»Geht dorthin, wo die Stories sind!« |
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Werner Herzog mit Mikhail Gorbatschow in Herzogs neuem Film Meeting Gorbachev | ||
(Foto: Werner Herzog, André Singer / Filmmuseum München) |
Das Gespräch führte Thomas Willmann
Er ist einer der rastlosesten Filmemacher des Weltkinos. Das Œuvre von Werner Herzog, Jahrgang 1942, kennt seit Jahrzehnten vor allem eine Konstante: Die Überraschung. Er wandert darin an die entlegensten Orte, kennt keine Grenzkontrollen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm, und beweist eine Wachheit und Neugier, die selbst im jungen Kino selten ist. Doch wohin es ihn treibt, bleiben seine Weltsicht, seine Stimme unverkennbar.
Dieses Wochenende ist Werner Herzog im Filmmuseum München zu Gast, zur Verleihung des 3. Werner-Herzog-Filmpreises, und zur Präsentation seines neuen Dokumentarfilms Meeting Gorbachev.
Artechock: Sie sprechen in Ihrem neuen Film vom griechischen Gott „Kairos“ – dem Gott des richtigen Moments, den man am Schopf packen muss, bevor er vorüber ist. Ist das in gewisser Weise einer Ihrer Hausgötter?
Werner Herzog: Die Frage ist interessant, ich hab sie mir so noch nicht gestellt.
Wenn Sie den Gott ein bisschen weiter die Arme ausbreiten lassen, dann ist es wohl einer meiner Hausgötter. Wenn man mit einbeziehen kann: Initiative – und das hat ja immer auch mit Zeitpunkt zu tun. Etwas bewusst angehen, das seinen bestimmten Moment hat.
artechock: In Ihrer Filmographie scheint mir viel, was so nur in dem einen Moment möglich gewesen ist.
Herzog: Da würd ich vorsichtig sein, weil das würde ja bedeuten, dass ich Kino gemacht habe, das jeweils im Trend liegt. Das wäre total falsch, weil ich nie nach einem Trend ging.
artechock: Nein, gar nicht im Sinne von Trend, sondern Konstellationen, die sich nur in dem Moment so ergeben konnten.
Herzog: Ich muss es vielleicht anders sagen: Es sind immer wieder Zeiten da, wo sich Figuren aufdrängen aus dem Nichts. Oder Begebnisse, Personen, über die ich stolpere, oder Dinge, die mir in den Schoß fallen, ohne dass ich weiß warum – und dabei erkenne: Das ist so groß, das muss ich jetzt machen.
Das Problem bei mir ist, dass ich immer viel zu vieles an solchen elementaren Personen, Ereignissen, Stories habe. Während wir hier
miteinander sitzen, würde ich eigentlich schon gerne den fünftnächsten Film in der Zukunft gefilmt haben.
artechock: Warum war für den Gorbatschow-Film jetzt der richtige Zeitpunkt?
Herzog: Wohl vor allem im Politischen. Und Gorbatschow hat ja zu Honecker berühmterweise gesagt: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.« Honecker hat geantwortet: Die DDR kann gar nicht mehr verbessert werden – das ist sozusagen nahe am Paradies auf Erden. Das war die offizielle Linie. Und Gorbatschow hatte recht, das Leben hat mit der Strafe nicht lange gewartet.
artechock: Auch Gorbatschow ist jemand, der einmal die richtige Gelegenheit ergriffen und Weltbewegendes geschafft hat. Aber dann auch – Sie schildern ihn im Film explizit als tragische Figur – den zweiten Zeitpunkt verpasste, und die Geschichte ist sozusagen über ihn hinweggerollt...
Herzog: Ich glaube nicht, dass Gorbatschow irgend einen Zeitpunkt verpasst hat. Ich will jetzt da nicht tief in politische Theorie eindringen, aber ich glaube – und er sagt das ja auch ganz klar – die Kräfte, die sich ihm entgegengestellt haben, wurden zu überwältigend. Es war eine Lawine losgetreten gewesen, und zwar nicht nur von politischen Figuren wie Jelzin und anderen, sondern Ereignisse vor Ort... Wenn Sie sich die Menschenkette in den baltischen Staaten anschauen, wo 40% der Gesamtbevölkerung dieser drei Länder teilgenommen haben – und die wirklich eine lückenlose Menschenkette durch Wälder und Felder und Kleinstädte und Dörfer gebildet haben. Dann ist das ein Ereignis, das so überwältigend ist, dass es keine Rolle mehr gespielt hätte, ob sich Gorbatschow jetzt dagegen stellt oder nicht. Es sind Nationen in ihrem Selbstbewusstsein und ihrem Patriotismus erwacht, und haben ihre eigene Stärke erkannt. Und Gorbatschow hat den richtigen Zeitpunkt auch da getroffen. In dem Moment, wo sich in Alma-Ata am Tag vor Weihnachten 1991 die noch übrigen Länder oder Staaten der Sowjetunion zur Auflösung zusammengefunden haben – zwei Tage nach Weihnachten ist der Gorbatschow sofort zurückgetreten. Das heißt er hat ja den Moment seines Rücktritts auch richtig erkannt.
artechock: Trifft es besser, wenn man sagt: Gorbatschows Tragik besteht nicht in der Auflösung der Sowjetunion, sondern dem, was danach kommt? Im Film gibt es ja quasi die böse Pointe beim Begräbnis von Gorbatschows Frau Raisa, wo Putin als Trauergast auftritt.
Herzog: Nein, das ist keine böse Pointe. Putin hat mit Sicherheit authentisch Beileid bekundet, das können Sie nicht wegleugnen. Putin und Gorbatschow respektieren sich menschlich und auch politisch zu einem gewissen Grad. Da gibt’s große Unterschiede – aber die Dämonisierung Russlands und Putins ist ein riesiger Fehler.
artechock: Aber im Vergleich zu der Hoffnung, die sich bei Gorbatschow aufgetan hat, ist es doch allemal ein Rückschritt, zumindest zur Autokratie. Der ja nicht nur in Russland zu beobachten ist, sondern leider momentan weltweit.
Herzog: Ja, da geb ich Ihnen Recht. Und ich glaube auch, dass das erklärbar ist aus der tiefen Geschichte Russlands. Russland ist ein Jahrtausend lang immer von autokratischen Systemen regiert worden – die Zaren, Stalin, die sowjetischen Führer. Das lässt sich nicht so ohne weiteres aus dem politischen Leben entfernen. Und Putin hat glaube ich erkannt – das ist natürlich auch zu seinem Vorteil – dass dieses Land nur regierbar ist in einer Weise, wie er das im Moment tut. Gorbatschow war – ich sag’s jetzt mit aller Vorsicht – zu liberal, zu demokratisch, als dass er die Union wirklich hätte zusammenhalten können. Da muss man ein bisschen tiefer in die Geschichte hineinschauen.
artechock: Wie haben Sie Gorbatschow als Mensch erlebt. Kannten Sie ihn vorher?
Herzog: Nein, ich kannte ihn nur so wie ein normaler Zeitungsleser oder Fernsehzuseher aus den Abendnachrichten. Aber selbst auf solch eine Distanz hin konnte man sofort sehen: Da ist ein besonderer Mensch und auch ein besonderer politischer Wille am Arbeiten. Immer eindrucksvoll.
artechock: Mein Eindruck im Film ist, dass er jetzt noch sehr darum bemüht ist, die Deutungshoheit über sein Lebenswerk zu erhalten.
Herzog: Das steht ihm auch zu. Das Recht hat er. Er hat ja auch mehrere Bücher publiziert nach seiner Abdankung, die sehr erläuternd sind. Es gibt auch Memoiren von ihm, in denen er sich sehr genau erklärt.
Und es gibt auch eine von ihm gutgeheißene Biographie von William Taubman, die wirklich ganz außerordentlich gut recherchiert und lesbar erzählt ist. Wir haben Taubman sozusagen als Berater und Korrektiv eingeladen. Den musste ich
öfters befragen: »Stimmt denn das überhaupt so? Und stimmt das mit Ihren Recherchen überein?« Die ja über mehr als ein Jahrzehnt gegangen waren. Da hatte der Biograph mir unendlich viel an Festland voraus.
artechock: Ich muss gestehen: Als ich gelesen habe, Ihr neuer Film sei Meeting Gorbachev, war ich zunächst etwas überrascht. Das klingt auf dem Papier nicht nach einem typischen Werner Herzog-Thema: Ein Portrait einer berühmten Person der Zeitgeschichte...
Beim Anschauen war mir dann aber nach spätestens zehn Minuten klar: Es ist freilich durch und durch ein Werner Herzog-Film...
Herzog: In meinen Filmen sind zwar die Themen unterschiedlich – aber es gibt eine gewisse Weltsicht, die immer irgendwie durchscheint. So auch in diesem Film.
Im deutschen ist der Titel übrigens: Gorbatschow – Eine Begegnung. Wir – und ich rede jetzt von „wir“, weil es ja einen Co-Regisseur gibt, André Singer, der natürlich genauso hier an den Tisch gehören würde – wir haben uns
überlegt, wie schnell das missverständlich sein könnte, wenn wir einen falschen Titel wählen. Alle Welt hätte sich unter Umständen erwartet, wir machen eine Biographie Gorbatschows, wenn es nur geheißen hätte Gorbatschow – Ein Politisches Leben, oder wie auch immer.
So war klar: Erwartet Euch nicht eine Biographie, erwartet Euch nicht politische Theorie – hier ist eine Begegnung mit einem Mann von weltgeschichtlicher Bedeutung, aber auch
einem Menschen. Vielleicht der stärkste Anteil, den ich an dem Film hatte, war dass ich immer wollte: Wir müssen Gorbatschow auch aus seiner Biographie verstehen. Wir müssen Gorbatschow als Politiker, aber auch als Mensch erkennen. Wir müssen versuchen, auch in seine Seele zu schauen.
Und gleichzeitig habe ich immer gesagt: Er ist eigentlich eine Quintessenz Russlands, ein russischer Mensch. Ich will wenigstens in leisen Anklängen auch in die Seele Russlands schauen. Und deswegen
steht am Schluss des Films die Szene, als er auf einmal ein Gedicht von Lermontov rezitiert. Das Gedicht ist so tief und so außerordentlich und so schön, dass ich es gleich im Anschluss als Rolltitel noch einmal laufen lasse.
Da verschlägt’s einem den Atem, weil sie für 30 Sekunden lang auf einmal in die Seele Russlands schauen. Und zwar über den Dichter Lermontov, und über den Menschen Gorbatschow und über alles hinweg.
artechock: Wie die meisten Ihrer Filme ist es nicht nur ein Film über einen Menschen, sondern auch über die Menschheit. Ich hatte das Gefühl, dass viel mitschwingt davon, wo wir heute wieder sind. Wo Trump ankündigt, er möchte das Atomwaffenabkommen aufkündigen, wo überall die Autokraten wieder erstarken, wo viel der Hoffnung wieder verloren geht und die Menschheit ihren ewigen Willen offenbart, anscheinend doch eher ihrem Untergang entgegenstreben zu wollen.
Herzog: Es wäre ein gefährlicher Irrtum, diesen Vertrag aufzulösen, der ja über lange Zeit hinweg funktioniert hat. Es ist ja nicht nur ein Vertrag – sondern die Kurz- und Mittelstreckenraketen und die atomaren Sprengköpfe sind ja de facto zerstört worden. Man hat sie nicht einfach in den Schrank gestellt und lässt sie verstauben.
Es gibt trotzdem immer noch auf beiden Seiten etwa 10.000 Sprengköpfe von wirklich hoher Potenz.
Das reicht, um pro Kopf der Weltbevölkerung 1240-fachen Tod zu verursachen. (Lacht)
Aber was bei diesen Verträgen so bedeutsam ist: Dass dem Gefährlichsten von allem, sozusagen der Zahn gezogen wurde. Kurzstreckenraketen zwischen 500 und 5000 Kilometern. Weil sie nämlich von München aus die Herrentoilette im Kreml innerhalb von 210 Sekunden mit einem Atomsprengkopf treffen können. Und das ist das Gefährliche. Weil z.B. ein russischer General, der irgendwo in Rostow am Don
sitzt, keine Zeit mehr hat noch zu entscheiden: Das sind keine Raketen, das ist ein Geschwader von Wildgänsen.
Die Hoffnung ist, dass Trump ja öfter wild tönende Ankündigungen macht, aus denen dann nichts wird. Und dass das eher ein taktisches Manöver ist. Gleichzeitig habe ich aber den Verdacht, dass sich das möglicherweise gegen China richtet mehr als gegen Russland. So dass also zum Beispiel die USA Kurzstreckenraketen auf Taiwan und anderswo im Pazifik stationieren
können.
Horst Teltschik – der Sicherheitsberater von Helmut Kohl, der den Zehn-Punkte-Vertrag als Erster in dessen Grundzügen formuliert hat – sagt ja auch in dem Film: Russland hat wohl seine sicherste Außengrenze nach Europa hin.
Ich bin der Ansicht – die auch aus direkter Arbeitserfahrung mit Russland kommt – dass Russland mehr als andere Großmächte ein natürlicherer Partner für Europa ist. Und das muss sich irgendwie wieder langsam in den Köpfen und
den Seelen festsetzen.
artechock: In dem Film sind Tod und Vergänglichkeit sehr präsent. Da gibt es diese großartige Montage, wo Gorbatschows Vorgänger wie in einem nicht endenden Trauerritual beigesetzt werden. Es gibt immer wieder Friedhöfe, Beerdigungen. Aber eben auch dieses Gefühl: Wir waren zu einem Zeitpunkt schon einmal so weit, und hatten soviel Hoffnung; und momentan hat man wieder das Gefühl von einem großen Rückschritt weiß man wohin.
Herzog: Ja. Und ich glaube, der Film, über alle Vergänglichkeit der Einzelpersonen, weist ja darauf hin: Das war ein glorioser Moment. Ein Moment von Einsicht und politischem Handeln, das ohne Beispiel ist. Und hoffentlich finden wir zu diesem Klima wieder zurück.
artechock: Um auf ein hoffnungsvolleres Thema zu kommen: Sie sind in München nicht nur wegen des neuen Films, sondern auch zur Verleihung des Werner-Herzog-Filmpreises. Der diesmal nicht an Filmemacher geht, sondern an Liliana Díaz Castillo und Estephania Bonnett Alonso – die Initiatorinnen eines Projekts für filmemacherischen Nachwuchs.
Herzog: Der Filmpreis war ja immer völlig offen gehalten. Der könnte zum Beispiel auch an ein Kino gehen, der könnte an einen Kameramann gehen, der könnte an eine Drehbuchautorin gehen – das muss nicht unbedingt ein Film sein.
In dem Fall war mir aufgefallen, dass eine neue Form von Nachwuchsausbildung erfunden wurde, die ganz besonders ist. Es klingt zunächst ganz banal nach Workshop, wo also junge Filmemacher aus der ganzen Welt zusammenkommen, und innerhalb von sehr begrenzter Zeit und unter sehr hohem Druck alle einen Film machen müssen. Aber das Besondere ist, wie das aufgezogen ist: Dass zum Beispiel die Filmemacher nicht mit einem vorgefertigten Konzept kommen dürfen, sondern
dass sie einen thematischen Rahmen bekommen, und von dort aus funktionieren müssen...
Das heißt: In eine Situation hineingeworfen zu werden, die außerhalb der Komfortzone von allen ist. Im Urwald in Peru. Ein Thema, das ihnen – allerdings weit gefasst – aufgezwungen wird. »Fieberträume im Dschungel« – das ist natürlich schön, weil man dadurch in alle Richtungen flexibel ist, bis hin zum Dokumentarfilm. Und dann muss man funktionieren.
Wir haben die außerordentlichen Leistungen, die da zustande gekommen sind, bei der Preisverleihung zur Ansicht hier. Es waren jetzt im peruanischen Urwald 48 junge Frauen und Männer aus 28 Ländern. Und alle haben ihren Film fertiggestellt – manche sogar zwei; einer hat sogar drei Filme gemacht innerhalb von neun Tagen. Und die hatten alle mehr davon als von drei Jahren Filmschule. Und die Ergebnisse sind so außergewöhnlich, dass eine Sammlung der
besten 14 Filme auf Festivals wie Locarno läuft.
Ich glaube auch, dass einige dieser Filme besser sind als die Auswahl von den Kurzfilmen für die Oscars. Ich sag das jetzt mal so in die Gegend hinein. Sie können’s am Samstag überprüfen, ob ich mich da zu weit aus dem Fenster lehne. (Lacht)
Was wirklich sehr nötig ist: Dass man neue Wege in der Ausbildung von Filmemachern findet.
artechock: Sie waren ja immer jemand, der nicht für den geraden Filmschul-Weg war. Z.B. Ihre Online Filmschool...
Herzog: Oder meine Schurken-Filmschule, The Rogue Filmschool. Klar.
Ich halte das, was Filmschulen machen, im Wesentlichen für fehlkonzipiert, weltweit. Mit Ausnahme natürlich von rein praktischen Fertigkeiten, die man lernen kann. Wenn sie zum Beispiel Tontechnik lernen, oder Schnitt – zu lernen, mit dem Gerät umzugehen, das ist was anderes. Aber ganz generell wie Regisseure ausgebildet werden, das ist eine Katastrophe.
Die verbringen alle viel zuviel Zeit in Filmschulen. Sind unterfordert. Und in vielen Fällen auch disqualifizieren Filmhochschulen die Studenten, später wirklich Filme zu machen.
Ich hab solche Fälle gesehen.
Und es kommt natürlich dazu, dass die Auswahlkriterien für Filmhochschulen zweifelhaft sind. Fassbinder zum Beispiel wurde ja abgelehnt. Und das ist auch heute nicht anders.
Es ist nicht so, dass ich mich jetzt groß aufspielen will als jemand, der als »Lehrer«
tätig ist – das bin ich natürlich nicht. Ich bin jemand, der Leute inspirieren kann, und Leute ihren eigenen Mut erkennen lässt, und ihre eigene Handschrift erkennen lässt, und ihre eigene Vision unterstützt – mehr auch nicht.
artechock: Aber das Anleiten, den eigenen Weg zu finden, ist ja gerade, was wirklich gute Lehrer auszeichnet...
Herzog: Ich bin der Undidaktischste von allen.
artechock: Das Filmmuseum nutzt dieses Wochenende auch sozusagen zum Crossover mit der Achternbusch-Reihe. Es zeigt zwei Ihrer Filme, an denen Herbert Achternbusch mitgewirkt hat. Haben Sie noch Kontakt?
Herzog: Nein, gar nicht. Ich hatte versucht, zum Geburtstag bei ihm vorbeizukommen. Da gibt’s einen direkten Draht über meine Schwester Sigrid, die viel länger mit ihm Kontakt hatte. Und das wollte er dann nicht, und hat gesagt: »Nein, um Gottes Willen, ich bin zu wackelig, und ich möchte mich nicht in so schlechtem Zustand meinen früheren Freunden präsentieren müssen.«
Es scheint ihm nicht gut zu gehen.
artechock: Sie und er haben aus sehr ähnlichen Anfängen zwei sehr unterschiedliche Wege genommen. Wie verbunden fühlen Sie sich den Münchner Anfängen und München noch?
Herzog: Gar nicht mal so sehr München. Ich glaube, bei Achternbusch hat ja auch München zunächst nicht so eine große Rolle gespielt. Sondern das Abgelegenste, Dörflichste, was man sich überhaupt vorstellen kann. Ein Drei-Häuser-Nest irgendwo im Bayerischen Wald. Das ist, wo er aufgewachsen ist. Und ich bin in Sachrang aufgewachsen. Wir hatten beide zum Beispiel kein fließendes Wasser, nur eine winzige Dorfschule irgendwo, und ähnliches. Und in den ganzen Schwierigkeiten, die in der Nachkriegszeit für Heranwachsende waren, hatten wir ganz geschlossene Kindheiten. Beide im übrigen auch vaterlos aufgewachsen. Und uns hat nicht München verbunden, sondern sozusagen die entferntesten kleinen Orte im bayrischen Hinterland – ich aus den Bergen, er aus dem Bayerischen Wald.
artechock: Was in Herz aus Glas auch sehr präsent ist: Das Dörfliche, Kleine, Entfernte – aber bei Ihnen verbunden mit diesen plötzlichen, visionären Perspektiven...
Herzog: Ja, klar. Das Seltsame ist ja, dass sich aus so beengten Verhältnissen – bei Herz aus Glas eine Glashütte in einem kleinen Ort im Bayerischen Wald – auf einmal so merkwürdige Visionen und Propheten rauskristallisieren.
Der Mühl-Hias, der gehört wirklich in den Bayerischen Wald, der kann nicht in München entstehen. Und der
kann auch nicht in Straubing entstehen, oder in Landshut, oder sonstwo. Der geht nur im Bayerischen Wald.
artechock: Herz aus Glas ist ja sozusagen ein halber Achternbusch Film, dadurch dass das Drehbuch von Achternbusch ist – und auch der Schauspiel-Stil erinnert mich tendenziell mehr an Achternbusch als an Ihre anderen Filme...
Herzog: Da muss man vorsichtig sein. In dem Fall ist es eine Stilisierung. Und zwar deswegen, weil ja in dem Film alle Darsteller unter Hypnose vor der Kamera sind. Das heißt: So tief hypnotisiert, dass sie ihre Augen geöffnet haben, ohne dabei aufzuwachen.
artechock: Das liest man immer wieder. Das stimmt tatsächlich so, und ist nicht nur eine Legende?
Herzog: Ja, ja klar. Ich selber habe die ja auch hypnotisiert. Und insofern kann ich das bestätigen. Und jeder, der daran teilgenommen hat, kann das auch bestätigen.
artechock: In dem Film für Achternbusch aber eben nicht typisch: Die Öffnung in die ganz fremden Landschaften: Amerikanische Landschaften; die Insel, auf der der Film endet...
Herzog: Das ist eine Insel vor der irischen Westküste – Skellig Michael. Der große Skellig Rock.
Ja, da kommen über mich natürlich auch Visionen von Landschaften hinein, die für den Achternbusch völlig unbekannt waren.
artechock: Es hat Sie von Anfang an stets aus der Enge hinausgezogen, ins große Unbekannte?
Herzog: Ich glaube, dass bei beiden sich aus dem Beengten eine ganz tiefe Neugier verwurzelt hat.
Aber es ist schwer zu sagen, weil meine Brüder sind ja auch in dieser Beengung aufgewachsen. Obwohl: Die haben natürlich auch den Weg nach außen gesucht. Mein jüngerer Bruder Lucki Stipetic, der ja mit mir arbeitet, der ist als 19-Jähriger aufgebrochen und war in Nepal und Indonesien, war ein ganzes Jahr lang unterwegs, und wollte einfach
Welterfahrung haben. Er wollte nicht in einem Beruf weiter arbeiten, wo er bis zu seiner Pensionierung voraussehen konnte, welchen nächsten Karriereschritt er machen würde. Das wurde ihm unheimlich.
Aber es ist nicht so, dass ich jetzt unbedingt raus muss, weil ich noch nicht in Uruguay war: »Da muss ich jetzt hin und einen Film machen...«
Es ist anders: Ich gehe dorthin, wo die Stories sind. Und das sag ich auch immer jungen Filmleuten: Geht dorthin, wo die Stories sind –
nicht dorthin, wo die Filmhochschule ist!
artechock: Auch gezeigt wird dieses Wochenende Jeder für sich und Gott gegen alle, der eine besondere Verbindung hat zum Münchner Filmmuseum, weil in einer Nebenrolle als Pfarrer Enno Patalas zu sehen ist, der langjährige, legendäre Leiter des Filmmuseums, der dieses Jahr verstorben ist.
Herzog: Patalas mochte ich immer. Ich habe ihm immer gesagt: »Enno, hören Sie...« – wir waren per Sie – »Hören Sie, Sie müssen unbedingt Darsteller sein! Sie haben so ein außergewöhnliches Gesicht, und so eine außergewöhnliche...« Der hatte ja so eine große innere Lebendigkeit. Auch wenn er still nur dasaß, dachte man: In dem arbeitet ein Uhrwerk an Möglichkeiten und Ideen, an Neugier und an sonst was. Der war jemand, dem
man es auf drei Kilometer Entfernung angesehen hat: Der ist auch gut auf einer Leinwand.
Er war natürlich auch ein sehr, sehr fundierter Filmhistoriker. Und leider haben wir keinen wirklichen Nachwuchs für ihn. Und den Ulrich Gregor, mit dem er ja die Filmgeschichte geschrieben hat. Ich sag deswegen Gregor, weil ich ihn gestern noch getroffen habe in Leipzig, und dachte mir: Ja, um Gottes Willen – wo sind jetzt die 22-Jährigen, die jetzt unbedingt das machen wollen, was wir
alle brauchen. Ein Echo, ein auch theoretisches und historisches Verständnis von Standort.
artechock: Das kommt ja gerade generell sehr abhanden: Das Bewusstsein und Verständnis für Geschichte im Filmischen. Wo eine Generation aufwächst, der man den Zugang technisch sehr einfach macht, aber kulturell immer schwerer, scheint mir.
Herzog: Die junge Generation, die an ihren Handys sind, die haben innerhalb von 15 Sekunden einen Film von Murnau auf ihrem Handy, und von dort auf dem Bildschirm. Und die haben innerhalb von 20 Sekunden einen Film von Pudowkin auf ihrem Bildschirm.
artechock: Für diejenigen, die sich dafür interessieren, ist es teilweise paradiesisch, wie leicht man an Sachen kommt. Aber mir scheint: Die Selbstverständlichkeit des Sich-dafür-interessierens nimmt ab. Es laufen z.B. nicht mehr wie noch in meiner Kindheit alte Filme im Fernsehen.
Herzog: Es ist aber viel schöner, dass sie heute innerhalb von 15 Sekunden einen Film von Murnau hier auf dem Bildschirm haben können. Ist ja viel besser sogar, als wie ein halbes Jahr drauf zu warten, dass vielleicht mal das ZDF in irgendeiner Kultursendung einen alten Stummfilm zeigt.
artechock: Wenn man es weiß, und danach sucht, ist es wunderbar. Aber ich habe das Gefühl, dass bei den noch nicht Initiierten das Bewusstsein schwindet für die Historizität.
Herzog: Ich weiß genau, wovon Sie reden. Nur: Das Problem, das Sie ansprechen, ist kulturell viel tieferliegend.
Es liest ja auch zum Beispiel heutzutage kaum mehr jemand, obwohl es ja den Zugang zu den Büchern gibt.
Sie sehen das zum Beispiel im akademischen Leben. Ich war vor nicht langer Zeit, vor ein paar Monaten, bei einem Freund, der ist Professor für Altphilologie an der Universität. Dessen Studenten lesen alle nicht mehr.
Dessen Studenten, die griechische Tragödien studieren, sind nicht in der Lage, drei zusammenhängende Sätze zu einer kurzen Idee zusammenzufassen und etwas zu formulieren.
Das ist eine kulturelle Verschiebung, die viel größer ist als nur die Filmgeschichte betreffend. Das ist viel, viel tiefer, größer, viel weltumfassender.
Deswegen sage ich immer zu allen, die mir in die Nähe kommen, Filme machen wollen und jung sind: »Ihr müsst lesen. Lest! Lest! Lest! Lest!
Ihr lest
alle nicht – und ihr werdet alle wohl Filme machen, aber die sind dann im besten Fall mittelmäßig. Ihr werdet nie einen großen Film machen, wenn ihr nicht lest.«
artechock: Ein wichtiges Thema in Jeder für sich und Gott gegen alle, wie in vielen Ihrer Filme, ist: Zugang zur Wahrheit. Ihr Begriff von der „extatischen Wahrheit“, gegen die Wahrheit der Buchhalter.
Aber bei allem Feindbild „Cinéma vérité“ mit seinem naiven Wahrheitsbegriff, gibt es doch momentan einen Trend zu einem Mainstream-Kino, wo vor der Kamera fast nichts mehr ist als eine Greenscreen. Und wenn ich Ihr Konzept richtig verstehe von der Suche nach einer inneren Wahrheit, dann setzt das ja doch voraus, dass außen etwas ist, mit dem man sich auseinandersetzt.
Herzog: Nicht unbedingt. Das kann auch völlig im Inneren sein. Zum Beispiel ein Dichter wie Proust, der nur noch sein abgedunkeltes Zimmer hat, und im Bett liegt. Und einer Haushälterin diktiert. Das kann auch nur noch Innenleben, und nur noch Träume sein. Da würd ich vorsichtig sein.
Aber das große Problem von „Cinéma vérité“, und auch was sie so im Fernsehen an Dokumentationen sehen, ist der Irrtum, dass man glaubt,
Fakten konstituieren per se schon eine Wahrheit. Das stimmt natürlich nicht. Demnach wäre dann das Buch der Bücher das Telefonbuch von Manhattan, mit vier Millionen Einträgen – die sind nämlich alle korrekt, und alle verifizierbar. Aber es berührt uns nicht. Und illuminiert uns nicht. Es erleuchtet uns nicht. Und deswegen sage ich immer: Wir müssen Wege finden, die weg sind vom »Cinéma vérité« – das war die Antwort der ‘60er Jahre; eigentlich im Wesentlichen Vietnam
Krieg, und was dann so kam. Und das hat wirklich längst ausgedient.
Wir müssen schauen, dass wir Formen finden, die viel imaginativer sind. Die dann die Qualität haben, ein Publikum auch zum Leuchten zu bringen. Auch wenn sie dabei Fakten abändern. Und zwar Fakten soweit abändern, dass sie der Wahrheit mehr ähneln als der Realität. Das stammt nicht von mir, sondern von André Gide.
Mein bestes Beispiel ist immer die Pieta von Michelangelo, wo der Schmerzensmann, vom Kreuz
abgenommen, ein 33-jähriger Mann ist – und seine Mutter, die Mutter ist 17. Und die Frage ist: Wollte uns Michelangelo betrügen oder belügen? Nein, er zeigt uns eine viel tiefere Wahrheit.
artechock: Wobei es im Moment freilich eine Welle der Attacken gegen Fakten und Wahrheit von einer sehr unguten Seite gibt, die nichts mit der Suche nach einer inneren Wahrheit zu tun hat...
Herzog: Richtig. Das ist etwas völlig anderes... Das klingt zwar artverwandt. Ist es aber nicht. Und zwar deswegen, weil die Unwahrheit dort bewusst als Instrument eingesetzt wird, um einen politischen Vorteil dabei zu erlangen.
artechock: Sie haben unlängst verraten, dass Sie einen Auftritt als Schauspieler haben in einer großen Franchise-Produktion. In welcher genau ist noch geheim.
Herzog: Richtig. Ich kann zu Ihrer Beruhigung aber etwas sagen, was sich dabei ablesen ließ: Was wir bisher hatten in diesen großen Franchise Filmen, war alles Greenscreen und eine nur imaginäre Welt. Heute aber gibt’s – ich sag das jetzt mal in Anführungszeichen – eine neue Welt, wo für Darsteller, Kamera und alle das gesamte Weltall, oder ein fremder Planet sichtbar ist. Sie bewegen sich heute wirklich sichtbar darin – und das Filmemachen wird in absehbarer Zukunft wieder dorthin zurückgeführt, wo Kino, Filmemachen wirklich hingehört. Sie können eine Kamera schultern, und sich zwischen den Darstellern in einer Choreographie bewegen. Und die gesamte Landschaft, die zwar virtuell ist, aber sichtbar – sowohl für die Kamera, wie auch für die Darsteller – wird in den Film so 1:1 übernommen. Das heißt: Filmemachen kehrt auf einmal dorthin wieder zurück, wo es eigentlich sein sollte.
artechock: Würde Sie es reizen, selbst auf diese Art einen Film zu drehen?
Herzog: Im Prinzip ja. Nur hab ich keine Story.
artechock: Aber wenn sich die Story fände?
Herzog: Sofort, ja. Ich habe ja auch einen Film gemacht für YouTube. Weil mich dieses kurzgefasste Medium, und diese weltweite Verbreitung auch interessiert hat. Und ich habe alle möglichen Sachen gemacht, die man von mir nicht erwartet hätte.
Wir sitzen hier grade anlässlich des fertigen Gorbatschow-Films – und dabei hab ich schon zwei weitere Filme gemacht. Ein Spielfilm in Japan, mit japanischen Schauspielern. Und fast
fertig einen Film für die BBC über den Schriftsteller Bruce Chatwin. Und im Januar oder Februar müsste ich eigentlich schon wieder woanders sein. Ich komm nie hinterher.
artechock: Herr Herzog, wir danken Ihnen, dass Sie sich dennoch die Zeit für dieses Gespräch genommen haben.