120 BPM

120 battements par minute

Frankreich 2017 · 143 min. · FSK: ab 16
Regie: Robin Campillo
Drehbuch:
Kamera: Jeanne Lapoirie
Darsteller: Nahuel Pérez Biscayart, Arnaud Valois, Adèle Haenel, Antoine Reinartz, Félix Maritaud u.a.
Gay & proud: die neunziger Jahre haben viel bewegt

Der wilde Schlag der Herzen

Politik mit dem Körper machen, den Körper politisch verstehen lernen und Worte Hand­lungen werden lassen: in der Perfor­mance gibt es keine Reprä­sen­ta­tion, nur Unmit­tel­bar­keit. Das macht sie seit den 1968ern so wirkungs­voll für jedweden poli­ti­schen Kampf. »Act up«, eine akti­vis­ti­sche und stre­cken­weise auch militante Gruppe im Kampf gegen Aids, hatte sich Ende der 1980er Jahre in den USA formiert und wurde zu Beginn der 1990er Jahre auch im von HIV starkt betrof­fenen Frank­reich aktiv. Ihre Grammatik des Kampfes war ein Wech­sel­spiel aus Reden und Handeln, das stets ins Perfor­ma­tive überging. Sit-ins und Die-ins waren ihr Vokabular, Blut­beutel und Kondome ihr Inventar. Ziel war es, Aufklä­rung zu schaffen, um eine drohende Epidemie abzu­wenden.

Auch Regisseur Robin Campillo war Teil der Pariser Act-up-Bewegung, der er sich unmit­telbar nach seinem Studium anschloss. Sein Film 120 BPM (»beats per minute«) handelt von dieser bewegten Zeit. In ihm lässt er noch einmal die Atmo­s­phäre der Debatten von damals wirken, die aufge­heizte Stimmung, den Druck, der aus der Lebens­be­dro­hung durch den Virus entstand. Hier flackert noch einmal eine ganz andere Art der Debat­ten­kultur als die heutige auf, wenn sich jeder nur in kurzen Inter­ven­tionen äußern darf, Zustim­mung durch Finger­schnipsen, Ablehnung durch einen zischenden Laut bekundet wird. Es geht um das Für und Wider von geplanten Aktionen, in denen man den größten Feind angriff: die Pharma-Lobby, die kein Interesse an phar­ma­zeu­ti­scher Forschung und einer Entwick­lung von wirksamen Medi­ka­menten hatte. Schließ­lich galt Aids anfäng­lich als Krankheit der Homo­se­xu­ellen und Drogen­ab­hän­gigen und wurde moralisch als »Strafe« für den gelebten Exzess verur­teilt.

Campillo, der bislang vor allem als Dreh­buch­autor bekannt wurde, schrieb 2008 Laurent Cantets konzen­triertes Kammer­spiel Die Klasse. Es war ein Aufklä­rungs­stück in Worten, eine mitreißende Sprech-Perfor­mance, die beim Entstehen der Gedanken zusehen ließ. Auch 120 BPM funk­tio­niert in weiten Teilen als Kammer­spiel und wird von einer Atmo­s­phäre der Aufklä­rung getragen, ist in seiner Eloquenz und Vehemenz auch sehr fran­zö­sisch. Im Hörsaal, in dem die Meetings der immer zahl­rei­cher werdenden Akti­visten statt­finden, wird heftig disku­tiert, aber nicht um des Redens, sondern um des Handelns Willen.

Dabei wird deutlich, wie der Körper damals – ähnlich wie 1968 – aufhörte, privat zu sein, und wie der infi­zierte Körper im Enga­ge­ment politisch wurde. Biogra­phien ordneten sich dem Anliegen unter, das Indi­vi­duum ging in der Bewegung auf. »Ich habe dich nie gefragt, was du sonst so machst im Leben«, fragt während einer Versamm­lung einmal Nathan den agilen Sean. »Da bin ich HIV-positiv, das ist alles«, sagt er. Leben ist für ihn der Kampf ums Überleben, gegen den Tod, und dieser Kampf kann privat und allein nicht geführt werden, nur im politisch-akti­vis­ti­schen Enga­ge­ment, um die Medien wach­zu­rüt­teln und der Pharma-Lobby einzu­heizen. Die Inti­mitäten, die folgen, die den Plot neben den Debatten ausmachen, spielen sich so auch immer unter dem Zeichen des über­ge­ord­neten Themas ab. Man kann sagen: der Plot ist insgesamt ganz und gar zugerüstet auf das Anliegen. Was woanders jedoch nervt, zeigt sich hier als wohl­tu­ende Anti-Romantik und Konzen­tra­tion auf eine Mechanik des Wider­stands.

So ist auch die Liebes­ge­schichte, die sich zwischen Nathan und Sean ergibt, im Grunde genommen eine weitere Veran­schau­li­chung des tragi­schen und des unge­rechten Tods. Wo durch Sex Anste­ckung droht, wird Sex proble­ma­tisch, wenn der eine leben, der andere aber sterben wird, kann man sich nur bedingt auf den anderen einlassen. Das ungleiche Paar ist eine Verei­ni­gung der Gegen­sätze, auch, um eine selbst­lose Soli­da­ri­sie­rung zu zeigen: Nathan ist nicht infiziert, er ist gekommen ist, um zu helfen. Gespielt wird er von Arnaud Valois, der bereits bei André Téchinés La fille du RER zu sehen war. Sean ist ein charis­ma­ti­scher Iden­ti­fi­ka­ti­ons­träger, ganz im ikono­gra­phi­schen Zentrum des Films, und dient als Symbol für die Bewegung, für das Auflehnen gegen das drama­ti­sche Sterben. Er wird leiden­schaft­lich verkör­pert vom argen­ti­ni­schen Schau­spieler Nahuel Pérez Biscayart, der sich aufgrund seiner vergan­genen Filme auch als Hoff­nungs­träger für ein neues, leben­diges Kino eignet: Mitge­wirkt hat er in den letzten Jahren u.a. beim Argen­ti­nier Eduardo Williams, der letztes Jahr mit The Human Surge einen regel­rechten Hype in der Festi­val­com­mu­nity ausgelöst hat, außerdem in Maria Schraders Vor der Morgen­röte und in Nele Wohlatz' The Perfect Future. Daneben sei noch Adèle Haenel erwähnt, die eine lesbische Akti­vistin spielt. Sie hat zuletzt u.a. bei Arnaud des Pallières Orpheline mitge­wirkt, auf dessen Kinostart man in Deutsch­land vergeb­lich wartet.

120 BPM lässt immer wieder auch den titel­ge­benden Beat ertönen, als Tech­no­musik, die Anfang der 1990er ihren Durch­bruch hatte. Die Reinsze­nie­rung ausge­las­sener Gay Prides erinnert daran, dass es noch etwas anderes gab als die Verzweif­lung, was einen damals auf die Straße gehen ließ. Alles war gesättigt von unbän­diger Vitalität, so erzählt uns der Film im Eindruck des herauf­zie­henden epide­mi­schen Tods.

In der Insze­nie­rung vermeidet es Campillo, nur ein Erin­ne­rungs- oder gar senti­men­tales Rührstück zu zeigen. Auch hier rettet ihn das Perfor­ma­tive, das mit Kraft die Gegen­wär­tig­keit, die Präsenz der Schau­spieler-Körper oder des mit Worten und Taten ausge­tra­genen Diskurses auf die Leinwand wirft. In den Bildern steckt so auch eine mitreißende Soli­da­ri­sie­rung mit der heutigen fran­zö­si­schen Jugend und ihrer neu erwachten poli­ti­schen Protest­kraft, die sich als »Nuit debout« gegen die Jugend­ar­beits­lo­sig­keit und unter dem Eindruck von »Bataclan« und »Charlie Hebdo« wieder auf den Straßen von Paris mani­fes­tiert.

Wenn man ums Überleben redet...

Die Lust am Streit ist jung und sie kann regel­recht zum Lebens­mittel werden. Am Anfang wird sie in diesem Film zele­briert: Lustvoll und anar­chis­tisch, bevor die Erzählung ihre Struktur erhält. Haupt­dar­steller ist hier die Gruppe.
Eine Gruppe von Menschen zwischen poli­ti­schen Slogans, popkul­tu­rellem Lebens­ge­fühl und der Wirk­lich­keit des konkreten Einzel­falls.
Ein paar Figuren stechen früh raus: Die von Adèle Haenel gespielte Sophie, die offenbar eine Führungs­rolle in der Gruppe einnimmt, sowie der quirlige, HIV-positive Sean (gespielt von Nahuel Pérez Biscayart) und der stoische Nathan (Arnaud Valois), die ein Liebes­paar sind.

Erzählt wird die Geschichte des fran­zö­si­schen Zweigs der »Act Up«-Akti­visten, die in den 80er- und 90er-Jahren mit provo­ka­tiven und origi­nellen Aktionen enorm viel für ein anderes Bewusst­sein gegenüber Aids getan haben. Der Film des als Dreh­buch­autor für Laurent Cantet (u.a. bei Die Klasse und Foxfire) bekannt gewor­denen Robin Campillo ist im Stil eines Doku­dramas beein­dru­ckend flott insze­niert, und konzen­triert sich vor allem auf die Dynamik innerhalb der Gruppe. Der opti­mis­ti­sche poli­ti­sche Akti­vismus wirkt aus heutiger Sicht so benei­dens­wert, wie fast schon aus der Zeit gefallen. Um so zeit­ge­mäßer ist dafür die extreme poli­ti­sche Korrekt­heit, die innerhalb der Gruppe herrscht. Das Übermaß an Vorschriften, Regeln und Beschrän­kungen, steht in krassem Wider­spruch zum Freiheits- und Selbst­be­stim­mungs­an­spruch von »Act Up«.

So wird geregelt, wer wann reden darf, deut­li­cher Applaus für einen Beitrag ist ebenso verboten, wie Miss­fal­len­säuße­rungen. Geraucht werden darf immerhin, aber nur draußen auf dem Gang, dort darf aber wiederum, nicht kommen­tiert werden, worüber drinnen debat­tiert wird: »Alle Kommen­tare müssen hier gemacht werden.« Geredet wird in diesem Film trotzdem sehr viel.

So schwirren die Gedanken, fliegen Fake-Blut-Beutel als Waffe des Ekel-Protests gegen Wände und Glas­scheiben, und so wuselt die Kamera über junge, oft schon totge­weihte Gesichter. Alle Aids-Kranken sind in diesem Film gute Menschen, enorm engagiert und nur selten verzwei­felt. Neid gibt es gar nicht, Eitelkeit kaum, und als einer von ihnen stirbt – kein Aids-Film kommt ohne solche Ster­be­szenen aus, auch wenn sie längst zum Klischee geronnen sind – braucht 120 BPM eine Drei­vier­tel­stunde, um zu erzählen, wie seine Asche schließ­lich irgendwo in der Gegend verstreut wird.
Aber: Kann man etwas gegen Filme sagen, die so ein »wichtiges« Thema haben, so gute Menschen zeigen?

Vermut­lich tut man gut daran, 120 BPM als poli­ti­sches Fantasy zu verstehen. Zele­briert wird hier, sehr fran­zö­sisch, die Lust am Streit, am Diskurs, formu­liert wird eine Anleitung zum Unge­horsam und zum Wider­stand.
Aber dann doch nur halbgar.
Vor Gewalt scheut die Gruppe zwar nicht völlig zurück, aber diese darf sich nicht auszahlen. Das wäre ja wiederum politisch unkorrekt – nunmehr nach heutigen Maßstäben.

Mit der Zeit treten ein paar Figuren, vor allem zwei, immer stärker aus dem Grup­pen­bild heraus, mit der Zeit treten vor allem die Frauen dahinter sehr stark zurück und die Story wird gegen Ende immer redun­danter, dünner, konven­tio­neller – so bleibt alles ein eupho­ri­sie­rendes, und immerhin bewun­derns­wert souverän insze­niertes Märchen aus uralten Zeiten.