23.12.2004

»Ich bin Dramatiker, kein Historiker«

Oliver Stone am Set von ALEXANDER
Schlachtenlenker:
Stone am Set von Alexander

Regisseur Oliver Stone über seinen Monumentalfilm Alexander, die Annäherung an einen Unbekannten, Mutter-Sohn-Beziehungen und die Schwierigkeit der Geldbeschaffung

Seit 25 Jahren gilt Oliver Stone, 63, als einer der besten Film­re­gis­seure der USA. der mehrfach Oscar-prämierte Regisseur ist immer auch ein poli­ti­scher Provo­ka­teur mit einer Vorliebe für brisante, umstrit­tene Stoffe. Mit dem Vietnam-Drama Platoon wurde er bekannt, später widmete er sich in JFK und Nixon immer wieder der Zeit­ge­schichte. Zuletzt drehte Stone drei Doku­men­ta­tionen: Über den Nahost­kon­flikt und über Fidel Castro. Jetzt kommt sein Film Alexander ins Kino, eine opulente Darstel­lung des Lebens Alex­an­ders des Großen.
Das Interview führte Rüdiger Suchsland.

artechock: Ist bei Alexander alles so geworden, wie sie wollten?

Oliver Stone: Ich liebe Filme so sehr, aber ich hasse den Prozess der Fertig­stel­lung. Was immer Sie über den Film denken – ich werde immer besser. Amerika ist, was mich angeht sehr pola­ri­siert. Ich kenne das seit 15 Jahren: »Er ist zurück!«; »Er ist verrückt!«; »Das ist alles Mist!«; »Was für ein inter­es­santer Mist!« – immer das Gleiche.

artechock: Erstmals beschäf­tigen Sie sich mit älterer Geschichte, Ihre anderen Filme handeln von Ereig­nissen, die Sie selbst in irgend­einer Form miterlebt haben...

Stone: Ich liebe Geschichte, sie hat mich immer inter­es­siert. Aber ich bin Drama­tiker, kein Histo­riker. Alles was ich tun kann, ist mit Leuten zu sprechen, zu lesen, alles heraus­zu­finden, was ich kann – und dann muss ich meine Fähig­keiten als Regisseur einsetzen. Wir wissen nicht viel über Alexander den Großen
Erst drei, vier Gene­ra­tionen nach ihm entstanden die ersten vier, fünf antiken Texte über ihn, die man heute noch kennt. Maximal drei dieser römischen Autoren waren die einzigen, die noch Origi­nal­ma­nu­skripte einsehen konnten, die aus Alex­an­ders Zeit stammen, oder unmit­telbar nach Alex­an­ders Tod entstanden. Unter ihnen die Erin­ne­rungen des Ptolemäus, die in meinem Film eine wichtige Rolle spielen, die Erin­ne­rungen seines Archi­tekten, viele Schriften seiner Soldaten – sie alle befanden sich in der Biblio­thek von Alex­an­dria, die später abbrannte.

artechock: Haben Sie sich diesem Thema gegenüber freier gefühlt, als gegenüber der Kennedy-Ermordung, oder Nixon?

Stone: Ja, auf alle Fälle. Kennedy und Nixon sind Themen, die in Amerika viele Emotionen wecken. Der Film NIXON hat nicht viel Geld einge­spielt, weil die Leute wegblieben – es ist offenbar ein zu düsteres Thema. Auch um Alexander wird es Kontro­versen geben. Das kann ich garan­tieren. Denn der Film handelt von zu vielen modernen Themen. Selbst Mütter werden ihre Kommen­tare geben: Es gibt da ja eine sehr starke Mutter-Sohn-Beziehung, Vater-Sohn-Beziehung. Und dann wird es eine große Frage sein, ob ich Alexander glori­fi­ziere.

artechock: artechock: Sie haben es schon erwähnt: Es gibt viele Lücken in Alex­an­ders Biogra­phie. Sie füllen sie mit eigenen Inter­pre­ta­tionen

Stone: Ja, es gibt sehr viel Inter­pre­ta­tion in diesem Film. Es ist drama­ti­sierte Geschichts­schrei­bung. Zum Beispiel die Figur der Roxane. Über die Gründe ihrer Heirat mit Alexander weiß man fast nichts.
Nichts Geschrie­benes ist darüber erhalten. Ich habe die Idee postu­liert, dass das ein sehr wichtiger poli­ti­scher Akt war: Zehn Jahre war Alexander unver­hei­ratet – das war schon sehr unge­wöhn­lich. Und dann heiratete er weder eine Maze­do­nierin, noch eine Tochter des Perser­kö­nigs Dareiros. Sondern die Tochter eines Berg­stammes. Das kann nur zwei Gründe gehabt haben: Entweder war er tatsäch­lich sehr verliebt. Oder er war – wie so oft – von einer mytho­lo­gi­schen Idee besessen: Der Verschmel­zung mit dem anderen, asia­ti­schen Kontinent. Er bekam erst nach drei Jahren einen Sohn mit ihr – das war ebenfalls sehr unge­wöhn­lich.
Nehmen Sie dann seine Beziehung zu seinem Freund Hephais­tion. Es war eine sehr enge Freund­schaft, viel­leicht Liebe.
Warum starb Alex­an­ders überhaupt? Er starb nur acht Monate nach Hephais­tions Tod. Das ist eine sehr starke Geschichte. Wir können über Alex­an­ders Gefühle nur speku­lieren. Starb er an gebro­chenem Herzen? Durch Hephais­tions Tod?
Oder darüber, dass ihm seine Soldaten in Indien die Gefolg­schaft verwei­gert hatten? Bei der Schlacht von Molton riskierte er sein Leben – es wirkt wie Todes­sehn­sucht. Er wurde dort schwer verwundet. Ein Pfeil durch­drang seine Lunge. Ich wollte diese Schlacht nicht drehen, weil ich nicht zu viele Schlachten drehen konnte. Darum zog ich die Ereig­nisse zweier indischer Schlachten zu einer zusammen.

artechock: Wie schätzen Sie die Beziehung Alex­an­ders zu seiner Mutter ein?

Stone: Sehr schwer zu sagen. Es gibt keine klare Antwort: Ja, sie liebten sich sehr. Aber diese Liebe war sehr destruktiv.
Sie liebte ihn leiden­schaft­lich, und sie wollte ihn zum Größten machen. Wie viele Mütter. Sie sagte ihm: »Wenn Deine Kameraden längst nur noch als Schatten in der Unterwelt exis­tieren, wird man sich an Dich noch für viele Jahr­hun­derte erinnern als an den jungen Alexander den Großen.« Sie hat ihn zu dieser Größe getrieben. Sie gab ihm seinen Opti­mismus auf den Weg: »Greif Dir die Welt!«

Der Vater Philip von Maze­do­nien vererbte ihm hingegen seinen Pessi­mismus. Und damit die notwen­dige Stärke, die unter­schwel­lige Grau­sam­keit, den grund­sätz­li­chen Pessi­mismus der grie­chi­schen Seele. Den Alexander aus meiner Sicht durch­bro­chen und über­wunden hat. Er wurde mehr als sein Vater.
Ich nenne ihn »den letzten Griechen«, als Metapher dafür, dass seine Herr­schaft das Ende der antiken grie­chi­schen Welt bedeutet. Mit ihm mündete die grie­chi­sche Welt in etwas anderes, neues, in das gewaltige Imperium, dass er geformt hat. Mit ihm begannen Ost und West ihre viel­fäl­tige Wech­sel­be­zie­hung.
Nach seinem Tod herrschten – trotz der Diado­chen­kämpfe – über hundert Jahre Prospe­rität und Boom. Man kann mit guten Gründen sagen, dass die Römer viele Ideen von Alexander aufge­griffen und in ihrem Imperium weiter­ge­führt haben – aller­dings auf andere Weise. Aber die Beziehung zwischen Römern und Griechen ist eine andere Geschichte.

Die Beziehung zu Hephais­tion war viel­leicht die wich­tigste emotio­nale Beziehung seines Lebens. Sein Verlangen, alle Grenzen und alle Welten zu tran­szen­dieren – ob die Grenzen der Sexua­lität, der Moral, der Götter. Alexander erscheint mir als ein Mann, der sich ganz und gar seinem Idea­lismus verschrieben hatte. Er sagte seinem Vater, dass Achilles und Prome­theus seine Vorbilder seien – mythische Helden also.
Es gibt so viele Möglich­keiten diese Figur und den Film zu verstehen: Der Film folgt den Spuren seines Lebens, versucht eine Art Psycho­his­torie Alex­an­ders zu bieten.

Viel­leicht wurde er von seinen Generälen getötet – es gibt ein paar gute Motive dafür. Ptolemäus nennt sie in dem Film: »Alle Träumer müssen am Ende sterben.« – Viel­leicht ist die eigent­liche Geschichte: Er verlangte zuviel von seinen Mitmen­schen, er wollte zuviel. Die Träumer töten mit ihren zerplatzten Träumen.
Auf der anderen Seite sind es die Träumer, die die Geschichte voran­treiben. Also: Gut oder Schlecht – Alexander verän­derte den Gang der Geschichte und manche hassten ihn dafür. Und er verän­derte die Welt mit erst 26 Jahren. Das ist auch ein Aspekt des Themas: Junge Menschen werden zu Herren der Welt. Ich kann das gar nicht alles zusam­men­fassen!
»Am Ende zählt nur, was man getan hat.« sagt er einmal. Er ist ein Mann des Intel­lekts und er ist ein Tatmensch.

artechock: Wenn Sie Alexander mit den anderen Poli­ti­kern verglei­chen, über die Sie Filme gemacht haben, auch mit Arafat oder Castro, über die Sie mehrere Doku­men­ta­tionen gedreht haben: Wo sehen Sie Paral­lelen und wo Unter­schiede?

Stone: Castro ist auch ein Mann des Intel­lekts und er ist ein Tatmensch. Ich will ihn nicht mit Alexander verglei­chen, aber er weiß viel über Alexander. Ich habe ihn getroffen, weil ich die Gele­gen­heit hatte, ihn zu sehen und zu filmen – und es waren ein paar wunder­volle Tage in Cuba.

Natürlich ist es immer inter­es­sant, sich mit Menschen an der Macht zu beschäf­tigen. Und wann immer man sie im Leben trifft, denkt man auch an histo­ri­sche Vorbilder, vergleicht, wägt ab.
Der Haupt­un­ter­schied zwischen Castro und Alexander liegt viel­leicht in den unter­schied­li­chen Voraus­set­zungen: Castro konnte deshalb kein Alexander werden, weil er nicht die entspre­chende Macht hinter sich hatte.

Der zweite große Unter­schied: Castro starb nicht früh und wurde zur Ikone – wie Alexander oder auch Che Guevara. Er konnte und musste sehen, wie seine Träume alterten, was aus ihnen geworden ist. Und es ist schwerer, weiter­zu­leben. Und dabei »die Revo­lu­tion« zu verkör­pern, wie er es tut. Ich bewundere ihn für seine Stand­haf­tig­keit, für das Fest­halten an Ideen. Er hat sie meiner Meinung nach nicht verkauft – wie manche behaupten.

artechock: Haben alle Menschen an der Macht, haben Kennedy und Nixon, Alexander und Castro etwas gemeinsam?

Stone: Ja, sie inter­es­sieren mich. [Lacht] Was sie gemeinsam haben, ist viel­leicht etwas, was ich in ihnen sehe, denn ich trage mein Bewusst­sein an diese Personen heran. Kennedy, Castro, Arafat, Nixon sind Menschen, die an etwas geglaubt haben. Auch meine andere Figuren können Sie so sehen. Mich inter­es­siert, was die Geschichte von diesem Glauben übrig gelassen hat. Was alle meine Film­helden gemeinsam haben: Sie hatten eine Vision. Und sie sind oft mit dieser Vision geschei­tert.

Alexander ist ein Idealist und ein Prag­ma­tiker zugleich. Aber wie alle Menschen ist er korrum­piert durch seine Vergan­gen­heit, seine Bezie­hungen – das ist das Wesen des mensch­li­chen Lebens: Es erzeugt einen, es schafft erst den Charakter, der man wird, aber es zerstört einen auch. Bei Alexander ist der Kontrast zwischen dem schöp­fe­ri­schen und dem destruk­tiven Anteil besonders stark. So war es auch Richard Nixon – das war auch ein Mutter­söhn­chen, für den die Beziehung zur Mutter immer etwas ganz entschei­dendes war.

Bei Jim Morrisson liegen die Dinge anders. Das ist ein anderes Spiel. Aber Morrisson bewun­derte Alexander sehr.
Alexander wollte Achill sein, aber er ging an einem bestimmten Punkt über Achill hinaus. Er war für mich am ehesten eine Art Prome­theus – er schuf eine neue Welt, mit zum Teil schreck­li­chen, aber auch herr­li­chen Folgen. Prome­theus verän­derte die Welt. Und er wollte ähnlich wie Alexander Freiheit.

artechock: Sie haben das Alexander-Projekt schon lange Zeit geplant. Warum hat es so lange gedauert?

Stone: Ich denke, ich hätte den Stoff früher nicht bewältigt. Ich habe ihn damals nicht verstanden. Viel­leicht verstehe ich ihn heute auch nicht – aber viel­leicht doch etwas besser, als früher.
Wir haben 1989/90 mit dem Drehbuch ange­fangen. Die Basis war Klaus Manns Novelle »Alexander« – ein seltsames, hoch inter­es­santes Buch. 1996 hatten wir nach vielen Versionen – ich habe selbst mitge­schrieben – ein fertiges Drehbuch, aber es hat nicht richtig funk­tio­niert. Es war ein fünf-Akte-Film. Aber ich wollte den Film unbedingt unter drei Stunden Länge machen. Nach zehn Jahren, in denen ich viel Mist gebaut habe – ich hatte »Evita« verloren, ebenso wie andere Projekte – dachte ich: »Jetzt muss ich es machen.« Ich werde älter, wenn nicht jetzt, dann nie.
Es war auch nicht so leicht, die Geldgeber von Colin Farrell zu über­zeugen. Der war zu unbekannt. Darum mussten wir den Film außerhalb Hollywood finan­zieren. Darum haben wir den Film in Deutsch­land, Frank­reich und England finan­ziert. Es ist eine komplett europäi­sche Produk­tion – einer der größten Inde­pen­dent-Filme, der je gemacht wurde. Wir hatten nicht viel Geld, konnten nur 90 Tage drehen – normal wären für so ein Projekt 120.

artechock: Hat sich Ihr Blick auf Alexander in den über zehn Jahren stark verändert?

Stone: Auf alle Fälle. Ich habe alles gelesen – ein groß­ar­tiges Buch mit viel psycho­lo­gi­schem Vers­tändnis von Harold Lamb. Jean Benoit. Droysen. Peter Green. Robert Lane Fox. Der ist sehr streng. Der hat mich auch beraten.
Wir haben mehrere Experten von Oxford konsul­tiert, um zu erfahren, wie die Städte aussahen. Sie konnten sich nicht einigen. Schon über die Orte, die man kennt. Und keiner weiß, wie Baktrium oder Indien im Jahr 300 vor Christus aussah. Unmöglich.

artechock: War der alte Alexander-Film von Robert Rossum für Sie irgendwie von Nutzen?

Stone: Ein toller Film. Ich mag ihn. Nur leidet er unter einem Problem: Er erzählt seine Geschichte linear und chro­no­lo­gisch, weniger in Schlag­lich­tern, wie wir. Und schon die Verhält­nisse in Grie­chen­land waren so kompli­ziert… Bis man da einmal raus ist, ist der Zuschauer schon müde. Wenn Persien erobert ist, fühlt er sich endgültig erschlagen. Ich habe diese Linarität aufge­geben. Ich habe den Abschnitt über die Kindheit Alex­an­ders auf ein Minimum reduziert, gerade genug, um ein paar Punkte zu erklären.
Wichtig war es, mehr über Alex­an­ders Charakter zu zeigen: er war ein weicher, mitlei­diger, gefühl­voller Mann. Es wird berichtet, dass er um seine gefal­lenen Soldaten auf dem Schlacht­feld weinte, um seine gestor­benen Freunde sowieso.