Großbritannien 2006 · 88 min. · FSK: ab 6 Regie: Ben Hopkins, Ekber Kutlu Kamera: Gary Clarke Schnitt: Marco van Welzen Darsteller: Arif Kutlu, Alpaslan Kutlu, Süleyman Atanìsev, Ìsmaìl Atìlgan, Sereban Aslan u.a. |
||
Reise durch die Absurdität der politischen Verhältnisse |
So sperrig oder gewollt skurril der Filmtitel auch wirken mag: Dies ist eine der besten und unterhaltsamsten Dokumentationen der letzten Jahre! So flott wie Fahrenheit 9/11, so gefühlvoll wie Rhythm is it! und klüger, als beide zusammen, erzählt 37 Uses for a Dead Sheep (37 Verwendungsweisen für ein totes Schaf) die überaus merkwürdige Geschichte der Pamir Kirgisen.
Dieses Volk lebte Ende des 19. Jahrhunderts im Grenzland zwischen Russland und China. Als Nomaden zogen sie in dünner Luft durch das Hochgebirge, kümmerten sich um ihre Schafe und ihre Yaks, jene exotischen riesigen, vollständig behaarten asiatischen Rinder, die rosafarbene, fette Milch geben und geschwungene Hörner haben. Dabei bewahrten die Pamir Tartaren ihren überlieferten Lebensstil, zu dem nicht zuletzt die vollständige Vernutzung des Nutztiers Schaf gehört – dies sind die »37 Verwendungsweisen«, die den Film strukturieren.
Nach der Oktoberrevolution 1917 flohen sie vor der Eingliederung ins Sowjetsystem auf chinesisches Gebiet, doch eine Generation später griff auch hier Maos Agrarreform, die Nomadentum nicht erlaubte. Also floh man nach Afghanistan, bevor 1980 auch hier die Sowjets einmarschierten. Die vorletzte Station dieser Odyssee, bei der die paar tausend Pamir-Kirgisen immer ihre rund 20.000 Tiere mitführten, war die schlimmste: Ein Flüchtlingslager in Pakistan, wo zwei Drittel des Viehbestands starben. Das Volk schrieb an über 140 Staaten und fragte nach günstigen Aufnahmebedingungen – zwei sagten zu: US-Bundesstaat Alaska und die Türkei, in deren Osten die Kirgisen bis heute leben.
Der 1969 in Hongkong geborene Engländer Ben Hopkins fand Zugang zu den Tartaren. In seiner wunderbaren Dokumentation, die in Berlin den Caligari-Preis gewann, erzählen sie selbst ihre Geschichte in nachgestellten Szenen im Look alten Filmmaterials. Dazu mischt Hopkins abwechslungsreich verschiedene Film-Stile. Weil der Regisseur kein trockener Doku-Archivar ist, der seine Fakten abhakt, sondern ein liebevoller, neugieriger und mitdenkender Filmemacher, ist dies ein humaner Film geworden, der als soziokulturelle und politische Reflexion funktioniert, ohne je dröge zu werden. Doch alles Lob kann dem einmaligen Charme dieses Films doch nur unzureichend gerecht werden.
Der Zuschauer reist so durch die Absurdität der politischen Verhältnisse des 20. Jahrhunderts, erfährt viel über die Lebensweise dieser untergehenden Kultur, über 37 Dinge, die man mit einem geschlachteten Schaf anstellen kann – aber auch über die Kirgisen-Enkel, für die die Vertreibung der Vorfahren offenbar kein Trauma bedeutet: Es sind junge moderne Türken mit mongolisch-anmutenden Gesichtern, die in Istanbul als Mediziner Karriere machen, oder davon träumen, bald ein Internet-Café zu eröffnen. Von Pamir, dem Land ihrer Großeltern wollen sie nichts wissen. Und die Lebensweise ihrer Väter und Mütter – da ergeht es den Kirgisen nicht anders als den meisten bayerischen Bauern – wollen sie auf keinen Fall übernehmen.