10.03.2011

»Man darf die Dinge nicht von hinten denken.«

Wer wenn nicht wir
Jung war'n wir, frei war'n wir,
Träume hatten wir:
Wer also, wenn nicht wir!
(Foto: Senator/Central)

Ein kurzes Gespräch mit Andres Veiel über Wer wenn nicht wir

Andres Veiels Film Wer wenn nicht wir erzählt das Leben von Gudrun Ensslin, ihrem Mann Bernward Vesper und Andreas Baader, der Ensslins Geliebter wurde. Und damit erzählt der Regisseur des Doku­men­tar­films Black Box BRD über Alfred Herr­hausen und seinen möglichen Mörder Wolfgang Grams, in seinem ersten Spielfilm auch die Vorge­schichte der west­deut­schen Radi­ka­li­sie­rung. Ein Film, der den Puls­schlag der Revolte fühlt. Und der damit auch direkt aufs Heute zielt: »Was muss passieren, damit etwas passiert?«, diese Frage Elfriede Jellineks zitierte Veiel auf der Pres­se­kon­fe­renz der Berlinale und nannte Ägypten, aber auch die Finanz­krise 2008. Sein Film unter­scheidet sich wohltuend von manch anderem speku­la­tiven Werk über Terro­rismus und sollte bei der Verlei­hung der Bären nicht leer ausgehen.

Veiel wurde am 16. Oktober 1959 in Stuttgart geboren. Die »bleierne Zeit« des Terrors der 1970er Jahre hat ihn geprägt, das Gefängnis von Stammheim lag in der Nähe des Eltern­hauses, er beob­ach­tete als Jugend­li­cher den Prozess. In seinem auto­bio­gra­fi­schen Film Die Über­le­benden erzählt er 1996 auch davon. Bevor er Filme­ma­cher wurde, hat er in West­berlin Psycho­logie studiert.

Immer wieder dreht sich sein Werk um Gewalt und ihre Darstel­lung – in Der Kick und in einem Kurzfilm über die Bild-Zeitung als Teil des Projekts »24 Stunden Berlin«. »Das Leben«, sagt Veiel, »hat so viele Möglich­keiten und ist im guten Sinne kompli­ziert.« Darum, dass dies nicht unnötig verein­facht wird, geht es ihm in seinen Filmen. Mit Andres Veiel sprach Rüdiger Suchsland während der Berlinale.

artechock: Das ist Ihr erster Spielfilm. Wie war die Umstel­lung vom Doku­men­tar­film? Und wie ist für Sie die Gewich­tung zwischen Histo­ri­en­film und Drama?

Andres Veiel: Es gab mal die Über­le­gung, an die Geschichte auch doku­men­ta­risch heran­zu­gehen. Das hat sich ganz einfach deshalb verboten, weil wir nicht die Leute, die ich gerne vor die Kamera bekommen hätte, vor die Kamera bekommen konnten. Keiner war bereit, vor der Kamera zu sprechen. Für mich war diese Mischung einer möglichst weit­ge­hend fakten­treuen Spiel­film­erzäh­lung mit doku­men­ta­ri­schen Elementen daher die einzig richtige Heran­ge­hens­weise.

artechock: Das gilt auch ästhe­tisch, für die Kamera?

Veiel: Das war natürlich keine Zufalls­ent­schei­dung. Eine sehr genaue Kamera, die den Figuren Raum lässt. Die nicht wackelig im Raum herum­springt, um Authen­ti­zität zu behaupten, die nicht immer nahe an die Menschen heran­rückt, sondern die ihre Beziehung zum Raum zeigt, ihnen in langen Einstel­lungen folgt. Der Zuschauer hat die Möglich­keit, sich einzu­sehen in die wunder­baren Schau­spieler. Aber Kamera und Ausstat­tung sollten sich in einem Film nicht permanent selbst loben. Man sollte den Zuschauern Raum geben für den eigenen Film.

artechock: Warum haben Sie diesen Film überhaupt gemacht, nach Black Box BRD nun zur Vor- und Früh­ge­schichte der RAF?

Veiel: Man darf die Dinge nicht von hinten denken, sondern von vorn. Wir haben diesen Film gemacht, weil wir Fragen haben, weil wir neugierig sind, weil wir vieles noch nicht wissen zum Thema. Wir wollten den der Blick in die Schlan­gen­grube. Es gibt viele andere Filme dazu, aber kein Film konzen­triert sich auf die Vorge­schichte. Es werden die immer gleichen Bilder­schleifen wieder­holt: Die Bilder vom Schah-Besuch, die Schüsse auf Benno Ohnesorg, auf Rudi Dutschke, die Studen­ten­be­we­gung. Wir haben uns gesagt: Diese Bilder sind ja richtig, sie sind der Kata­ly­sator. Aber man muss früher anfangen, um diese Leute zu verstehen. Man muss bei der Familie anfangen. Man muss in diese Keimzelle des sehr Privaten vorstoßen, um aus diesem Span­nungs­ver­hältnis wieder ins Poli­ti­sche vorzu­dringen. Indem wir die Treib­sätze dieser Liebes­ge­schichte zeigen, sind wir wieder an einem sehr poli­ti­schen Punkt.

artechock: Ist der Wider­stand der RAF nach wie vor in mancher Hinsicht aktuell?

Veiel: Der Wider­stand der Menschen Vesper und Ensslin. Für mich ist es wichtig, dass dies nicht ein Film über ein abge­schlos­senes Kapitel der west­deut­schen Geschichte ist. Die Haupt­fi­guren meines Films, Vesper und Ensslin, waren zwar Menschen, die mit der unver­ar­bei­teten Geschichte des Natio­nal­so­zia­lismus gehadert hatten. Aber sie waren auch Menschen, die etwas verändern wollten, die unzu­frieden mit den Verhält­nissen waren, die aus einem sehr muffigen, sehr begrenzten Eltern­haus aufge­bro­chen sind – vor allem Bernward Vesper – um sich neu zu erfinden. Die sich eben nicht über ihren eigenen Vater defi­nieren konnten, sich neu entdecken mussten. Und das bedeutet eben unter anderem, politisch neue Wege zu gehen. Dabei werden Fragen gestellt, die heute – in anderen Kontexten – nach wie vor auch sehr aktuell sind.
Wir haben Probleme in dieser Welt, die von der Klima­ka­ta­strophe bis zur nächsten Finanz­krise reichen: Die nächste Blase bläht sich auf, wir wissen nicht, ob sie in drei Jahren oder in fünf Jahren platzt. Aber auch für uns gilt ja diese Losung: »Wer, wenn nicht wir?« Deshalb ist das für mich auch ein Film über die Gegenwart.