Großbritannien 2015 · 95 min. · FSK: ab 0 Regie: Andrew Haigh Drehbuch: Andrew Haigh Kamera: Lol Crawley Darsteller: Charlotte Rampling, Tom Courtenay, Geraldine James, Dolly Wells, David Sibley u.a. |
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Film der Blicke und des Wegsehens |
Mit Weekend schuf der britische Regisseur Andrew Haigh einen intimen Film über den möglichen Beginn einer Liebe zwischen zwei Männern mit unterschiedlichen Lebenskonzepten. Der ruhige Russell (Tom Cullen), der sich eine Beziehung wünscht und der scheinbar so abgebrühte Glen (Chris New) treffen nur für ein einziges Wochenende aufeinander. Doch die gemeinsam verlebten Stunden sollen sie prägen und verändern, ihre Sichtweisen überdenken und neu arrangieren lassen. Erstmalige Begegnungen bergen die Chance, sich als weiße unbeschriebene Leinwand neu präsentieren und erfinden zu können – ein selbst skizziertes Abbild der eigenen Identität kann kreiert und darauf folgend von der Bekanntschaft aufgenommen, gespiegelt und verarbeitet werden. Nach diesem klar auf den Zeitraum eines Wochenendes ausgerichteten, in seiner Personen- und Beziehungszeichnung so wahrhaftig erscheinenden Film aus dem Queer-Cinema-Bereich, wendet sich Regisseur Andrew Haigh in seinem zweiten Spielfilm einer weiteren sensiblen Beziehungsstudie zu, die auf den ersten Blick allerdings weit entfernt von seinem Debütfilm erscheint: Geht es in 45 Years doch um ein heterosexuelles Paar, das bereits seit Jahrzehnten verheiratet ist und dessen glückliche Beziehung durch einen unvermutet auftauchenden Geist der Vergangenheit auf einmal schmerzhafte Risse bekommt. Dabei fragen sich die Protagonisten beider Filme, ob sie sich der Liebe ihres Gegenübers sicher sein können: Denn der Partner bleibt auch nach 45 Jahren ein undurchschaubarer Seelenverwandter.
Basierend auf der Kurzgeschichte »In Another Country« von David Constantine, die Haigh mit Sensibilität in 45 Years weiterspinnt und sich ausschließlich aus Kates Perspektive entwickeln lässt, gelingt dem Weekend-Regisseur das Kunststück ein feinsinniges Beziehungspsychogramm zu schaffen, dem ein weiteres Mal eine aufwühlende Wahrhaftigkeit und Intimität innewohnt. Subtil erzählt, mit tiefgreifendem Interesse an kleinen Details und leisen Zwischentönen, huldigt 45 Years dabei der Schauspielkunst seiner beiden Hauptdarsteller Charlotte Rampling und Tom Courtenay, welche die Beziehungsstudie mit ihren bedachten Gesten, feinen Blicken und gewählten sprachlichen Nuancen zu etwas ganz Besonderem machen.
Die Ehe von Kate und Geoff Mercer scheint durch gegenseitiges Verständnis definiert zu sein. Das Paar, das schon einige kritische Situationen in ihrer bereits 45 Jahre währenden Ehe durchlebt hat, ist aufeinander eingespielt und geht vertraut und liebevoll miteinander um. Doch eine Woche, bevor das Ehejubiläum, für das noch einiges organisiert werden muss, groß gefeiert werden soll, trifft im Hause Mercer ein Brief ein, der den bestürzten Geoff über das Auffinden seiner Jugendfreundin Katya unterrichtet, die vor 50 Jahren in einen Gletscherspalt fiel und seitdem als verschwunden galt. Kate wusste bisher nur wenig von ihrer Vorgängerin und ist daher erstaunt darüber, wie nah ihrem Mann das Auffinden der Frauenleiche zu gehen scheint. Dann erfährt sie von Geoff immer mehr von Katya, die sich als seine erste große Liebe herausstellt. Kate versucht mit ihrer erwachenden Eifersucht und dem Gefühl hintergangen worden zu sein umzugehen. Doch ihre Beziehung zu Geoff erfährt durch den Brief einen gefährlichen Riss, und lässt schmerzliche Fragen und Zweifel in ihr aufflackern. Warum hat Geoff ihr über all die Jahre die intensive Beziehung mit Katya verschwiegen? Wie stark hat das tragische Ende dieser Frau ihren Mann und damit auch ihre Ehe beeinflusst? Hätte sich Geoff je für sie entschieden, wenn er mit Katya, wie geplant, in Norditalien angekommen wäre?
Die Gewöhnlichkeit der gelebten Beziehungsjahre trifft auf einmal mit Wucht auf die Erinnerungen der von Leidenschaft geprägten Liebesbeziehung in Geoffs Sturm und Drangphase. Mit langen Einstellungen, gezielten Kamerabewegungen und Schärfeverlagerungen lässt Kameramann Lol Crawley dabei auch auf visueller Ebene die liebevolle Nähe des Paares und ihre langsame Entfremdung spürbar werden. Die flachen Landschaften Norfolks, in denen das kleine Haus der Mercers steht, unterstreichen dabei den gleichförmig- unaufgeregten Beziehungsalltag des Paares, während die emotional aufgeladenen Echos der Vergangenheit mit den dramatischen Schweizer Bergpanoramen gedanklich in Verbindung gebracht werden. Der freigelegte Frauenkörper aus dem Gletschereis, der die Gefühlsgewissheiten auszuhöhlen beginnt, soll sich als dunkler Schatten erweisen, welcher die 45-jährige Beziehung beständig unerkannt begleitet und mitbestimmt hat. In all den Jahrzehnten ist dieser Schatten dabei beständig gewachsen, hat an verklärenden Konturen gewonnen und soll nach den Jahren der Geheimhaltung bei dessen Offenbarung nun eine schwerwiegende emotionale Belastung für eine so sicher fundamentiert erscheinende Beziehung darstellen. Denn jederzeit können einschneidende Erlebnisse oder Erkenntnisse die sorgfältig entworfene Identitätsleinwand des Gegenüber in ein völlig anderes Bedeutungslicht rücken.
45 Years ist ein ruhiges, ergreifend-intimes Beziehungsdrama, das auf subtile Weise von der Macht der Erinnerungen und der Zweifel kündet und sich zu einer einnehmend-nuancierten Schilderung der so simplen, wie universalen Erkenntnis entwickelt, dass die Lebensentwürfe und Träume des Partners nie völlig den eigenen entsprechen können. Jahre und Jahrzehnte mögen vergehen und die einvernehmliche Harmonie mag noch so ausgeprägt sein, letztlich bleibt der Partner ein (überraschend) unergründlicher Seelenverwandter.