04.08.2005

»Wahrheit kommt durch den Schmerz…«

Michael Peña in L.A. CRASH
Michael Peña in L.A. CRASH

Ein Gespräch mit Paul Haggis über seinen Film L.A. Crash und die Zukunft unserer Städte

Crash (dt. L.A. Crash) zählt zu den positiven Über­ra­schungen in diesem Kino­sommer. Das Regie­debüt von Paul Haggis, zuvor bekannt geworden als Dreh­buch­autor von u.a. Clint Eastwoods Oscar-Triumph Million Dollar Baby kostete nur knapp 7 Millionen, spielte aber über 52 Millionen Dollar ein. Crash verknüpft, ähnlich wie Robert Altmans Klassiker Short Cuts verschie­dene Figuren und Geschichten zu einem Mosaik aus der alltäg­li­chen Wirk­lich­keit der Metropole von Los Angeles – bei Haggis erscheint sie als kochende Hypercity, die ständig kurz vor der Explosion steht.
Mit dem Regisseur sprach Rüdiger Suchsland.

artechock: Auf Crash kamen Sie durch einen Eltern­abend?

Paul Haggis: Ja, es geschah an einer sehr liberalen Schule in einem liberalen Stadtteil von Los Angeles. Da wurde über einen Fall von »Sexueller Beläs­ti­gung« disku­tiert, der sich ereignet hatte. Und plötzlich drehte sich die Diskus­sion. Und ein Teil er Eltern sagte: »Sie tun das nur, weil es um zwei schwarze Jungen und ein weißes Mädchen geht.« Es ist nicht ein Fall von sexueller Beläs­ti­gung, sondern von Rassismus. Die Diskus­sion eska­lierte, irgend­wann hieß es: Das tut »ihr« immer. und jeder Anwesende war plötzlich Angehö­riger einer Gruppe, war Weiß, Schwarz, Latino. Und ich dachte: Oh je, das liegt direkt unter der Ober­fläche an einer liberalen Schule in einer der libe­ralsten Städte in einem der libe­ralsten US-Bundes­staaten. Was ist los in meinem Land? Das waren alles liebens­werte Leute, mit denen man norma­ler­weise gern zusammen einen Kaffee trinken ginge. Man würde derar­tiges nie denken. Aber unter Druck kamen ihre Vorur­teile heraus. So kam die Idee, das in einem Film zu zeigen: Menschen unter Druck.

artechock: Für uns Europäer ist es schwer zu verstehen, warum Amerika von „political correct­ness“ so faszi­niert ist. Vor allem die Linken treten dafür ein, dabei scheint es einem Europäer sehr konser­vativ zu sein?

Haggis: Nun, „political correct­ness“ begann mit einer sehr noblen Idee: Man sollte nichts Verlet­zendes zu anderen Menschen sagen. Aber irgend­wann hatten die Leute Angst, überhaupt irgendwas zu sagen. Und darauf haben sich die Rechten gestürzt.
Aber Stereo­typen sind nie wahr. Die Unter­schiede liegen im Detail. Ich wollte die Wider­sprüche erkunden, die wir alle in uns tragen, die wir verkör­pern. Und darum habe ich mich auf unsere Furcht vor Fremden konzen­triert. Gerade in Amerika ist die sehr groß. Viel­leicht mit guten Gründen.
Darum ist meine Methode, alle Seiten gleich zu behandeln, also auch ihre schlechten Seiten zu zeigen. Im Ergebnis ist Crash wohl der politisch inkor­rek­teste Film, den man sich denken kann.

artechock: Was haben 15 Jahre „political correct­ness“ der US-Gesell­schaft gebracht?

Haggis: Es gab viele Fort­schritte. Aber man darf nicht selbst­zu­frieden werden. Einen Teil der Probleme haben wir nur umde­fi­niert. Die Verpa­ckung ist neu, darum sieht es anders aus. Aber wo immer eine Mehr­heits­gruppe sich zurück­lehnt, und sagt: »Wir haben das Problem gelöst«, können Sie ganz sicher sein: Da macht es sich jemand zu einfach. Unter der Ober­fläche gibt es weiterhin Span­nungen.

artechock: Haben die weißen Liberalen denn immer noch ein gutes Gewissen?

Haggis: Jeder hat nur beschränkte Erfah­rungen. Auf denen beruhen unsere Entschei­dungen. Und ich denke, dass mein Film davon handelt, dass man für seine Entschei­dungen eine breitere Basis braucht. Wir haben für uns selbst viel Vers­tändnis, für andere ziemlich wenig. Wir sollten auch für andere mehr Vers­tändnis aufbringen.

artechock: Welcher ihrer vielen Episoden fühlen Sie sich persön­lich am nächsten verbunden?

Haggis: Das kommt darauf an, zu welcher Tageszeit Sie mich fragen. Aber viel­leicht stehe ich der Figur des Staats­an­walts besonders nahe.

artechock: Was haben Sie selbst durch diesen Film gelernt?

Haggis: Viel über mich selbst. Um diese Dialoge zu schreiben, muss man seine eigenen schmut­zigen Seiten entdecken, muss man die eigenen Vorur­teile, die gern versteckt werden, nach draußen lassen, ausspre­chen. Das war eine sehr reini­gende Erfahrung. Ich denke, ich bin durch diese Arbeit tole­ranter geworden.

artechock: Denken Sie, es hilft immer, etwas auszu­spre­chen?

Haggis: Oh ja, immer. Es ist sehr schmerz­haft, aber durch den Schmerz kommt die Wahrheit, und durch die Wahrheit kommt das Vers­tändnis. Wenn man nicht offen redet, beginnt man nie, sich besser zu verstehen. Es ist besser, zu argu­men­tieren und zu streiten, als zu schweigen. Solange man respekt­voll bleibt, und einander zuhört. So ist das auch in Liebes­be­zie­hungen.

artechock: Aber ist es möglich, alles auszu­spre­chen? Dies verletzt doch auch…

Haggis: Natürlich. Aber e ist besser, zu verletzen, wenn die Absicht ist, sich besser zu verstehen. Wenn die Absicht nur ist, sich zu verletzen, dann natürlich nicht. Grau­sam­keit ist nie etwas Gutes. Aber man kann andere auch nicht verur­teilen, bevor man nicht mit sich selber streng war – was wahr­schein­lich eine sehr christ­liche Perspek­tive ist.

artechock: Sind Sie ein Christ?

Haggis: Nicht wirklich. Aber ich begann als Katholik. Das legt man nie ganz ab. Heute haben wir zwei funda­men­ta­lis­ti­sche Staaten, die einander gegen­ü­ber­stehen und die Welt zerstören. Jede Seite weiß, dass sie von Gott gesandt ist. Das ist unak­zep­tabel! Denn immer, wenn man sich auf einer gött­li­chen Mission fühlt, dann liegt man sicher falsch. Denn damit lässt sich alles recht­fer­tigen. Genau das geschieht ja gerade.

artechock: Wer sind ihre filmi­schen Vorbilder?

Haggis: Filme von Godard. Von Hitchcock, wegen seiner Art, die Sympa­thien des Publikums zu lenken. Scorsese und Altman sind natürlich auch wichtig.

artechock: Crash zeigt das, was man als das Netz des Lebens bezeichnen könnte. War dies ihre Absicht?

Haggis: Nein, ich wusste gar nicht, was ich da tat. Mein einziger Grundsatz war: Es gibt keine Neben­fi­guren.

artechock: Finden Sie, Ihr Film hat ein Happy-End?

Haggis: Es ist ein sehr hoff­nungs­volles Ende. Ich bin viel­leicht der zynischste Optimist, den es gibt. Aber ich bin ein Optimist.

artechock: Was heißt das?

Haggis: Ich muss hoffen, dass die Welt besser wird. Aber ich bin Realist. Daher muss ich aner­kennen, dass das nicht passiert ist, und dass die Dinge gerade in die falsche Richtung laufen.

artechock: Der Haupt­dar­steller von Crash ist Los Angeles selbst. Lange hat man kein so detail­liertes Stadt­por­trait mehr im Kino gesehen…

Haggis: L.A. ist eine wunder­bare Stadt. Aber wenn man da eine Weile lebt, erfährt man auch die Furcht.

artechock: Was unter­scheidet L.A. von New York, der anderen großen US-Metropole?

Haggis: Wir sind hori­zontal expan­diert, nicht in die Höhe. Und deshalb kann sich jeder aus dem Weg gehen. Keiner prallt auf den anderen. Und wenn Menschen isoliert sind, dann denken sie merk­wür­dige Dinge. Der Blick der Bürger aufein­ander ist von Vorur­teilen und Fehl­wahr­neh­mungen geprägt. Und von Selbst­ge­fäl­lig­keit. Alles ist super, sonnig, Kali­for­nien – und plötzlich gibt es Unruhen. Länden werden geplün­dert. Dann heißt es: Wir kümmern uns drum – und keiner hat ich gekümmert. Eine Kommis­sion wurde gebildet, die kam mit vielen tollen Ideen, keine einzige wurde verwirk­licht, aber wir fühlten uns toll. Und dann ging es der Wirt­schaft besser, darum fiel die Verbre­chens­rate.

artechock: Und sie warten auf die nächste Revolte? Oder ein Erdbeben?

Haggis: Irgend­etwas wird passieren… Und es wird uns all sehe sehr über­ra­schen, weil wir blind durchs Leben gehen, aber im Bewusst­sein, gute Menschen zu sein.

artechock: Ist L.A. ein bestimmter „way of life“, oder die Zukunft der Mensch­heit?

Haggis: Ich mache mir Sorgen um Los Angeles. Denn die Stadt zeigt, was mit uns allen gerade passiert. Wir isolieren uns. Mit dem Automobil, in dem wir alleine sitzen, mit dem Fernseher, vor dem wir alleine sitzen und irgend­etwas glotzen, anstatt uns mit unseren Nachbarn zu unter­halten. Das ist der Weg, den die Welt nimmt – wir balka­ni­sieren uns.

artechock: Das, was der US-Soziologe Richard Sennett als den Verfall der Öffent­lich­keit beschrieben hat?

Haggis: Exakt! Das ist sehr wahr. Man wird in L.A. nicht mehr mitein­ander konfron­tiert: Es gibt keinen öffent­li­chen Ort, keinen Central Park, wie in New York, wo alle zusam­men­treffen. Das ist eine Sünde!

artechock: Aber da sie ein Optimist sind…

Haggis: Nein, nein, ich habe Hoffnung. Mein Job als Filme­ma­cher ist es, die Fragen zu stellen. Für Antworten sind andere zuständig.