27.05.2021

»Die Konzerne haben im Moment große Angst davor, so zu enden wie die Tabak­in­dus­trie«

Menschenmenge auf dem Oktoberfest
Szene aus Alkohol – Der globale Rausch
(Foto: arte)

Andreas Pichlers jetzt auf ARTE gezeigter Dokumentarfilm Alkohol – Der globale Rausch erkundet, warum Alkohol trotz der enormen Folgekosten für die Gesellschaft so erfolgreich ist und welche Rolle Industrie und Politik dabei spielen

Das Gespräch über Pichlers Film führte Sabine Matthes mit Daniel Drepper (Jour­na­list, der mit Sanaz Saleh-Ebrahimi für Correctiv die Recherche Wie die Alko­hol­in­dus­trie uns dazu bringt, immer weiter zu trinken verfasste), Andreas Pichler (italie­ni­scher Doku­men­tar­fil­me­ma­cher und Grimme-Preis­träger aus Bozen) und Mariann Skar (Gene­ral­se­kre­tärin von Eurocare, Brüssel)

Andreas Pichler faszi­niert der innere Wider­spruch seiner Themen. Er folgte dem Weg eines jungen Jesuiten, der inspi­riert durch die Befrei­ungs­theo­logie von Südtirol nach Bolivien ging, sich einer linken Gueril­la­be­we­gung anschloss und zum Terro­risten wurde. Er hinter­fragte die Umstände von Pasolinis Ermordung und nahm dem System Milch seine Unschuld. In seiner neuesten Kino­do­ku­men­ta­tion Alkohol – Der globale Rausch spricht er mit Wissen­schaft­lern, Ex-Trinkern und Alko­hol­pro­du­zenten in Europa, Afrika und USA. Das Genuss­mittel Alkohol entpuppt sich dabei als clevere und euro­pa­weit gefähr­lichste Droge. Alko­hol­in­dus­trie, Politik und Konsu­menten gehen eine Kompli­zen­schaft der Verant­wor­tungs­lo­sig­keit ein – mit desas­trösen Folgen für die ganze Gesell­schaft. Bis zu 60 Milli­arden Euro sind die Folge­kosten dieser legalen Drogen-Party in Deutsch­land – jedes Jahr. Über 200 Krank­heiten kann Alkohol verur­sa­chen. 23 Millionen Menschen in der EU sind alko­hol­ab­hängig. Weltweit sterben 3 Millionen Menschen jährlich an den Folgen des Alko­hol­kon­sums – »alle 10 Sekunden ein Mensch. Das sind mehr als durch Verbre­chen, Verkehrs­un­fälle und illegale Drogen zusammen«, erklärt der Film­ab­spann. Warum ist Alkohol dennoch so erfolg­reich? Welche Rolle spielen Industrie und Politik dabei? Das erkundet der Film.

artechock: Herr Pichler, Sie mögen John Cassa­vetes alko­hol­reiche Filme, trinken selbst gern und haben nichts gegen Drogen. Warum hat Alkohol Sie als Filmthema gereizt?

Andreas Pichler: Ich hab vor einigen Jahren gemerkt, dass ich Alkohol nicht mehr so gut vertrage, und bei einigen Selbst­ver­su­chen gemerkt, dass es gar nicht so einfach ist, auf Alkohol zu verzichten – vor allem sozial, aber auch was die eigenen Gewohn­heiten anbelangt. Als ich dann bei den ersten Recher­chen heraus­ge­funden habe, welche enormen Folge­kosten der Alko­hol­konsum für die Gesell­schaft hat, hat mich das Thema gefesselt. Also vor allem dieser sozial-poli­ti­sche Aspekt, wie bei fast allen meinen Filmen. Dieser Wider­spruch, oder auch der Blinde Fleck: wir wissen, dass Alkohol schädlich ist, die meisten Politiker wissen, wie hoch die Folge­schäden und Folge­kosten für die Gesell­schaft sind, aber wir machen dennoch fast nichts dagegen. Wie ist das möglich?

artechock: Was hat Sie am meisten beein­druckt auf Ihrer Forschungs­reise?

Pichler: Die hemmungs­lose Alkohol-Werbung in Nigeria, wo auch Prosti­tu­ierte einge­setzt worden sind, um Bier-Marken zu promoten, war sicher eines der tief­grei­fendsten Erleb­nisse. Aber auch die Erkennt­nisse in vielen Gesprächen, wie relativ schnell, wenn mehrere Umständen zusam­men­kommen – vor allem bei Frauen –, eine Alkohol-Abhän­gig­keit entstehen kann. So wie bei Sarah, der 25-jährigen Prot­ago­nistin im Film.

artechock: Deutsch­land habe insgesamt ein Alko­hol­pro­blem, sagt Raphael Gaßmann von der Deutschen Haupt­stelle für Sucht­fragen. Der durch­schnitt­liche Alko­hol­konsum von 10 Litern reinem Alkohol pro Kopf und Jahr sei derart hoch und gesund­heits­schäd­lich, dass sich die „Alko­hol­ge­sell­schaft“ versi­chern müsse, sie trinke „nur“ ein „Lebens­mittel“, ein „Genuss­mittel“. Indem sie andere Substanzen negativ als „Drogen“ stig­ma­ti­siere, entlaste sie sich von der möglichen Proble­matik ihres Alko­hol­kon­sums. Wo steht Deutsch­land im inter­na­tio­nalen Ranking der Alkohol Hotspots?

Pichler: Der weltweit höchste pro Kopf-Konsum ist nach wie vor in einigen Ländern Osteu­ropas zu finden. In Russland sinkt er rapide, da bei den jungen urbanen Menschen Alkohol nicht mehr so angesagt ist, doch Länder wie Moldawien oder die Ukraine rangieren noch immer an oberster Stelle. Relativ bald danach stehen Länder wie Deutsch­land, Öster­reich oder Frank­reich und England; noch vor den skan­di­na­vi­schen Ländern, die tradi­ti­ons­gemäß einen proble­ma­ti­schen Umgang mit Alkohol hatten, aber durch die stren­geren Rege­lungen und intensive Präven­ti­ons­ar­beit das Thema besser in den Griff bekommen.

Man darf nicht vergessen: Deutsch­land ist ein inten­sives Alkohol-Produk­ti­ons­land. Bier, Wein, Super­al­ko­ho­lika, alles wird hier produ­ziert, das heißt, die Lobby ist groß; der relativ frei­zü­gige Umgang mit Alkohol hat System. Das zeigen ja auch mehrere Bespiele in meinem Film.

artechock: Ihr Gesprächs­partner Prof. David Nutt, Neuro­psy­cho­phar­ma­ko­loge am Imperial Collage in London, stuft Ecstasy als weniger gefähr­lich ein als den briti­schen Volks­sport Reiten – und Alkohol als die euro­pa­weit gefähr­lichste Droge. Er unter­suchte die Schäden, die durch Drogen verur­sacht werden anhand einer neuen Skala. Danach gibt es 16 Arten, wie eine Droge Schaden anrichten kann: 9 Arten betreffen den Konsu­menten (Tod, Schä­di­gung des Körpers, Abhän­gig­keit ...) und 7 Arten die Schäden, die der Gesell­schaft zugefügt werden. Es kam heraus, dass die Schäden, die die gesamte Gesell­schaft durch Alkohol erleidet (Verkehrs­un­fälle, Gewalt, Kindes­miss­brauch, Arbeits­aus­fall, enorme Kosten für Gesund­heits­system und Poli­zei­wesen ...), vergli­chen mit jeder anderen Droge, massiv sind. Sein Vorschlag, die Drogen­po­litik haupt­säch­lich auf Alkohol zu konzen­trieren, und sein vehe­menter Einsatz für eine wissen­schafts­ba­sierte Gesetz­ge­bung kosteten ihn seinen Job als Drogen­be­rater der briti­schen Regierung. Sind seine Studien ein Game Changer?

Pichler: David Nutt ist nicht nur ein wahn­sinnig span­nender Gesprächs­partner beim Thema Drogen und Alkohol, sondern eine Koryphäe in seinem Gebiet. Seine Studien sind bahn­bre­chend. Nicht unbedingt ein Game Changer, denn an der briti­schen oder europäi­schen Alko­hol­po­litik hat sich noch nicht viel verändert, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Er hat durch seine Entlas­sung noch mehr Aufmerk­sam­keit bekommen und sein eigenes Institut am Imperial College in London.

artechock: Ihre schöne Heimat Südtirol – mit einer jahr­hun­der­te­alten Wein­kultur, wo Wein als Lebens­eli­xier gilt – wird von Ihren Inter­view­part­nern quasi zum riesigen „Drogen­an­bau­ge­biet“ erklärt. Demnach müssten Drogen­kriege sich nicht nur gegen Schlaf­mohn­bauern in Afgha­ni­stan richten, sondern womöglich auch gegen Wein­bauern in Südtirol. Ande­rer­seits scheint der Alko­hol­sektor für unsere Wirt­schaft und den Export­markt der EU sehr wichtig?

Pichler: Das Umsatz-Volumen des Alko­hol­sek­tors weltweit ist mit dem der Auto­in­dus­trie vergleichbar; Tendenz steigend. Europa ist einer der wich­tigsten, wenn nicht sogar der wich­tigste Alkohol Produk­tions-Standort der Welt. Dann können Sie sich vorstellen, welche Bedeutung Alkohol als Export­markt hat; zumal der Konsum in Europa eher sinkt, während er in soge­nannten Schwel­len­län­dern steigt.

artechock: Mehrere Milli­arden Dollar geben die Konzerne jährlich für Alko­hol­wer­bung aus. Freddy Heineken sagte immer: »Die Leute trinken nicht Bier. Sie trinken Marketing.« Worum geht es bei Ihrem Beispiel vom Liverpool-Hopfen?

Pichler: In einem Gewächs­haus der Firma Carlsberg in Kopen­hagen hat man in die Erde aus dem Liverpool-Stadion Hopfen­pflanzen gesetzt und diese dann über Monitore und Boxen mit Bildern und Sounds aus dem Stadion beschallt. Daraus wurde dann eine Liverpool-Spezial-Edition von Carlsberg Bier gebraut. Man muss wissen, Carlsberg war lange Zeit Sponsor von Liverpool. Die Geschichte ist für mich ein Beispiel, welche Absur­di­täten sich die Bier­kon­zerne einfallen lassen, um ihre Produkte zu vermarkten.

artechock: Alkohol und Fußball ist eine toxische Allianz. Sie gebiert Gewalt­ex­zesse, Verwüs­tungen und teure Poli­zei­ein­sätze, wie bei keinem anderen Sport. Bei der Fußball-WM 1998 fielen betrun­kene deutsche Hooligans wie toll­wü­tige Tiere über den 44-jährigen fran­zö­si­schen Poli­zisten Daniel Nivel her. Sie zertrüm­merten mehrfach seinen Schädel und sein Gesicht und nahmen ihm für immer die Fähigkeit, mit anderen Menschen zu kommu­ni­zieren. Wie skru­pellos ist so ein Geschäfts­mo­dell, wo Alko­hol­kon­zerne, Fußball-Clubs und Fans ihre Inter­essen auf Kosten Dritter ausleben?

Pichler: Ich denke, Bier und Fußball, das ist eine uralte perfekte Kombi­na­tion. Sie hat viel mit dem Wunsch nach Archaik und Rausch zu tun, die man ja unter Umständen im Fuss­ball­sta­dion empfinden kann. An dieser Erzählung wird immer noch weiter­ge­sponnen, wenn auch mit einigen Einschrän­kungen, was den Verkauf von Bier in den Stadien anbelangt. Wie viel Geld da im Spiel ist, zeigt die Tatsache, dass bei den WM-Spielen die Firma Budweiser, seit Jahren einer der Haupt-Sponsoren der Fußball-WM, durch­ge­setzt hat, dass die natio­nalen Einschrän­kungen bezüglich Verkaufs von Bier in Stadien während der WM weit­ge­hend außer Kraft gesetzt werden.

artechock: Herr Drepper, wie viele Opfer und welchen volks­wirt­schaft­li­chen Schaden verur­sacht Alkohol in Deutsch­land?

Daniel Drepper: Verschie­denen Studien zufolge kostet der über­mäßige Konsum von Alkohol die deutsche Gesell­schaft jedes Jahr bis zu 60 Milli­arden Euro. Darin enthalten sind 18 Milli­arden Euro Schmer­zens­geld, die die Branche nach Schätzung der Forscher Betrof­fenen zahlen müsste, wenn sie für die Folgen von Alkohol haftbar gemacht werden könnte. Die Kosten werden natürlich von der Allge­mein­heit getragen, etwa über die Beiträge zur Kran­ken­ver­si­che­rung. Nicht weniger als zehn Millionen Deutsche riskieren laut Bundes­zen­trale für gesund­heit­liche Aufklärung durch über­mäßiges Trinken ihre Gesund­heit. Jeden Tag sterben in Deutsch­land angeblich rund 40 Menschen an den Folgen von Alkohol – also Opfer von Verkehrs­un­fällen oder an gesund­heit­li­chen Folgen.

artechock: Zum Vergleich: Deutschlands Verteidigungsetat 2020 betrug 45 Milliarden Euro und 4 Soldaten starben. Was die Frage provoziert: Widerspricht es nicht dem staatlichen Schutzauftrag, wenn die Selbstzerstörung der Bevölkerung teurer kommt als deren Verteidigung?

Drepper: Dazu kann ich persön­lich nichts sagen. Solche Vergleiche finde ich schwierig. Ich habe zum Thema recher­chiert, aber die poli­ti­schen Schlüsse und Bewer­tungen müssen andere daraus ziehen.

artechock: Die WHO empfiehlt 3 Präven­tions-Maßnahmen als besonders wirksam und gerecht: Alko­hol­steuer erhöhen, Alko­hol­wer­bung und ständige Verfüg­bar­keit beschränken. Die Alko­hol­steuer soll so weit angehoben werden, dass die Konsu­menten den volks­wirt­schaft­li­chen Schaden, den sie anrichten, selbst tragen und diese Steuer dem Gesund­heits­system zugute kommt. Das Verur­sa­cher­prinzip, das in der Umwelt­po­litik gilt, soll auch in der Gesund­heits­po­litik gelten. Warum klappt das nicht in Deutsch­land? Ihre Recher­chen haben aufge­deckt, dass der Einfluss der Alko­hol­in­dus­trie auf die Politik so massiv ist, dass Präven­ti­ons­maß­nahmen verhin­dert werden. Wie funk­tio­niert das? Warum stehen die Inter­essen der Alko­hol­in­dus­trie über dem Gesund­heits­schutz?

Drepper: In unseren Recher­chen für das gemein­nüt­zige Recher­che­zen­trum Correctiv und das ZDF konnten wir zeigen, dass es enge Verbin­dungen zwischen der Alko­hol­in­dus­trie und der Bundes­re­gie­rung gibt. Ein gutes Beispiel ist eine Arbeits­gruppe, die das Ziel hatte, den Alko­hol­konsum zu senken. Die Experten in der Gruppe hatten klare Lösungs­vor­schläge gemacht, die dem wissen­schaft­li­chen Stand entspra­chen, wurden aber von den betei­ligten Minis­te­rien – vor allem dem Wirt­schafts- und dem Ernäh­rungs­mi­nis­te­rium – gebremst. Wir konnten zudem mit Hilfe des Infor­ma­ti­ons­frei­heits­ge­setzes Kommu­ni­ka­tion zwischen der Alko­hol­in­dus­trie und dem Wirt­schafts­mi­nis­te­rium offen­legen. Dort haben wir genau die Forde­rungen gefunden, die das Minis­te­rium dann in die Arbeits­gruppe getragen hat. Ein gutes Beispiel, das zeigt, wie die Industrie durch Druck auf die Regierung eigent­lich sinnvolle Maßnahmen verhin­dert.

artechock: Herr Pichler, Länder wie Island machen es besser. Was haben Sie dort erlebt?

Pichler: In Island war die Situation am Ende der 1990er Jahre was den Alkohol- (und auch sonstigen Drogen-)Konsum bei jungen Jugend­li­chen anbelangt, dermaßen proble­ma­tisch und die klas­si­schen Präven­tions-Maßnahmen derart erfolglos, dass man einen gesell­schaft­li­chen Konsens darin gefunden hat, das Thema auf neuartige und umfas­sende Weise anzugehen. Das mitt­ler­weile inter­na­tional renom­mierte „Islän­di­sche Modell“ ist wissen­schaft­lich und sehr Community based zugleich. Für jeden Ort werden eigene Lösungs­an­sätze auf der Basis ausge­feilter Frage­bogen und Analysen bei den Jugend­li­chen gesucht.

artechock: Herr Drepper, Sie sagen: »Der Alkohol kämpft einen Kampf, den die Tabak­in­dus­trie vor 20, 30 Jahren verloren hat – der Alkohol aber noch nicht. Sein Image ist immer noch eini­ger­maßen in Takt.« Was muss passieren, damit es kippt? Marlboro-Cowboys starben an Lungen­krank­heiten. Ziga­ret­ten­pa­ckungen müssen heute Schock­bilder haben. Tabak­kon­zerne wurden in den USA von Einzel­klä­gern zu Entschä­di­gungs­zah­lungen über 100e Millionen Dollar verdon­nert – weil sie wissent­lich gesund­heits­schä­di­gende Produkte verkauft hätten, die abhängig machten und deren Konsum tödliche Folgen haben könne. Droht Alko­hol­kon­zernen dasselbe? Sind solche Verbrau­cher­schutz­klagen notwendig für einen Bewusst­seins­wandel? Sind sie – wie auch beim VW-Abgas­be­trug – in den USA leichter zu gewinnen als hier?

Drepper: Was passieren muss, dass sich das Image von Alkohol in der Bevöl­ke­rung ändert, kann ich nicht bewerten. Es ist aber eindeutig, dass hohe Entschä­di­gungs­zah­lungen wie die der Tabak­in­dus­trie oder auch aktuell bei Monsanto so nur in den USA und nicht in Deutsch­land möglich sind. Sollten Verbrau­cher den Wandel also über diesen Weg erzwingen wollen, wäre das wohl am ehesten in den USA möglich und nicht hier.

artechock: Herr Pichler, sind die Alko­hol­kon­zerne bereits nervös? Wie verliefen Ihre Gespräche?

Pichler: Die Alko­hol­in­dus­trie war im Prinzip nicht zugäng­lich. Die ganz großen Konzerne wollten mit uns nicht sprechen. Die einzige Ausnahme war Carlsberg in Dänemark, die sich als die kleinen der großen empfinden.

Anheuser Busch Inbev, der größte Bier­kon­zern der Welt, zu dem auch viele der großen deutschen Marken, wie Becks, Fran­zis­kaner oder Löwenbräu gehören, hat uns sogar die bereits mit einem Wirt beim Oktober­fest fest geplanten Dreh­ar­beiten untersagt. (Die Lizenzen gehören beim Oktober­fest nicht dem Wirt, sondern der Brauerei). Die Konzerne haben in Europa und den USA im Moment große Angst davor, so zu enden wie die Tabak­in­dus­trie.

artechock: Tabak- und Alko­hol­kon­zerne weichen in Entwick­lungs­länder aus. Sie haben Nigeria besucht – einen der größten Wachs­tums­märkte im globalen Alko­hol­ge­schäft. Warum ist Afrika für die Bier­in­dus­trie besonders viel­ver­spre­chend?

Pichler: Afrika ist für die Alko­hol­kon­zerne so wie andere Schwel­len­re­gionen besonders inter­es­sant, weil das enorme Wachs­tums­märkte sind. Wir in Europa trinken ja tenden­ziell immer weniger, während in diesen Schwel­len­re­gionen das westliche Lebens­mo­dell, zu dem auch Alkohol gehört, angesagt ist. Mit stei­gendem Wohlstand können sich die entste­henden Mittel­schichten diesen auch leisten.

Außerdem gibt es in Ländern wie Nigeria so gut wie keine Regeln, was Marketing und Verkauf anbelangt. Das heißt, die Konzerne können dort machen was sie wollen.

artechock: Ihr Inter­view­partner Olivier van Beemen wirft in seinem Buch „Heineken in Afrika“ (2019) Heineken quasi-koloniale Geschäfts­ge­baren vor. Das Buch des hollän­di­schen Jour­na­listen ist das Resultat aus über 400 Inter­views, Besuchen in 13 afri­ka­ni­schen Ländern und 6 Jahren Nach­for­schung. Er deckte unter anderem Kompli­zen­schaft bei Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit in Burundi auf; Zusam­men­ar­beit mit gewalt­tä­tigen Rebellen während eines Bürger­kriegs im Kongo; eine wichtige Rolle beim Genozid 1994 in Ruanda, wo Heineken wusste, dass sein Bier dazu diente, die Killer zu moti­vieren und belohnen. Und den Einsatz von „Promo­ti­ons­frauen“ ähnlich wie Prosti­tu­ierte – wovon auch Ihr Film berichtet. Es ist zu befürchten, dass diese Methoden, wie Alko­hol­kon­zerne Geschäfte in Afrika machen, typisch sind. Der ameri­ka­ni­sche Kogni­ti­ons­psy­cho­loge Harvey Milkman erklärt im Film, jede Kultur kenne eigene Wege zur Bewusst­seins­ver­än­de­rung. Weil wir uns durch die Einsicht, dass unser Leben endlich ist, nach einer anderen Dimension des Erfahrens sehnen. Sie haben in Colorado eine „Natural Highs“-Gruppe besucht. Was macht die?

Pichler: Ich finde den Ansatz von Natural Highs extrem spannend. Der besagt im Grunde, dass wir alle Boten­stoffe in unserem Körper selber produ­zieren und stimu­lieren. Also auch z.B. die soge­nannten Glücks­hor­mone Dopamin und Serotonin. Durch die entspre­chende körper­liche und geistige Stimu­lie­rung können wir daher unsere Stim­mungen und Emotionen unmit­telbar verändern; mittels dieser körper­ei­genen Drogen.

Beim Konsum von Drogen wie Alkohol geht es ja fast immer darum, uns in einen anderen emotio­nalen Zustand zu versetzen. Zu wissen, dieses Ziel auch anders erreichen zu können durch körper­liche Tätig­keiten (Laufen, Medi­tieren, Klettern, Liebe-Machen…) in Kombi­na­tion mit der entspre­chenden Sensi­bi­lität und dem Bewusst­sein dafür, finde ich faszi­nie­rend.
Inter­es­san­ter­weise finden gerade viele Jugend­liche diesen Ansatz spannend. So wie das Avani Dilger, die ursprüng­lich aus Augsburg stammt, in Colorado prak­ti­ziert, lernen die Jugend­li­chen dabei wahn­sinnig viel über die Natur ihrer emotio­nalen und psychi­schen Schwan­kungen, und wie sie besser damit umgehen können (ohne Drogen zu nehmen).

artechock: Zurück nach Europa. Frau Skar, wie viele Opfer und welchen volks­wirt­schaft­li­chen Schaden verur­sacht Alkohol in Europa?

Mariann Skar: Laut WHO Europa sterben etwa 300.000 Menschen pro Jahr oder 800 jeden Tag an alko­hol­be­dingten Schäden in der EU/EEA. Innerhalb WHO Europa sind die Zahlen viel höher, etwa eine Million Menschen sterben jedes Jahr an alko­hol­be­dingten Schäden. Verkehrs­un­fälle, die auf Alkohol zurück­gehen, sind ein großes Problem in der EU. 2018 starben auf Europas Straßen 25.150 Menschen und 25% aller Verkehrs­toten sind alko­hol­be­dingt. Wenigs­tens 5.000 Tote wären verhin­dert worden, wenn alle Fahrer nüchtern gewesen wären. Der finan­zi­elle Verlust innerhalb Europa ist massiv, laut WHO wurde er auf etwa 155 Milli­arden Euro pro Jahr geschätzt.

artechock: In Europa war man jahr­hun­der­te­lang auf Bier und Wein zum Trinken und Kochen ange­wiesen, weil Trink­wasser schmutzig und mit Keimen verseucht war. Benebelt vom Alkohol, verharrte die Gesell­schaft in einem dunklen Zeitalter und entwi­ckelte sich kaum weiter. Kurz vor der Fran­zö­si­schen Revo­lu­tion kam der Kaffee nach Europa, wie ein geistiges Aufputsch­mittel. In den Pariser Kaffee­häu­sern entfachte er einen frischen, leiden­schaft­li­chen Geist des Wider­stands, der Revo­lu­tion, der Aufklärung, der Vernunft, der Menschen­rechte und der syste­ma­ti­schen Natur­wis­sen­schaften – wie er im Dunst der Wein- und Bier-Spelunken kaum entstanden wäre. Warum weht über Europa trotzdem bis heute – wie ein bizarrer Atavismus aus dem Mittel­alter – eine so starke Alko­hol­fahne?

Skar: Europa ist die Region in der Welt mit dem höchsten Alko­hol­konsum. Alkohol wird in vielen europäi­schen Ländern intensiv vermarktet, ist leicht verfügbar und billig. Aber Trink­kul­turen ändern sich mit der Zeit, sehr oft durch poli­ti­sche Schritte. Frank­reich ist dafür ein gutes Beispiel, der Konsum ging von 26 Litern 1961 runter auf heute 11,5 Liter. Frank­reich hat bezüglich Alkohol einige Regu­lie­rungen einge­führt wie das Evin-Gesetz (strenge Alkohol-Marketing-Regu­lie­rungen), das 1991 einge­führt wurde, und seit 2007 das Logo, das Schwan­gere vor dem Trinken warnt. Italien folgte dem selben Modell und heute trinken Italiener etwa 7,5 Liter. Norwegen hat strenge Alko­hol­po­litik-Regu­lie­rungen einschließ­lich der WHO „3 Best buys“ – Marketing-Verbot, hoher Preis und ein Alko­hol­mo­nopol – Norweger trinken etwa 6,5 Liter pro Jahr.

Der Konsum von Alkohol ändert sich mit der Zeit und es ist nicht gegeben, dass Europa an der Spitze bleiben wird. Mehr Länder setzen strengere Regeln in Kraft, um alko­hol­be­dingte Schäden zu verhin­dern, und redu­zieren, wie Estland, Litauen, Schott­land und Irland. Hoffent­lich werden mehr Länder folgen.

artechock: Was verhin­dert die Durch­set­zung effek­tiver Präven­ti­ons­maß­nahmen? Wie beein­flusst die Alko­hol­in­dus­trie Europas Gesund­heits­po­litik?

Skar: Die Durch­set­zung effek­tiver Präven­ti­ons­maß­nahmen liegt in der Verant­wor­tung unserer Politiker in Europa. Sie müssen ihre Themen wählen und sind abhängig, wieder gewählt zu werden. Die Alko­hol­in­dus­trie ist in vielen europäi­schen Ländern ein großer Arbeit­geber. Frank­reich aber tut beides, ist ein großer Wein­pro­du­zent und hat gute Alkohol-Präven­ti­ons­maß­nahmen einge­führt – ich bin also hoff­nungs­voll für die Zukunft.

Ja, die Alko­hol­in­dus­trie ist sehr präsent in Brüssel und folgt den poli­ti­schen Diskus­sionen genau. Sie hat viel mehr finan­zi­elle Mittel als jeder Gesund­heits­ver­treter oder die Zivil­ge­sell­schaft und kann deswegen viel besser Einfluss nehmen. Wir sind also abhängig von Trans­pa­renz, wenn es darum geht, wer trifft wen und wie oft, und von Poli­ti­kern und Entschei­dungs­trä­gern, die sich die Zeit nehmen, allen Inter­es­sen­gruppen zuzuhören.

artechock: Wofür steht die European Alcohol Policy Alliance?

Skar: Die European Alcohol Policy Alliance (EUROCARE) ist eine Allianz aus Nicht-Regie­rungs- und öffent­li­chen Gesund­heits-Orga­ni­sa­tionen mit 52 Mitglieds­or­ga­ni­sa­tionen über 21 europäi­sche Länder und Kali­for­nien, einschließ­lich 8 inter­na­tio­nale Orga­ni­sa­tionen, die für die Vorbeu­gung und Redu­zie­rung von alko­hol­be­dingten Schäden eintreten. Die Orga­ni­sa­tion wurde 1990 mit 9 Mitglieds­or­ga­ni­sa­tionen gegründet, als es wachsende Bedenken gab, welche Folgen ein gemein­samer Markt auf die nationale Alko­hol­po­litik hat. Die Aner­ken­nung der Wich­tig­keit von Gesund­heits­fragen ist seitdem auf der europäi­schen poli­ti­schen Agenda nach oben gerückt.

Die Mitglieds­or­ga­ni­sa­tionen machen Empfeh­lungen und Forschung, sie stellen Infor­ma­tionen und Schu­lungen zu Alkohol-Themen zur Verfügung, und Hilfe für Menschen, deren Leben von Alko­hol­pro­blemen beein­träch­tigt ist.
Eurocares Vision ist ein Europa, wo alko­hol­be­dingte Schäden nicht länger zu den größten Risi­ko­fak­toren für schlechte Gesund­heit und vorzei­tigen Tod gehören. Wo europäi­sche Entschei­dungs­träger den durch Alkohol ange­rich­teten Schaden erkennen und effektive und umfas­sende Maßnahmen dagegen ergreifen. Eurocare ist anerkannt als die führende europäi­sche öffent­liche Gesund­heits­or­ga­ni­sa­tion für alko­hol­be­zo­genen Dialog und Maßnah­men­ent­wick­lung.

Wir haben die Präven­tion von alko­hol­be­dingten Schäden als Teil des Europe Beating Cancer Plan etabliert. Wir sind aktiver Partner von WHO Europa und WHO Genf zu Alkohol. Und haben die Kenn­zeich­nung von alko­ho­li­schen Getränken hoch auf die poli­ti­sche Agenda gebracht.

artechock: Gesund­heit-, Klima- und Umwelt­schutz haben aktuell höchsten Stel­len­wert in Politik und Gesell­schaft. Die Corona-Pandemie hat viele Miss­stände offen­ge­legt und riesige Kosten verur­sacht. Wäre das nicht ein guter Zeitpunkt, Alko­hol­kon­zerne für die von ihnen verur­sachten immensen volks­wirt­schaft­li­chen und gesund­heit­li­chen Schäden – entspre­chend dem Verur­sa­cher­prinzip – vor Gericht zu bringen und sie dafür zahlen zu lassen?

Skar: Gemäß dem Verur­sa­cher­prinzip? Gute Frage. Ich glaube, die meisten Europäer sehen Alkohol nicht im Sinne von Schäden wie durch Umwelt­ver­schmut­zung oder Tabak. Alkohol hat ein positives Image, Parties, Feiern und ist sogar Teil reli­giöser Zere­mo­nien. Noch wichtiger – die Zivil­ge­sell­schaft, die daran arbeitet, alko­hol­be­dingte Schäden zu verhin­dern oder zu redu­zieren, hat viel viel weniger Geld­mittel als die Umwelt­or­ga­ni­sa­tionen.

Wir hatten Vorschläge, Ländern wie Thailand zu folgen, die eine 2%-Extra-Steuer auf alle Alko­hol­pro­dukte einführten, die in Präven­tion flossen – aber soweit ich weiss, wurde das nicht in Europa gemacht.

Eurocare wollte die Regie­rungen vor Gericht bringen, weil sie nicht dafür sorgen, dass die Bevöl­ke­rung über die Inhalts­stoffe von Alkohol infor­miert ist und über die Gefahren des Produkts auf dem Label. Leider haben wir bis jetzt keine Anwälte gefunden, die das pro bono machen. Wir können nicht, wie Umwelt­or­ga­ni­sa­tionen, Industrie oder Regie­rungen vor Gericht bringen. Wir haben viel zu wenig Leute und Finan­zie­rung. Als eine europäi­sche Dach­or­ga­ni­sa­tion haben wir 2,4 Stellen, die an Richt­li­nien und Projekten arbeiten. Zum Glück haben wir viele gute Mitglieder mit mehr Mitteln auf natio­naler Ebene.