22 Bahnen

Deutschland 2025 · 102 min. · FSK: ab 12
Regie: Mia Maariel Meyer
Drehbuch:
Kamera: Tim Kuhn, Alex Förderer
Darsteller: Luna Wendler, Zoë Baier, Jannis Niewöhner, Laura Tonke, Zoe Fürmann u.a.
22 Bahnen
Vielleicht das beste Rezept gegen Traurigkeit: Die Liebe...
(Foto: Constantin)

Schema F

Die Verfilmung von Caroline Wahls Debüt- und Bestsellerroman ist eine gute Verfilmung der Vorlage mit zwei großartigen Hauptdarstellerinnen. Leider reicht das nicht.

Dürfen Lite­ra­tur­ver­fil­mungen mehr wagen als die Vorlage? Auf jeden Fall! Wer sich etwa an Stanley Kubricks Verfil­mung von William Makepeace Thackerays groß­ar­tigem Bildungs­roman Barry Lyndon erinnert, der wird sich auch erinnern, wie nah und gleich­zeitig fern man dem Original sein kann, um aus einer fantas­ti­schen lite­ra­ri­schen Vorlage einen noch besseren Film zu machen.

Die deutsche Regis­seurin Mia Maariel Meyer, die zuletzt für die Netflix Serie Trans­at­lantic Regie geführt hat und davor mit ihrem Film Die Saat auf der Berlinale 2021 ihre Premiere feiern durfte, hat sich bei der Verfil­mung von Caroline Wahls Debüt dafür entschieden, so nah wie möglich an der Vorlage zu bleiben und wenig Neues zu wagen.

Das ist ange­sichts des Romans, der für Wahl ein großer Erfolg wurde, sicher­lich eine vers­tänd­liche Entschei­dung, denn die Fans von Wahl bevor­zugen sicher­lich, »ihre« Geschichte wieder­zu­er­kennen; eine Geschichte, die aus der Ich-Perspek­tive von der Studentin Tilda erzählt wird und vom Alltags­trott in einem dysfunk­tio­nalen Fami­li­en­korpus handelt. Tilda muss sich nicht nur auf ihr anspruchs­volles Mathe­ma­tik­stu­dium konzen­trieren, sondern auch um die elfjäh­rige Halb­schwester Ida kümmern, da die Mutter alko­hol­krank ist und die jewei­ligen Väter die Familie verlassen haben. Und dann lungert im Hinter­grund noch eine tragische Todes­fahrt, durch die Tilda trau­ma­ti­siert wurde, ein Trauma, das ausge­rechnet durch den Bruder des Verun­glückten reak­ti­viert wird, der plötzlich in Tildas Alltag eintaucht. Wobei das Eintau­chen genauso gemeint ist. Denn Viktor taucht plötzlich dort auf, wo Tilda am liebsten ist. Im Freibad, wo sie so gern ihre 22 Bahnen schwimmt und wenn schlechtes Wetter ist, auch mit ihrer Schwester, die wegen eines kleinen sozio­phoben Ticks nur bei Regen schwimmen gehen mag.

Dieser Hand­lungs­rahmen wird von Mia Maariel Meyer exakt so filmisch umgesetzt. Nur ein paar uner­heb­liche Hand­lungs­stränge fehlen, wie der mit dem »Arschloch«, der ganz plötzlich »seit den Pfann­ku­chen am Dienstag jeden Abend« mit der Mutter abhängt. Sogar die Dialoge, die bei Wahl fast schon uner­träg­lich statisch, aber man könnte auch dreh­buch­freund­lich sagen, angelegt sind, wurden von Meyer fast wort­wört­lich über­nommen:
»Marlene hält mit der Zube­rei­tung der Bolognese inne und setzt sich zu mir.
Marlene: Tilda, das geht nicht.
Ich: Marlene, muss das jetzt sein?
Marlene: Nach dem Studium ziehst du weg, hast du gesagt.
Ich: Ich habe gesagt, viel­leicht ziehe ich nach dem Studium weg. Ich wusste nicht, dass es mit Mama dann so schlimm ist.
Marlene: So schlimm?
Ich: Es wird auf jeden Fall nicht besser.«

Das dürfte all jene freuen, die Wahls Roman gelungen fanden, von denen es auch in der lite­ra­ri­schen Hoch­kritik einige gab. Rezen­senten wie Elke Heiden­reich, Christine Wester­mann oder Denis Scheck bestä­tigten Wahl, einen ergrei­fenden Schreib­stil gefunden zu haben, bei dem die Leser das Schicksal der beiden Schwes­tern authen­tisch wahr­nehmen können, ohne dass die Autorin dabei allzu detail­liert auf die Gründe für die Alko­hol­sucht der Mutter eingehen musste.

Aber nicht nur die Dialoge, ganze Szenen wurden liebevoll (oder fanta­sielos) ins Filmische über­tragen, wie etwa: »›Geil‹, sagt Marlene und bleibt stehen, als wir wie früher mit einer Wein­fla­sche übers Feld zum Grund­stück laufen und der orange, dunkelrot, rosa, hellblaue Himmel alles gibt, um uns zu beein­dru­cken. Marlene legt sich auf die Wiese am Feld­weg­rand, ich lasse mich neben sie fallen, sie nimmt meine Hand, drückt sie, ich erwidere den Druck, und wir schauen uns das Farben­spiel an.«

Dabei hilft natürlich, dass Meyer die beiden Schwes­tern mit Luna Wedler als Tilda und Zoë Baier als Ida kongenial besetzen konnte. Laura Tonke als Mutter spielt genau die Mutter, die sie inzwi­schen in zahl­rei­chen Filmen aller Couleur als Mutter perfek­tio­niert hat, und Jannis Niewöhner spielt die unnahbare Maske Viktor, die dann aber doch einen weichen Kern hat.

Und so machen alle das, was Wahls Roman hergibt.

Darüber hinaus ist wenig zu berichten, außer dem Wetter, das mal gut und mal schlecht ist, so wie das Leben von Wahls Held:innen, das letzt­end­lich so vorher­sehbar ist wie Tildas Prognosen in ihrem Job als Kassie­rerin in einem Super­markt:
»Rosé-Wein, Rosé-Wein, Rosé-Wein, Werther’s-Kara­mell­bon­bons, Malboro Gold XL, Spaghetti, Hack­fleisch, Malboro Gold XL, Toma­ten­mark. Marlene, rate und hoffe ich, sage ›26,30 Euro‹, schaue hoch und mustere meine beste Freundin.«

Das Drama, das hier insze­niert wird, dürfte aller­dings jene Zuschauer, die Wahl nicht gelesen haben, eher banal erscheinen und viel­leicht sogar lang­weilen, denn so statisch der Roman ist, so statisch ist dieser Film angelegt und insze­niert, weshalb er dann auch gute Quoten bei der TV-Auskopp­lung einfahren dürfte.

Hätte Meyer mehr gewagt und Wahls Roman auf ein paar Uneben­heiten entführt, ihn seiner Mogel­pa­ckung entrissen, weg von den immer wieder kaum zu ertra­genden Klischees und dem immer wieder kaum zu ertra­genden filmi­schen Flirt mit der Alko­hol­sucht, weg von den hölzernen Dialogen und sche­ren­schnitt­ar­tigen Figu­ren­kon­stel­la­tionen, hätte Meyer nur ein wenig mehr Kubrick gewagt, den Kubrick, der sich Barry Lyndon völlig verein­nahmt hat, dann wäre sicher­lich auch für jene etwas drin gewesen, die Wahl nicht gelesen haben oder die Wahl schon immer über­schätzt fanden.

Doch so haben wir es fast schon mit einem Fanzine-Produkt zu tun, an dem Fans ihre Freude haben werden und das den Grund­stein dafür legen wird, dass auch die ebenso erfolg­reiche Fort­set­zung von Wahls Roman (Wind­s­tärke 17) und auch ihr gerade neu erschie­nener Roman die Assis­tentin verfilmt werden. Das hat zwar etwas vom bieder-verstaubten Touch der ständigen Verfil­mungen von Enid Blyton-Klas­si­kern wie Fünf Freunde und das Tal der Dino­sau­rier, aber beschert dem Kino die Zuschauer, die es braucht, um zu überleben.

Und viel­leicht schafft es Wahl ja über diesen Umweg dann doch auf eine der nächsten Longlists des deutschen Buch­preises, auf die sie schon letztes Jahr so gern gekommen wäre, wie sie in einem Instagram-Posting enttäuscht geschrieben hatte.