IS/DK/N/F 2000 · 88 min. · FSK: ab 16 Regie: Baltasar Kormákur Drehbuch: Baltasar Kormákur Kamera: Peter Steuger Darsteller: Hilmir Snær Guðnason, Victoria Abril, Hanna María Karlsdóttir, Baltasar Kormákur u.a. |
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Mutters Liebling |
Im Sommer 2002 war in unseren Kinos Tanguy – Der Nesthocker zu sehen, der hochintelligente, erfolgreiche und kultivierte Sproß eines Pariser Ehepaars, der seine Eltern mit Anhänglichkeit und bedingungsloser Liebe zum Äußersten treibt.
Aus einem ganz anderen Holz ist Hlynur aus dem Film 101 Reykjavik geschnitzt. Er sitzt zwar auch noch mit 30 Jahren im
Haus seiner Mutter und weigert sich standhaft selbständig zu werden, doch im Gegensatz zu Tanguy ist er nicht besonders clever, will von Arbeit absolut nichts wissen und seine kulturellen Interessen erschöpfen sich in Clubbesuchen und Pornos.
Da in diesem internationalen Vergleich der Nesthocker der isländische Beitrag bedeutend schwärzer, abgründiger und zynischer ausfällt, wird einem einmal mehr klar, dass man sich vom Klischee der freundlich friedlichen Insel im Norden mit
Elfen und Geysiren endgültig verabschieden muss.
Bereits seit Jahren kratzt der Regisseur Fridrik Thor Fridriksson am sorglosen Image Islands, wie zum Beispiel in seinem letztjährigen Engel des Universums, der vom tragischen Weg eines jungen Mannes in und durch die Psychiatrie erzählt. Als Schauspieler war an diesem Film auch Baltasar Kormakur, der nun mit 101 Reykjavik sein Regiedebüt gibt, beteiligt und
unverkennbar ist die geistige Verwandtschaft, die zwischen den beiden Regisseuren besteht.
Wie bei Fridriksson gibt es auch in 101 Reykjavik diese enorme Diskrepanz zwischen den wunderschönen und ungewöhnlichen Kamerabildern und der oft verstörenden und trostlosen Geschichte, die sie erzählen.
Es ist schwer zu verstehen, warum 101 Reykjavik als Komödie beworben wird, da eigentlich nur die ersten Minuten so etwas wie offensichtliche Komik (die noch dazu ziemlich albern ist) erkennen lassen, während es im Weiteren kaum mehr etwas zu Lachen gibt. Der Film gleicht hier seiner Hauptfigur Hlynur, der zwar immer wieder versucht Witze oder launische Kommentare abzuliefern, doch seine Bemerkungen sind nie wirklich lustig, sondern sind oft nur plump und
beleidigend. Hält man dies anfänglich noch für eine Schwäche des Drehbuchs, welches es scheinbar nicht schafft, witzige Dialoge zu liefern, so wird einem bald klar, dass Hlynurs Humorlosigkeit absolut beabsichtigt ist. Er ist einfach nicht komisch. So etwas kommt vor.
Er ist faul, teilnahmslos, oberflächlich und findet nichts Schlechtes daran, Kindern das Rauchen beizubringen oder seiner Freundin an Weihnachten die Tür vor der Nase zuzuschlagen. So ein Mensch ist auch im echten
Leben meist nicht lustig, weshalb der Regisseur Kormakur ganz bewußt mit dem Klischee vom intelligent zynischen Müßiggänger bricht.
Das 101 Reykjavik manchmal trotzdem wie eine Komödie wirkt, liegt wohl an den skurrilen Szenen, Landschaften und Figuren, die den Film bestimmen. Auch diese Qualität teilt Kormakur mit Fridriksson. Pizzaboten werden mit Silvesterraketen beschossen, ein silberner Weihnachtsbaum schreit blechern »Merry Christmas!«, ein sonderbarer Nachbar nimmt die Welt nur durch sein Fernglas wahr....
Möglicherweise ist es auch die Handlung, die manchen dazu veranlaßt, 101 Reykjavik allzu leichtfertig ins Komödienfach zu stellen oder ihm Parallelen zu Pedro Almodovar anzudichten (eine wirkliche Verbindung besteht hier eigentlich nur durch die Schauspielerin Victoria Abril). Doch die Geschichte vom Muttersöhnchen, der sich in Lola (V. Abril), die spanische Freundin seiner Mutter verliebt und dessen Welt zusammenbricht, als sich seine Mutter und Lola
als lesbisches Paar outen (die Mutter nimmt ihm die Freundin weg und umgekehrt), ist bei genauer Betrachtung keineswegs so lustig und amourös wie es klingt, sondern steckt voller tragischer Themen bis hin zum Inzest.
Als Hlynur von seiner früheren Freundin auch noch erfährt, dass sie von ihm schwanger ist und er aus Wut über das Baby, das Lola mit seiner Mutter großziehen will, aus seinem geliebten Heim auszieht, umfängt ihn die totale Trost- und Hoffnungslosigkeit, die mit Almodovar
definitiv gar nichts mehr zu tun hat und schon eher an einige englische Filme, allen voran an Naked von Mike Leigh, erinnert.
Der Schluß des Films ist dann auch nur scheinbar ein Happyend, in Wirklichkeit ist er der zynischste Witz des ganzen Films.
Es ist nicht ganz einfach, den Rhythmus von 101 Reykjavik zu durchschauen und sich auf seine Stimmung einzulassen. Aber hat man sich erst einmal zurechtgefunden, entwickelt der Film eine faszinierende Sogwirkung, die einen bis zum Ende nicht mehr losläßt.
Mitverantwortlich dafür ist auch der wunderbar verschleppte, Dub-lastige Soundtrack von Damon Albarn (von den Bands Blur und Gorillaz) und Einar Orn Benediktsson (von den Sugarcubes), der immer
wieder den Kinks-Klassiker Lola aufgreift, um ihn geschickt zu variieren.
Ein cooler Soundtrack, die Bilder vom verschneiten Reykjavik und das alles in einem dunklen Kinosaal; eine bessere (auch geistige) Erfrischung kann man sich an heißen Tagen wie diesen kaum wünschen.