar hat Touda tatsächlich die Möglichkeiten einer modernen Gesellschaft und einer partiellen feministischen Befreiung, doch ist jeder lichte Moment der Freiheit mit einem ebenso düsteren Moment von Gefangennahme verknüpft bzw. einem Preis, der so hoch ist, dass man sich immer wieder fragt, ob es das wert ist. Gleichzeitig macht Ayouch jedoch auch deutlich, dass für eine in die Moderne schreitende islamische Gesellschaft – nicht anders als früher die westlichen Gesellschaften – diese Opfer tatsächlich ein realer Weg sind, um letztendlich egalitäre Strukturen zu etablieren.
Besonders eindringlich zeigt Ayouch dies in einer finalen 18-minütigen One-Take-Szene, die vom Straßenasphalt bis zum Hochhauspanorama Casablancas führt und gleichermaßen die Chancen wie die Risiken von Toudas Weg verkörpert und die zeigt, dass auch Bildung eine hässliche Fratze hat und die reicheren gesellschaftlichen Schichten nicht unbedingt »moderner« sind als der ungebildete Bodensatz der Gesellschaft, von dem Ayouch in eindringlichen Alltagsszenen genauso erzählt: etwa die Szenen mit dem ehebrechenden Polizisten, in dem nicht nur eine fatale Doppelmoral fast nebensächlich seziert wird, sondern die immer wieder klugen, aber auch bitteren Strategien, die Touda anwenden muss, um zu überleben.
Dass diese Alltagsvignetten ebenso hyperreal wirken wie die Auftritte von Touda in Clubs und auf privaten Feiern ist allerdings nicht nur Ayouchs souveräner Regie und Ayouchs dichtem Drehbuch zu verdanken, sondern auch seiner Hauptdarstellerin Nisrin Erradi, die für Touda ein Jahr lang mit echten Sheikhas trainiert und ihren Alltagsgeschichten gelauscht hat.