03.10.2013

»Für mich ist Heimat ein poeti­scher Gegen­stand«

Szenenbild DIE ANDERE HEIMAT
Die andere Heimat
(Foto: Concorde)

Edgar Reitz über Auswanderung, Freiheit, seinen neuen Film Die andere Heimat, und sein Lebensthema

Der Münchner Filme­ma­cher Edgar Reitz (geb. 1932) gehörte 1962 zusammen mit Alexander Kluge zu den Verfas­sern des Ober­hau­sener Manifests, das zum Grün­dungs­do­ku­ment des „Jungen Deutschen Films“ und der heutigen Film­för­de­rung wurde. 1963 gründete er die Ulmer „Hoch­schule für Gestal­tung“ (HfG), wo Reitz auch als Leiter der Film­ab­tei­lung lehrte. Unter seiner Ägide entstanden einfluß­reiche Filmwerke. Auch als Regisseur kehrte Reitz seit 1967 immer wieder in die Region zurück, etwa 1978 mit Der Schneider von Ulm.
In seinem Film Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht erzählt Reitz nun zum vierten Mal vom Leben eines Dorfes im Hunsrück. Diesmal greift er ins 19.Jahr­hun­dert zurück, erzählt vom Brüder­paar Jakob und Gustav Simon, und zugleich den großen Auswan­de­rungs­wellen – Alltags- und Sozi­al­ge­schichte verbinden sich zu einer Parabel über das, was im Leben zählt und einer Geschichte von Migration und Globa­li­sie­rung in früheren Zeiten.

Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland.

artechock: Ist Die andere Heimat die Vorge­schichte der bishe­rigen Heimat-Teile?

Edgar Reitz: Für mich ist das erst einmal ein voll­kommen autonomes Unter­nehmen. Natürlich wird jeder an diesen Zusam­men­hang denken, die Simon-Brüder seien ja offenbar Verwandte von den Simons früherer Filme. So kann man es sagen. Aber es ist ja alles Fiktion: Der Name, der Ort. Und die Frage der Kausa­lität, die man ja überhaupt erst später erzeugt, erscheint mir sehr unwahr­schein­lich – es ist auch nicht wirklich meine Absicht: Die Charak­tere sind nicht dazu da, irgend­etwas aus späteren Folgen zu erklären.
Aber in mir selbst entsteht so etwas wie eine Konti­nuität. Ich erkenne mich selbst wieder in den Figuren, in Jakob, Hermann, Paul – sie sind alle ein kleines bisschen Selbst­por­trait. Dadurch kann man Verwandt­schaften fest­stellen.
Im Vorfeld der Arbeit an diesem Film hat mich ein Brief aus Porto Alegre in Brasilien erreicht, in dem eine Frau mir schrieb, sie hätte einen Doku­men­tar­film mein Gesicht gesehen, und ich hätte eine große physio­gno­mi­sche Ähnlich­keit mit ihrem Chef. Der heiße Reitz. Bald darauf kam Post: 500 Seiten Genea­logie der Familie Reitz in Brasilien. Im Süden Brasi­liens gibt es so viele Abkömm­linge deutscher Auswan­derer – man findet dort deutsche Namen wohin man geht, so wie italie­ni­sche Namen in Argen­ti­nien.

artechock: Die Sehnsucht nach Auswan­de­rung steht hier im Zentrum...

Reitz: Ich bin auf das Thema schon sehr früh gekommen – vor über 30 Jahren bei den Dreh­ar­beiten zur ersten Heimat-Staffel. Da begegnete mir überall in der Region die Erin­ne­rung an diese Auswan­de­rung. Ich habe seitdem Material gesammelt. Es hat mich immer sehr bewegt, was es bedeutet, Heimat zu verlassen.
Ich bin zwar kein Auswan­derer, aber auch einer, der die Heimat verlassen hat. Das ist hart aber notwendig, weil man etwas nicht verwirk­li­chen oder entfalten konnte. Die Trennung und das Sich­los­reißen aus den Wurzeln erfordert eine ungeheure Kraft. Diese Kraft hat man nie alleine. Sie entsteht dadurch, dass die Bindungs­kräfte reißen. Das geschieht kollektiv.
Aktuell inter­es­sant wurde dies durch den Tod meines Bruders, der das Vorbild für diese Figur des Jakob geworden ist – das hat den emotio­nalen Anstoß gegeben.
Hinzu kommt, dass wir nun in einer Zeit leben, in der das Thema Emigra­tion und Auswan­de­rung aktuell wird. Wir alle kennen Menschen, die bei uns ihr Glück oder Zuflucht suchen, und wir haben ganz vergessen, dass wir selbst vor ganz kurzer Zeit – zuletzt im Dritten Reich, dieje­nigen waren, die bei uns ihr Glück oder Zuflucht suchen. Das waren die Gründe, diesen Film zu machen.

artechock: Heute wandern auch mehr Deutsche aus, als umgekehrt einwan­dern. Was ist es für eine Situation, die dazu führt, dass Menschen auswan­dern?

Reitz: Das ist ja keine Vernunft­ent­schei­dung, nicht das Ergebnis einer Argu­men­ta­ti­ons­kette. Sondern entweder ist es Angst und Zwang, oder man lebt in einer Welt, in der selt­sa­mer­weise ausge­wan­dert wird. Wenn es auf einmal passiert, dass sich Dörfer leeren, entsteht ein Sog.
Wo ist die Initi­al­zün­dung für so eine kollek­tive Bewegung? Ich kenne sie letzt­end­lich nicht. Migra­ti­ons­be­we­gungen durch Europa gab es über die Jahr­tau­sende. Ein Schub entstand im 19. Jahr­hun­dert durch die Alpha­be­ti­sie­rung. Zum ersten Mal konnten viele Menschen lesen und schreiben. Die ersten Zeitungen weckten das Fernweh mit Repor­tagen und Aben­teu­er­ge­schichten in Fort­set­zungen. Die erzählten von der Ferne und der Freiheit. Die Autoren haben auch nur geträumt, die waren wie Karl May.

artechock: Ein Auslöser der Auswan­de­rung und der Träume ist aber klarer­weise auch konkrete mate­ri­elle Not. Die Träume haben vor Ort keine Heimat mehr, sie sind heimatlos geworden. Sie zeigen ja in Die andere Heimat kleine beklem­mende, sehr arme, schwie­rige Verhält­nisse. Man kann gerade so überleben...

Reitz: Dabei hatten diese Menschen eine unglaub­liche Über­le­bens­fähig­keit. Diese Menschen haben alles, was sie überhaupt brauchten, selbst herge­stellt und produ­ziert, mit den eigenen Händen gemacht: Sie haben Flachs angebaut und ihre Kleider selbst gewoben, ihr Essen selbst erzeugt, ihre Häuser, ihre Werkzeuge selbst produ­ziert – da gibt es nichts Gekauftes. Nichts, das durch irgend­welche Märkte und Versor­gungs­lo­gistik zu ihnen gekommen ist. Wenn so eine Gesell­schaft – die im Grunde autonom über­le­bens­fähig ist – auch unter extremen Bedin­gungen – an eine Grenze stößt, wo selbst das nicht mehr geht, dann wandert sie aus.

artechock: Es muss also das Prinzip Hoffnung mit der unmit­tel­baren Notwen­dig­keit zusam­men­kommen?

Reitz: Ja. sie verlassen rudi­men­täre gesell­schaft­liche Lebens­ver­hält­nisse, in denen man gerade mal überleben kann, aber es ist nicht die unmit­tel­bare Notwen­dig­keit, die sie antreibt, sondern die Ahnung einer glück­li­cheren Welt irgendwo woanders, eine Projek­tion – damals in den Zeitungen, heute ist es jetzt das Internet oder das Fernsehen.

artechock: Aber die Träume können schnell umschlagen in Illu­sionen – oder mit ihnen verwech­selt werden...

Reitz: Genau. So geht es Jakob. Er spürt das indirekt, das er sich Illu­sionen macht, und das er die Realität nicht will – ihm genügt das Land der Phantasie. Um aus der Welt der Träume in die Realität zu gelangen – da ist ein Quali­täts­sprung erfor­der­lich. Dieser deutsche Roman­tiker ist kein Macher. Der Bruder ist der Macher. Aber ihm fehlen die Träume.

artechock: Wollten Sie das erzählen? Das wir die Mitte finden müssen zwischen Träumerei und Realismus?

Reitz: Sie haben das Gesetz gebrochen, aber ich kann sie verstehen. Sie sind sehr beein­flusst von unserer Gegenwart. Nicht so leicht zu sagen, es ist nicht so simpel.

artechock: Ich habe den Artikel gelesen: Manches haben Sie eins zu eins über­nommen, anderes total verändert. Nach welchen Kriterien haben Sie das gemacht?

Reitz: Ich bin kein Prediger oder Moralist, der den Menschen etwas zeigen will. Ich erzähle Geschichten. Dabei versuche ich mich an der Wirk­lich­keit zu orien­tieren. Es geht nicht um die Wahrheit als solche. Es geht darum, dass die Geschichte einen Grad an Wahr­schein­lich­keit hat. Ich erzähle sie auch mir selbst beim Drehen – das Erzählen berührt die Sinne, die Augen, die Ohren, die Tastsinne...

artechock: Was macht diese Geschichte von vor 140 Jahren aus Ihrer Sicht aktuell?

Reitz: 140 Jahre sind nicht so lang. Wir sind heute viel unsi­cherer in unseren Verhält­nissen. Bei uns sind Vertei­lungs­lo­gistik und Arbeits­tei­lung zersplit­tert. Wenn wir irgendwo den Stecker raus­ziehen, und die Logis­tik­sys­teme zusam­men­bre­chen, ist alles vorbei – man soll nicht meinen, wir wären da in Sicher­heit. Diese Gesell­schaft, die ich beschreibe, ist in gewisser Weise doch stabiler. Dieser Film wirft einen fremden Blick auf unsere Gegenwart.

artechock: Was war das Schwie­rigste bei diesem Film?

Reitz: Wenn wir einen Film machen über das Leben der Reichen und Mächtigen finden wir die Zeugnisse ihres Lebens überall. Die Schlösser und Paläste sind erhalten und Filmteams filmen immer wieder in diesen wunder­baren Orten.
Wenn wir aber das Leben der Armen und Underdogs erzählen wollen, finden wir nichts – denn sie haben nichts hinter­lassen und meist war es ja so, dass sie bereits in der nächsten Gene­ra­tion ihre Häuser abge­rissen haben und ihre Gebrauchs­ge­gen­stände erneuert. Es ist ja klar: Wenn man arm ist hat nichts zu vererben, auch an seine eigene Zukunft nicht. Und dieser Verlust aller Dinge, die wir in die Hand nehmen ist ein großes Thema für mich geworden – denn wer sagt uns ob wir heute reich sind, oder arm? Auf jeden Fall habe ich das Gefühl, dass die nächste Gene­ra­tion eigent­lich nur Müll findet von uns. Kaum etwas können wir unseren Kindern vererben – kein iPhone, keinen Computer – nichts von den heiß­be­gehrten Gegen­s­tänden unserer Zeit. Und doch sagen wir, es sei unsere Freiheit, alles dieses zu besitzen.
Es gibt offen­sicht­lich noch eine andere Frage und diese Frage schwebt mit in diesem Film.

artechock: Die wunder­baren Schwarz-Weiß-Bilder stammen von Gernot Roll. Was schätzen Sie an diesem Kame­ra­mann?

Reitz: Die Zusam­men­ar­beit mit Gernot Roll kann man kaum beschreiben: Wir kennen uns seit über dreißig Jahren. Die Arbeit bei uns funk­tio­niert nicht über intel­lek­tu­elle Diskus­sion, nicht über abstrakte Planung, sondern sehr spontan, sehr aus der Begegnung mit dem Ort und den Menschen heraus. Dass der Film visuell so ist wie er geworden ist, verdanke ich Gernot Roll. Die Bilder sind auch für mich jeden Tag ein Geschenk, für das ich ihm danke. Es gibt in jedem Berufs­leben schwie­rige und glück­liche Dinge und unsere Zusam­men­ar­beit zähle ich zu den glück­li­chen Dingen – wir haben eine wunder­bare Arbeit zusammen gemacht. Als wir nach der Premiere zusammen essen waren, sagte Gernot Roll zu mir: Die gemein­same Arbeit an Heimat war der Höhepunkt seines Berufs­le­bens, und so war es auch wieder in diesem neuen Teil.
Nicht nur, dass wir technisch gestal­te­risch alles auspro­bieren konnten. Es ist ein Gefühl des unun­ter­bro­chenen Expe­ri­men­tie­rens und Probie­rens. Es ist auch noch die Tatsache, dass in diesem Thema etwas in der eigenen Biogra­phie berührt wird, das nicht ersetzbar ist durch etwas anderes. Wenn der Film die Fähigkeit hat, die Herzen zu bewegen, dann tut er das auch durch Gernot Roll.

artechock: Wie defi­nieren Sie eigent­lich „Heimat“ heute, in unserer Epoche der Globa­li­sie­rung, wenn die Welt ein Dorf geworden ist?

Reitz: [Lacht] Das ist das natürlich die meist­ge­stellte Frage meines Lebens. Wenn man seit dreißig Jahren Filme macht, die immer das Wort „Heimat“ im Titel führen, dann wird man nach der Bedeutung gefragt.
Das Wort kann man ja auch nicht in andere Sprachen über­setzen. Es ist ein sehr typisch deutsches Wort. In dem schwebt auch etwas von diesem deutschen Roman­ti­zismus mit. Es ist auch in diesem Wort immer eine Melan­cholie enthalten, ein Element des Verlustes.
Für mich ist das ein poeti­scher Gegen­stand. Das ist etwas, was wir in der Regel in unserem Leben hinter uns lassen. Denn in dem Maß, in dem wir uns entfalten, verlassen wir die Heimat. Es ist die Welt der Kindheit, die Welt der geschicht­li­chen Tradi­tionen, die in jeder Familie unbewusst weiter­ge­reicht werden – diese Welt verlassen wir.
Das können wir auch in der heutigen globa­li­sierten Welt nicht ersetzen durch irgend­etwas anderes.
Aber ich bin da jetzt selber gar kein Melan­cho­liker. Dieser Verlust ist auch natürlich. Wir ziehen immer größere Kreise um unsere Geburt. Das ist das, was wir unsere indi­vi­du­elle Entwick­lung nennen – die ist das Gegenteil zu Heimat, das muss man auch wissen.
Trotzdem ist die Erin­ne­rung etwas, was eine starke emotio­nale Kraft in uns auslöst. Ich denke ohne diese Erin­ne­rung wären wir viel­leicht nicht stabil genug, um die Heraus­for­de­rungen der Welt zu ertragen. Da ist immer ein Stück der Seele in unserer Erin­ne­rung enthalten. Darum erzähle ich meine Geschichten. Man kann das nicht abstrakt vermit­teln, das kann man nur durch das Erzählen von Geschichten weiter­rei­chen.

artechock: Ist dies jetzt ein Schluss­stein von Heimat?

Reitz: Nichts ist ein Ende. Es gibt kein Ende. Alles, was man erzählt, ist der Anfang einer neuen Geschichte.