»Die Dinge falsch zu benennen, heißt, noch mehr Unglück in die Welt zu bringen.« |
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Carine Tardieu während des 42. Filmfest München, 2025 | ||
(Foto: Axel Timo Purr) |
Carine Tardieu ist eine französische Drehbuchautorin und Regisseurin, die 1973 in Paris geboren wurde. Sie ist bekannt für Filme wie Eine bretonische Liebe (2017) und Im Herzen jung (2022). Wie in ihrem letzten Film steht auch in Was uns verbindet, ihrem neuen Film, eine ältere Frau im Zentrum, die versucht, so gut es geht, auf die überraschenden Anforderungen ihrer Umgebung einzugehen, ohne sich dabei zu verlieren. Daneben spielen aber auch komplexe Patchworkkonstellationen eine wichtige Rolle und wie immer bei Tardieu, das Sprechen miteinander, die »ideale« Kommunikation, ohne die keine Selbstermächtigung möglich ist.
Das Gespräch führte Axel Timo Purr kurz vor der Deutschlandpremiere von Tardieus Film auf dem 42. Filmfest München.
artechock: Ich erinnere mich noch sehr gut an ihren letzten Film Im Herzen jung mit Fanny Ardant und Melvil Poupaud, in dem es ebenfalls um eine ältere Frau und ihre Selbstermächtigung geht. Deshalb war ich überrascht, dass es bei der Verfilmung von Alice Fernets Roman L’intimité um ein ähnliches Thema geht. Wieder ist es eine ältere Frau und ihre gesellschaftliche Rolle, die im Zentrum steht und dann die Facetten der Liebe, mit denen sie sich auseinandersetzen muss. Das hat mich überrascht, dass sie wieder dieses Thema angehen...
Carine Tardieu: Ich denke, unter all den Themen, die mich interessieren oder zumindest berühren, gibt es diese Idee, dass im Leben, egal wie alt man ist, und das ist vielleicht sehr banal zu sagen, aber dass immer alles passieren kann, dass das Leben immer überraschend ist, egal wie alt man ist und welche Meinung man bis dahin hatte. Ich glaube, das ist die Gemeinsamkeit zwischen Sandra in meinem neuen Film und der Figur, die ich in Im Herzen jung zeigen wollte, dass sie beide glauben, dass ihr Leben im Grunde genommen hinter ihnen liegt – Bei Fanny Ardant in Im Herzen jung sogar noch etwas mehr. Sandra denkt, dass ihr nichts Besonderes mehr passieren wird. Sie ist jemand, der sich sehr unter Kontrolle hat. Aber plötzlich überrascht sie das Leben und sie wird aufgerüttelt, so sehr aufgewühlt, dass es für sie wie Fanny Ardants Figur in Im Herzen jung fast zu viel ist, so sehr, dass sie Momente der Ablehnung spürt, und die auch ausdrückt, wenn es zu emotional wird, wenn es gefährlich wird, sie bringt die Leute auf Distanz. Und dann besteht die Gemeinsamkeit dieser beiden Figuren natürlich auch darin, dass sie Frauen sind, die stark sind, die ganz allein sind und die relativ viel Angst vor dem haben, was sie emotional zu sehr berühren könnte, und die deshalb viele Abwehrmechanismen entwickelt haben. Die dann nach und nach in sich zuammenfallen und beide Frauen sich ganz ihren Gefühlen hingeben können.
artechock: Das sehe ich auch so, und ich werde gleich auf Ihren neuen Film zurückkommen. Nur eins noch zu der Thematik: In den letzten fünf Jahren gab es eine Welle von Arthouse-Filmen, die sich explizit des Lebens von Menschen annehmen, die über 60 und 70 Jahren alt sind, ganz anders noch als vor zehn Jahren. Liegt das daran, dass diese Geschichten auch deshalb entstehen, weil es nur noch diese Altersgruppe ist, die vor allem die Kinos besucht? Spielt das auch bei Ihrer Stoffauswahl eine Rolle oder sind es einfach nur die Geschichten selbst, die Sie interessieren?
Carine Tardieu: Na ja, Sandra in meinem neuen Film ist ja nicht wirklich »alt«. Für mich stellt sich die Frage eigentlich nie in diesem Sinne, also in diesem Fall des »Alters«. Ich werde einfach von einem Roman oder einer Geschichte berührt. Im Herzen jung ist ein Film, dessen Geschichte mich ursprünglich inspiriert hat, die eine andere Regisseurin, Sólveig Anspach, zu schreiben begonnen hatte und die während der Arbeit an dem Drehbuch gestorben ist. Es ist eine Geschichte, die ihrer eigenen Mutter widerfahren war, und die sie unbedingt erzählen wollte. Es war eine sehr persönliche Geschichte. Ich selbst stelle mir nie die Frage, wer meinen Film sehen wird. Es ist nicht so, dass es mir egal ist. Ich freue mich vielmehr in dem Moment, wenn ich sehe, dass die Menschen meinen Film sehen, sich mit ihm auseinandersetzen. Aber das ist sicher nicht das, was mich antreibt: Mein einziger Antrieb ist meine Unfähigkeit, diese Geschichte nicht erzählen zu wollen. Das heißt, in einem Moment bin ich von einer Geschichte ergriffen, von etwas, das mich bewegt, von Beziehungen zwischen Menschen, und etwas, das ich unbedingt erzählen muss. Danach können die Figuren acht Jahre alt sein, oder 80 Jahre, ganz egal... Das ist alles. Aber das Lustige an Ihrer Frage ist, dass die Hauptfiguren in meinem nächsten Film, den ich gerade schreibe, 65 Jahre alt sind...
artechock: Wunderbar, dann kommen wir zu Ihrem neuen Film selbst. Was mir im Vergleich zu Im Herzen jung auffällt, ist, dass sie die Figurenkonstellation stark erweitert haben. Neben dem Selbstermächtigungsbedürfnis der zentralen Person von Sandra geht es vor allem um all diese Patchwork-Identitäten in unserer Gesellschaft. Wir haben uns jenseits von familiären neue freundschaftliche Bündnisse geschaffen. Ich habe mich darin sehr wiedergefunden, ich fand das sehr authentisch und sehr real. Aber ich denke, dass dies, was ja oft vergessen wird, nur eine kleine Blase in unserer Gesellschaft ist und dass die neokonservativen Kräfte, die diese Bubble verachten, immer stärker werden. Haben Sie in Frankreich auch dieses Gefühl, wie ich es in Deutschland sehe, dass die Angriffe auf diese Blase immer stärker werden?
Carine Tardieu: Ja, ganz richtig und nicht nur in Frankreich und Deutschland, dieser Backlash passiert überall. Es ist eine traurige Tatsache, dass je mehr Freiheit der Feminismus gebracht hat, je mehr Freiheit die Frauen gewonnen haben, desto mehr Freiheit sie auf der anderen Seite auch wieder verloren haben, und das nur, weil es den Konservativeren Angst macht. Es ist Teil dieses Anstiegs von Extremismus überall auf der Welt, sei es auf der Ebene der Familie, oder auf der gesellschaftlichen Ebene. Aber dann ist es auch fast schon lustig zu sehen, dass es in Frankreich wieder so viele Leute gibt, die plötzlich heiraten wollen, obwohl sie eigentlich nie heiraten wollten. Aber dann gibt es auch genauso viele Leute, die sich wieder scheiden lassen. Ich meine damit, dass die Gesellschaft halt in Bewegung ist. Und ich glaube, dass es diese traditionelle, konservative Seite der Gesellschaft immer gegeben hat, sie ist nie ganz verschwunden. Es ist zwar Tatsache, dass je mehr Freiheit man auf der einen Seite erlangt, sie auf einer anderen Seite auch wieder abgeben muss, das gilt für die Familie ebenso wie für viele andere Themen. Auf jeden Fall gibt es aber einen Teil der Gesellschaft, der sich diese Freiheit des Patchworking erlaubt, und zwar sehr real und überzeugend. Und ich denke, dass man wirklich in jeder Familie, selbst in den konservativsten Kreisen, das Gefühl entwickeln kann, auch eine »andere« Familie zu haben, sich zu fühlen, sich zu finden, und von jemandem zu sagen, er ist wie mein Bruder, sie ist wie meine Schwester, er ist wie ein Vater für mich. Selbst in sehr traditionellen Gesellschaften passiert das und deshalb denke ich auch, dass es diese Realität immer geben wird. Egal wie stark der Backlash dieses Mal sein wird.
artechock: Ich denke, dass der Film noch eine weitere Botschaft bereithält, eine, die vielleicht noch zentraler ist: Dass es ungemein wichtig ist, sich verbal korrekt auszudrücken, um damit gewissermaßen auch die Chance zu haben, geheilt zu werden. Wie etwa in der großartigen Szene nach der Fehlgeburt, in der alle Frauen zusammenkommen und damit auch alle Beziehungsebenen dieses Patchwork-Konstruktes. Heilt Reden wirklich alles?
Carine Tardieu: Das mit der korrekten Kommunikation stimmt absolut, und es ist natürlich auch ein wenig ironisch, weil dieser Moment mit der korrekten Kommunikation gerade aus Sandras Mund kommt und an einer Stelle gesagt wird, als der kleine Junge Sandra wieder begegnet, während er bei seiner Familie ist. Plötzlich sieht er sie in die Nacht hinausgehen und er läuft ihr nach, mit seinen Walki-Talkies und spricht über Paw Patrol, um ein verbales Missverständnis aus dem Weg zu räumen und sie antwortet ihm, das stimmt, du hast Recht, es ist wichtig, genau zu sein. Und ich denke tatsächlich so wie Camus, der sagte, die Dinge falsch zu benennen, heißt, noch mehr Unglück in die Welt zu bringen. So ungefähr, ich kann das Zitat nicht genau benennen, aber es ist extrem wichtig, die Dinge genau zu benennen und darüber hinaus miteinander zu sprechen, ohne dabei unbedingt mit dem Diskurs des anderen zu verschmelzen, aber dennoch in der Lage zu sein, zu hören, was gesagt wird, sich mit dem anderen auseinanderzusetzen, ohne Angst vor Meinungsverschiedenheiten zu haben, und dann auch zu sehen, wer man dabei selbst ist. Ist der Grund für unseren Streit oder unsere Diskussion wirklich auf das zurückzuführen, was wir uns intellektuell sagen, oder sind es untergründige, schwer zu lokalisierende Gefühle, die uns umtreiben? Denn die Frage ist, wenn wir kämpfen, warum kämpfen wir dann? Kämpfen wir aus intellektuellen Gründen? Oder spielen Emotionen eine größere Rolle? Und ist das der Grund, warum wir kämpfen? So in etwa, ich verliere hier ein wenig den Faden [lacht].
artechock: Wo Sie das Kind erwähnen, dem von César Botti dargestellten Elliot. Es gibt nur wenige Regisseure, die gut mit Kindern arbeiten können. Ihnen ist es hier offensichtlich gelungen. Wie haben Sie das geschafft?
Carine Tardieu: Es war viel schwieriger, ihn zu finden, als mit ihm zu arbeiten. Wir hatten vielleicht 200 Kinder in der engeren Auswahl. Was mir wichtig war, wusste ich im Vorfeld gar nicht so genau.... Ich hatte keine Ahnung, wie er aussehen sollte. Es war mir egal, ob er blonde oder braune Haare hat, ob er hübsch oder nicht hübsch ist, das war mir alles egal. Ich glaube, das einzige Kriterium war eigentlich, dass er ein guter Zuhörer sein musste. Und das war bei César der Fall. Als ich ihn sah und das erste Mal »spielen« sah, hatte er wirklich einen unglaublichen Sinn fürs Zuhören. Er spielte wirklich mit den anderen. Er war mit den anderen Schauspielern bzw. ihren Rollen im Einklang, er verwuchs mit ihnen. Natürlich ist er auch ziemlich intelligent, aber vor allem hatte er Spaß am Spiel. Das war ganz im Sinne der Kindheit, die er auch in meinem Film repräsentiert. Außerdem hatte er überhaupt keine Angst vor Stille. Das ist ungemein wichtig. Das heißt, ich konnte die Kamera wirklich in aller Stille über ihn laufen lassen. Er war nie verwirrt, in seinem Blick war immer etwas los. Das war wirklich toll. Außerdem hatte wir Glück mit seinem Gegenüber, mit Valéria (Valeria Bruni Tedeschi), denn Valéria ist jemand, die sehr gut mit Kindern »kann«, die sehr mütterlich ist, ganz im Gegensatz zu der Sandra am Anfang meines Films. Und auch das trägt natürlich viel zum Erfolg des Films bei, so etwas spürt der Zuschauer.
artechock: Vielen Dank für das Gespräch!