05.06.2025

»'Objektivität' ist hauptsächlich ein Alibi«

Marcel Ophüls
Marcel Ophüls (1927-2025)
(Foto: Wikicommon)

»Speer war charmant, Dönitz dumm«: Der Regisseur Marcel Ophüls über seinen Vater Max, über Deutschland nach 1945, jüdische und französisch Identität, das Kino und die Begegnungen mit großen und kleinen Nazitätern

Marcel Ophüls, 1927 in Frankfurt geboren, Jahr­zehnte in Paris und Südfrank­reich lebend, und vor zehn Tagen mit 97 Jahren verstorben, war einer der wich­tigsten Doku­men­tar­film­re­gis­seure der Gegenwart. In Filmen über die Bela­ge­rung von Sarajewo, den Prozess gegen den Gestapo-Chef von Lyon, Klaus Barbie, oder die Kolla­bo­ra­tion der Franzosen hat er sich den Tätern gestellt, so wie Claude Lanzmann, sein einstiger Freund und späterer Antipode, den Opfern. Ophüls’ persön­li­ches Lieb­lings­werk ist »The Memory of Justice«, zu deutsch »Nicht schuldig«, über die Nürn­berger Prozesse und insbe­son­dere Hitlers Archi­tekten und Rüstungs­mi­nister Albert Speer. Über 30 Jahre war der Film in den Archiven verschollen und praktisch nicht zu sehen, 2014 wurde er restau­riert und bei Berlinale 2015 neu aufge­führt.
Im Berliner Propyläen Verlag sind ebenfalls 2015 Ophüls’ Memoiren »Meines Vaters Sohn« (320 S., 22 €) erschienen. Darin erzählt er von seinem Vater, dem berühmten Regisseur Max Ophüls, und berichtet anek­do­ten­reich und mitunter bissig über Begeg­nungen mit Marlene Dietrich, Bertolt Brecht, Jean-Paul Belmondo und vielen anderen.
Aus diesem Anlass wurde 2015 und 2016 ein mehr­tei­liges Interview geführt, aus dem die nach­fol­genden Auszüge stammen.

Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland

artechock: Marcel Ophüls: Lieber Marcel Ophüls, Ihr Vater Max Ophüls musste als Jude 1933 Deutsch­land verlassen und kehrte dennoch nach 1945 relativ bald zurück. Warum?

Marcel Ophüls: Mein Vater gehörte zu den wenigen Emigranten, die keine Ressentiments hatten, keine Rachegefühle, keine negative Einstellung. Er war ganz und gar von der deutschen Kultur geprägt. Als er emigrieren musste, hatte er ja mehr als 100 Theaterinszenierungen hinter sich. Er war nicht der Einzige, dem es so ging, bei Fritz Kortner war es ähnlich. Ihr Bedürfnis, wieder mit Deutschland und mit deutschen Menschen Kontakt zu haben, war deshalb wahrscheinlich sehr viel größer als bei vielen anderen.

artechock: Und bei Ihnen?

Marcel Ophüls: Wie so oft war ich in meiner Haltung sehr stark beein­flusst von meinem Vater. Deutsch war unsere Fami­li­en­sprache, die Intim­sprache. Ich weiß noch, wie ich bei Aachen über die Grenze kam. Plötzlich standen auf dem Bahnsteig lauter Leute, die meine Intim­sprache sprachen. Ich erinnere mich an eine Dame, die laut auf dem Bahnsteig sagte: »In einer Stunde erblicke ich Dieters Antlitz.« Das ist mir im Gedächtnis geblieben. Deutsch war zwar unsere Intim­sprache, aber wir haben, glaube ich, das Wort »Antlitz« nie benutzt.

artechock: Sie waren im Exil aufge­wachsen. Wie haben Sie als junger Erwach­sener die Deutschen der Nach­kriegs­zeit erlebt?

Marcel Ophüls: In meiner zweiten Heimat, den USA, war die Atmo­sphäre sehr frei­heit­lich und opti­mis­tisch, nachdem man den Krieg gewonnen hatte, eine Mischung aus Naivität und Zukunfts­glauben. Man sprach von: »The Victory of American Democracy«. Das schien auch mir eine Art von Selbst­ver­s­tänd­lich­keit. Im zerstörten Europa war das tägliche Leben ganz anders und viel kompli­zierter, auch innerlich kompli­zierter. Das habe ich erst allmäh­lich verstanden und verar­beiten können im Zusam­men­hang mit meinem eigenen Leben. Die Deutschen waren steif, kühl, beschämt, wenn Sie so wollen. Es hat lange gedauert, bis sie lockerer wurden. Die 1950er-Jahre erscheinen im Rückblick paranoid und repressiv. Zum Teil ist das aber eine Täuschung. Die Bewe­gungen der 60er-Jahre haben rück­wir­kend propa­gan­dis­tisch gear­beitet, auch um sich selbst heroisch erscheinen zu lassen.

artechock: Zu diesen frühen rebel­li­schen Sech­zi­gern gehörte auch das Schlag­wort des »Neuen Deutschen Films«: »Papas Kino ist tot«.

Marcel Ophüls: Bei »Papas Kino ist tot« war meine Reaktion eine ganz einfache: Nein, meines Papas Kino ist nicht tot. Was natürlich auch nicht ganz stimmte. Denn die Nouvelle Vague und das Neue Deutsche Kino waren richtig. Es gab viel aufzu­räumen, es war sehr notwendig. Durch die Nazi-Zeit und den Zweiten Weltkrieg war es auch in der Kultur zu Verstei­fungen gekommen. Es galt, frische Luft rein­zu­lassen. Man hat aber bestimmt auch den Gegner künstlich groß gemacht.

artechock: Ist das deutsche Kino und unser Verhältnis zum Kino an sich nach wie vor durch die Erfahrung des »Dritten Reichs« geschä­digt?

Marcel Ophüls: Zunächst hat das »Dritte Reich« natürlich die Tradition zerstört, indem es Künstler wie meinen Vater, Fritz Lang, Robert Siodmak, Billy Wilder und viele andere vertrieben hat – das ist ja evident. Seit die Nazis das Kino zur Propa­gan­da­ma­schine aufbauten, nimmt man die Filmkunst in Deutsch­land weniger ernst, als andere Künste. Kino ist nicht hoffähig. Aller­dings war das auch vor dem Krieg teilweise unter den Künstlern der Fall. – Es stimmt jeden­falls, dass die Cine­philie in Frank­reich erfunden wurde. Die Idee, dass man über Film eine ganze Welt­kultur entdecken kann.

artechock: Ihre Auto­bio­grafie haben Sie »Meines Vaters Sohn« genannt. Eine mutige Entschei­dung, sich in Ihrem Alter – Sie haben das Buch mit 86 geschrieben – als Sohn zu posi­tio­nieren.

Marcel Ophüls: Ach, wissen Sie, wenn ich es nicht zugeben würde, würden es die anderen für mich tun. Es liegt ja auf der Hand. Außerdem gibt es keinen Grund, sich dafür zu entschul­digen oder damit unzu­frieden zu sein. Diesen Vater gehabt zu haben, als Beglei­tung ins Leben, als Lehr­meister, als Freund, vor allem als Freund, ist ein unglaub­li­ches Privileg.

artechock: Was war das Besondere an Ihres Papas Kino?

Marcel Ophüls: Seine Filme haben diese unwahrscheinliche Harmonie, dieses Gefühl, so wahnsinnig, wenn auch in tragischer Weise, aber mit Lebenslust mit dem Leben fertig zu werden: Ja, das Leben ist eine Tragödie, aber man muss es in die Hand kriegen. Dieses geradezu musikalische Gefühl – mein Vater hatte eine einzigartige musikalische Einstellung zum Leben. Er hat zu Hollywood kein negatives Verhältnis gehabt. Aber Lieblingsregisseur von meinem Alten war ganz klar und ohne jeden Zweifel Friedrich Wilhelm Murnau. Weit vor allen anderen.

artechock: Sie traten dann selbst in seine Fußstapfen, wurden aber nach zwei Spiel­filmen zum Doku­men­ta­risten, der sich mit Schuld und Sühne und dem Faschismus im 20. Jahr­hun­dert befasste. Wie kam es dazu?

Marcel Ophüls: Das kam einfach auf mich zu. Ich musste Geld verdienen. Als Spielfilmregisseur konnte ich das nicht, nachdem mein zweiter Film keinen Erfolg hatte. Ich habe kein Sendungsbewusstsein empfunden. Ich hatte mir nicht von vornherein vorgenommen, jetzt mein Leben lang den Leuten ins Gewissen zu schauen und sie zu entlarven.

artechock: Sie haben dann aber sehr schnell vor allem mit den Tätern zu tun gehabt – Schreib­tisch­täter, Soldaten und reine Killer. Wie tritt man Menschen gegenüber, die, wie Klaus Barbie oder Albert Speer, einen in früheren Jahren poten­ziell ermordet hätten?

Marcel Ophüls: Ich habe darüber nicht viel nachgedacht. Vielleicht habe ich mir durch eine Mischung aus Leichtsinn und Abenteuerlust eine Art dicke Haut angeschafft. Das ist schon möglich. Wenn man sich auf so eine Situation einlässt, in so einen Tunnel hineingeht, versucht man erst einmal, persönliche Gefühle zu vergessen oder so zu tun, als würden sie nie aufkommen. Speer war natürlich mitverantwortlich für Tausende und Abertausende von geopferten Leben. Zugleich war er ein sehr charmanter Mann, mit dem man leicht und gut und zum Teil auch lustig Gespräche führen konnte. Kaum zu glauben, oder?

artechock: Und Großad­miral Karl Dönitz, Hitlers Nach­folger als Staats­ober­haupt?

Marcel Ophüls: Gerade Dönitz reagierte sehr, sehr dumm. Da hat Hitler sich doch in den letzten Tagen den Allerdümmsten ausgesucht. Dönitz entlarvte sich selbst. Als ich das Interview mit ihm gedreht habe, kam ich absichtlich zu spät, um ihn aus der Fassung zu bringen. Er war dann auch sehr verärgert. Umso überraschter war ich, als wir fertig waren. Da stand er auf und fragte: »Nun, war ich gut?« (lacht)

artechock: Ihr erster Doku­men­tar­film Das Haus nebenan – im fran­zö­si­schen Original »Le Chagrin et la Pitié« – handelt von Wider­stand und Kolla­bo­ra­tion in der fran­zö­si­schen Stadt Clermont-Ferrand. Was hat Sie dort besonders inter­es­siert?

Marcel Ophüls: Clermont-Ferrand haben wir ausgesucht, weil es in der Stadt sehr verschiedene soziale Kategorien gab. Trotzdem glaube ich nicht, dass der Film sehr soziologisch war. Einen statistischen Mittelwert zu spiegeln, hoffe ich vermieden zu haben. Es ging in dem Film zunächst einmal um die Entscheidungen, die von den Franzosen unter der deutschen Besatzung getroffen worden sind. Die meisten versuchten einfach, zu überleben und sich aus der Zeitgeschichte herauszuhalten, sich in den privaten Raum der Familie zurückzuziehen, und sich dadurch auch vor Gewalt zu schützen. Aus zunächst einmal sehr verständlichen Gründen verhält sich die Mehrheit in solchen Krisensituationen immer so. Diejenigen, die sich dann entscheiden, zu kollaborieren oder Widerstand zu leisten, sind immer eine kleine Minderheit. Weil Widerstand zu leisten auch in dieser Zeit eine sehr riskante Sache war. Es gab Folterungen, die anderen Familienmitglieder wurden auch drangsaliert.

artechock: Darum ging es: die kleinen Entschei­dungen, die den Rest des Lebens prägen?

Marcel Ophüls: Ja. Viel­leicht waren es bei Speer auch kleine Dinge. Die Verfüh­rung durch die Macht, durch seine Stellung als Architekt des Führers. Er wollte einfach Karriere machen. Barbie, den ich in »Hotel Terminus« porträ­tierte, hatte eigent­lich Priester werden wollen – man mag es kaum glauben. Der Tod seines Vaters brachte ihn dann dazu, zur Polizei zu gehen.

artechock: Man hat bei Ihrer Art der Arbeit mit der Kamera den Eindruck, Sie nehmen sich viel Zeit, damit Ihre Prot­ago­nisten die Kamera vergessen…

Marcel Ophüls: … ich glaube nicht daran, dass die Leute die Kamera vergessen. Es gibt Kollegen wie zum Beispiel Frederick Wiseman, die ernsthaft davon überzeugt sind, dass man so arbeiten kann, dass die Leute sie vergessen. In der Hinsicht ist vieles leichter geworden, weil überall im Leben Kameras auftauchen. Ganz abgesehen von den Überwachungskameras. Sie sind überall, sie beeindrucken nicht mehr. Zu meiner Zeit war eine Kamera etwas, das nicht nur beeindruckend war, sondern sogar als Waffe empfunden wurde. Eine Autorität. Es ging also darum, so mit den Leuten umzugehen, dass die sich trotz der Kamera- Anwesenheit wohl fühlten.

artechock: Sie haben sehr verschie­dene Kate­go­rien von Mördern getroffen: Schreib­tisch­täter und Soldaten.

Marcel Ophüls: Es ist mir natürlich nicht so gemütlich zu denken, dass ich in dieser Hinsicht ein Spezialist geworden bin: Mörder aufzusuchen und vor die Kamera zu stellen. Ich fühle mich nicht wohl in der Rolle eines Polizisten und schon gar nicht in der Rolle eines Richters. Ich bin halt jemand, der sich mit dem Zeitgeschehen auseinandergesetzt hat. Aber ich hatte mir das nicht von vornherein vorgenommen.

artechock: Hat sich Ihre Arbeit über die Jahr­zehnte sehr verändert?

Marcel Ophüls: Das wirklich Neue sind das Internet und der persönliche Computer. Das hat auch das Kino wahnsinnig verändert. Wir haben kaum noch Zeit, Informationen zu verarbeiten. Es gibt eine Inflation der Bilder, das Einzelne ist weniger wert – das macht die Arbeit der Dokumentarfilmer schwerer. Beim Bundesarchiv in Koblenz hat man mir bereits in den 1970er-Jahren gesagt: »Ach, Herr Ophüls, Sie können sich ja gar nicht vorstellen: 90 Prozent von dem, was wir haben, liegt unten durcheinander im Keller. Das ist noch nicht mal indexiert; wir haben keine Zeit gehabt, das auch nur anzusehen.« Heute ist es noch mehr. Ich glaube aber nicht, dass das alles nutzlos ist. Nehmen wir das Material zum Mord an den Juden: Wenn man sieht, wie öffentlich das war und wie öffentlich die Sonderkommandos gearbeitet haben, dann versteht man, dass der Gedanke, die Deutschen hätten von all dem nichts gewusst, ein völliger Wahnsinn ist. Die konnten nicht nichts gewusst haben. Wenn uns das Material dies klar macht, hilft es dann beim Leben, dass wir es wissen? Eigentlich nicht. Es ist eine grauenhafte Vorstellung.

artechock: Empfinden Sie eigent­lich so etwas wie eine jüdische Identität?

Marcel Ophüls: Ich glaube nicht an den lieben Gott – der Gedanke ist mir unap­pe­tit­lich. Aber wir wissen es natürlich nicht. Meine jüdische Identität ist für mich daher auch nur ein poli­ti­sches Thema. Politisch verleugne ich sie nicht, im Gegenteil. Ansonsten inter­es­siert sie mich nicht.

artechock: Sie arbeiten aktuell an einem neuen Film. Können Sie uns mehr verraten?

Marcel Ophüls: Darüber möchte ich bitte nicht reden, bevor der Film fertig ist. Aber ich hoffe, es wird ein gelungener Film.

artechock: Nehmen Sie das Kino ernst? Kann das Kino die Welt verändern?

Marcel Ophüls: Ich weiß nicht, ob es pathetisch ist oder nicht: Ich glaube zwar nicht, dass Kino die Welt verändern kann. Aber es kann sich engagieren, Position beziehen. Die Frage stellt sich immer. Einzelne Filme, wenn sie zur rechten Zeit kommen, können viel auslösen. Wenn wir einen Film wie »Das Haus nebenan« nicht gemacht hätten, wären andere gekommen. Die Ereignisse um die Attentate auf die »Charlie Hebdo«-Redaktion zeigten, was engagierte Kunst auslösen kann. Aber als Franzose und überhaupt als Mensch unserer Zeit freue ich mich vor allem wahnsinnig über diese vier Millionen Menschen, die für die Satirezeitschrift und die Meinungsfreiheit in Frankreich auf die Straße gegangen sind. Das war eine wunderschöne und sehr notwendige Reaktion. Was geschehen ist, war schrecklich, aber ohne die vier Millionen solidarischer Menschen wäre es noch viel schrecklicher. Die Gegenseite, der Hass, die Ressentiments, und jetzt die Gegenwirkung, die wunderschön ist. Nach dem Attentat im »Bataclan« noch viel mehr, als nach »Charlie Hebdo«. Weil die Franzosen, meine Landsleute, ich auch, wieder entdeckt haben, wie schön und wie wichtig es ist, Franzose sein zu dürfen. Es ist ein so wunderschönes Land. Eine so große Kultur. Man muss alles tun, um zu erhalten, was erhalten werden kann. Das bedeutet also auch: Kämpfen gegen Marine Le Pen und gegen all diese fanatischen Kräfte, die zerstören wollen. Es gehört auch zu französischen Traditionen, dass man ab und zu mal auf die Barrikaden steigt ... Das kann sehr leicht wieder passieren, es kann ja positive Wirkungen haben. Die Zukunft ist sowieso nicht rosig. Es wird ein sehr schwieriges Jahrhundert.

artechock: Sie haben das schwie­rige 20. Jahr­hun­dert durchlebt. Als ein Deutscher, der in Frankfurt am Main geboren wurde, wurden sie bereits als Kind aus Deutsch­land vertrieben. Dann später nochmal von der deutschen Besatzung aus Frank­reich. Sie waren also zweimal Flücht­ling. Und als Filme­ma­cher haben Sie von Flücht­lings­schick­salen ebenso erzählt wie von Tätern. Wie blicken Sie vor dem Hinter­grund dieser Erfahrung auf Deutsch­land und auf unsere jetzigen Debatten? Fühlen Sie sich denn mit den Flücht­lingen verbunden?

Marcel Ophüls: Ja, das hat natürlich auch mit meiner Geschichte zu tun. Ich hoffe, es wäre auch so, wenn ich nicht eine Kindheit als Flücht­ling gehabt hätte. Zudem war ich ja ein privi­le­gierter Immigrant, weil mein Vater berühmt war. Aber die Leis­tungen der Deutschen sind großartig, zugleich macht mich die gegen die Migranten gerich­tete rassis­ti­sche Debatte betroffen, weil sie oft so unsach­lich und popu­lis­tisch geführt wird.

artechock: Was ist das Schwie­rigste, wenn man ein Flücht­ling ist?

Marcel Ophüls: Ich würde vermuten, dass das verschieden ist, je nach dem, in welchem Alter man sich befindet, wenn man fliehen muss. Bei der ersten Flucht war ich fünf, bei der zweiten – vor den Deutschen, die unsere neue Heimat Frankreich überfielen – bereits ein Teenager. Kindheit ist leichter, weil man das Glück hat, Eltern zu haben, die für einen sorgen. Und das erste Exil blieb nicht lange Exil. Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit. Zur Sprache: Ich musste halt – so wie man ins Wasser geworfen wird und schwimmen lernt, weil man sonst untergeht – Französisch lernen. Ich glaube nicht, dass das sehr schwierig war. Ich glaube, Pubertät ist vielleicht die schwierigste Zeit, erst recht, wenn dann noch ein völlig fremdes Land dazu kommt. Die Sprache ist nicht das Schwierigste, aber die völlig anderen Sitten in den USA: Sex, Fußballspielen. Das war schwierig. Ich kann mir vorstellen, dass solche Unterschiede bei den Flüchtlingen eine Rolle spielen. In anderen Altersstufen ist man schutzlos auf andere Art.

artechock: Herr Ophüls, Sie sind ja auch auf Ihre Art ein Jour­na­list. Einer­seits bean­spru­chen Medien und Jour­na­listen immer objektiv zu sein...

Marcel Ophüls: Nein, nicht die Jour­na­listen. Die Medi­en­bosse verlangen die soge­nannte Objek­ti­vität. Ich weiß gar nicht, ob es so was gibt. Objek­ti­vität ist haupt­säch­lich ein Alibi für Neutra­lität.

artechock: Wie ist dann die richtige Rolle der Medien? Sollen Medien Ihrer Ansicht nach neutral sein, oder müssen sie auch erziehen und Prin­zi­pien und Werte vermit­teln?

Marcel Ophüls: Da muss man sich, glaube ich, als Journalist in Acht nehmen. Man darf nicht pädagogisch werden. »All the news that fit to print« ist das Motto der New York Times. Es geht schon darum, dass der Hauptjob von Journalisten darin besteht, die Nachtrichten zu bringen, so wie sie kommen. Aber vieles liegt im Auge des Betrachters: Wen fragt man zuerst, wenn es brennt? Die Feuerwehr, die Opfer oder den Brandstifter?

artechock: Gibt es ein durchgängiges Thema für Sie, was alle ihre Filme – über Kollaboration in Frankreich, über NS-Täter, über den Krieg und die Medien zum Beispiel im jugoslawischen Bürgerkrieg – was alle diese Filme miteinander verbindet?

Marcel Ophüls: Das ist zu hoch geschraubt. Das ist ein Beruf. Man verdient sich seine Brötchen damit. Dadurch dass ich Spezialist geworden bin für Zeitgeschehen, ist es die Zeit, die die Verbindung bringt. Wir leben, glaube ich, nicht neugierig genug. Aber in meinem Beruf wäre es für mich und für das Publikum furchtbar langweilig, wenn der Filmemacher nicht neugierig wäre.