24.02.2022

»Ein Charakter ist im Traum des anderen«

El Fulgor
Szene aus El Fulgor
(Foto: GMfilms)

Der Regisseur Martín Farina und seine Produzentin Mercedes Arias im Gespräch über ihren Film El Fulgor, über Dreharbeiten ohne Geld, Regisseure ohne Script und betrunkene Schauspieler

Das Kino Argen­ti­niens gehört zu den großen eigen­s­tän­digen Kine­ma­to­gra­phien der Welt. Gerade in den letzten 30 Jahren ist es mit Filme­ma­chern wie Pablo Trapero, Lucrecia Martel und Lisandro Alonso regel­mäßiger Gast auf den Film­fes­ti­vals dieser Welt.

In dieser Land­schaft ist der Regisseur Martín Farina bekannt, aber ein Unab­hän­giger. Seine Filme bewegen sich nicht allein auf dem Grenz­be­reich von Doku­men­tar­film und Fiktion, sie mischen auch folk­lo­ris­ti­sche Motive mit einem neuen Blick. Dass Farina, Jahrgang 1982, Philo­so­phie und Musik studierte, merkt man seinen Filmen an: Denn er kompo­nierte auch den sehr beson­deren Sound­track zu seinen Filmen.

Farina ist ein argen­ti­ni­scher Inde­pen­dent: Er produ­ziert seine Filme selbst, oft mit Laien und kleinem Team. Trotzdem hat es jetzt Farinas neuestes Werk ins deutsche Kino geschafft: El Fulgor erzählt seine Geschichte vor dem Hinter­grund so unter­schied­li­cher Milieus wie Viehzucht und Karneval und ist ein filmi­sches Gesamt­kunst­werk.

Anläss­lich der Welt­pre­miere des Films hatten wir im Rahmen des Inter­na­tio­nalen Film­fes­ti­vals Mannheim-Heidel­berg Gele­gen­heit, folgendes Gespräch mit Martín Farina und seiner Produ­zentin Mercedes Arias zu führen.

Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland

artechock: Es ist klar, dass du, Martín, bei diesem Film eine ganze Menge selbst gemacht hast. Dazu gehört ganz zentral auch die Musik, auch wenn man zuerst glaubt, hier Stra­winsky oder Bartok zu hören. Du hast Musik studiert. Was sollten wir darüber wissen?

Martín Farina: Ja, Ich habe viel über Musik nach­ge­dacht. Für mich ist Musik zentral für einen Film. Und ich habe in der Zeit, als ich den Film gemacht habe, tatsäch­lich sehr viel Stra­winski gehört auf dem Fahrrad oder als Fußgänger.
Einen Teil der Musik habe ich mit Freunden zusammen gemacht, einen Teil alleine kompo­niert.

artechock: Bist du selbst ein Team­worker? Man kennt das ja: bei Filmen dieser Art, bei denen eine Person sehr viel macht, gibt es zugleich sehr viele, die irgendwie auch etwas dazu beitragen.

Farina: Meine Produ­zentin Mercedes und mein Kame­ra­mann Tomás Fernández Juan waren immer an meiner Seite. Wir drei haben diesen Film zusammen gemacht. Wir sind das Team. Wir teilten die gleichen Ideen und die gleiche Atmo­sphäre. Wir sind wie eine Bande junger Terro­risten – jeder kann die Position des anderen einnehmen.
Ich selbst versuchte oft die Position einzu­nehmen, die eine Ratte haben könnte. Am Rand. Weg von der Haupt­bühne. Wie würde eine Ratte auf uns blicken? Nicht weil die Ratte hässlich oder böse ist, sondern weil sie im Dunkeln sitzt. Man weiß nie, wo sie sitzt. Ich versuche, eine obskure, myste­riöse und dunkle Seite einzu­nehmen.

artechock: Du bist ein Beob­achter... Dieser Film ist zumindest teilweise mit nicht-profes­sio­nellen Schau­spie­lern gemacht worden. Ich weiß nicht, ob überhaupt einige profes­sio­nell sind. Wie würdest du diesen Film beschreiben? Ein Essay? Ein Doku­men­tar­film? Eine Mischform? Oder ist dies doch ein Spielfilm, der nur in einer anderen, unkon­ven­tio­nellen Weise erzählt ist?

Farina: Ich würde den Film mehr als einen Essay ansehen. Ich denke, es ist weder ein Doku­men­tar­film noch eine Fiktion, aber es hat Elemente von beidem. Ich versuche, meinem Instinkt zu folgen und mich vorher nicht zu sehr fest­zu­legen.
Die Schau­spieler sind tatsäch­lich alles Laien. Einer von ihnen hat früher als Model gear­beitet. Umgekehrt hat einer durch diesen Film begonnen, als Schau­spieler zu arbeiten. Aber im Prinzip stammen viele in meinem Film sogar aus einer Familie; der auf der Ranch, auf der wir gear­beitet haben.

artechock: Mercedes, kommen wir zu dir: Du bist die Produ­zentin. Wie habt ihr zusam­men­ge­ar­beitet? Gab es überhaupt für diese offene Arbeits­weise ein Drehbuch?

Mercedes Arias: Nein! Es gab ein Script. Aber das Drehbuch tauchte auf, als Martín schon geschnitten hat. Das ist natürlich verrückt für eine Produ­zentin, die ein Team zusam­men­bringen muss und den Dreh vorbe­reiten, die Geld sammeln muss. Hier war alles andersrum. Alles war sehr spontan, obwohl wir über einen so langen Zeitraum gedreht haben. Es war ein Abenteuer.
Zum Beispiel jene Szene, in der die Kuh getötet wurde: Wir wussten nicht, dass das passieren würde. Wir kamen da einfach an mit ein paar Ideen im Kopf, sprangen aus dem Auto, da ging es schon los. Für die Leute dort auf dem Land ist es voll­kommen normal, ein Rind zu erschießen, sie machen das jede Woche – für uns war es ein Schock und ein Sprung hinein in eine andere Welt. Aber diese Art von Sprung tut dem Film natürlich sehr gut.

artechock: Immerhin bist du als Argen­ti­nierin vermut­lich keine Veganerin?

Arias: Oh nein, nein, ich esse sehr gern Fleisch und ich kann auch beim Töten zusehen. Aber es kam schon sehr plötzlich und sehr archaisch in der Weise, die Kuh zu erschießen.
Es war hart.
Aber Martín und Tomás haben einen sehr subtilen Weg gefunden, um diesen Moment einzu­fangen. Das war großartig. Ich denke, dies ist zu einer großen Metapher über die Beziehung dieser Menschen zum Fleisch geworden und dazu, wie sie die Tiere behandeln. Mit Respekt und Zuneigung! Irgend­wann sind sie auch alle nackt, so nackt wie die Tiere, sie zeigen sich selbst – und sind damit natürlich ein bisschen auch selbst ein Stück Fleisch. Das fand ich sehr inter­es­sant.

artechock: Wo in diesem Film sind die Frauen?

Arias: Guter Punkt!

Farina: Nun das war auch so eine Entschei­dung. Weißt du, als wir diesen Film gemacht haben, wollte ich den Karneval aus der Perspek­tive der Männer beschreiben. Ich weiß nicht, wie das hier ist. Aber in Brasilien und auch in Argen­ti­nien ist Karneval in gewisser Weise eine Frau­en­sache. Frauen und ihre Körper sind die Objekte des Marketing, sie werden zu Objekten der Betrach­tung.
Wir wollten das hier umdrehen: Wie wird der Karneval gesehen, wenn wir den Blick und unsere Perspek­tive auf die Männer richten? Wie finden sie das? Was haben sie für Ängste? Wie kommen sie an ihre Kostüme? Darum haben wir entschieden, dass wir die Frauen weglassen. Das war ziemlich schwierig für die Frauen, die auch vor Ort waren. Sie haben dauernd gefragt: Warum filmst du mich nicht? Warum läuft er immer den Männern hinterher? Das war nicht leicht für sie zu verstehen.

artechock: Wie lange habt ihr gedreht? Und wie viel Material?

Farina: Es war eine ganze Menge, aber nicht zu viel. Und zwischen den Dreh­ar­beiten habe ich nach­ge­dacht. Ich würde meine Arbeit mit der eines Kochs verglei­chen: Ich habe einge­kocht, ich habe überlegt, welche Zutaten zu dem fertigen Gericht passen.
Vor vielen, vielen Jahren habe ich in einer Fabrik gear­beitet. Es war also nicht eine so große Menge von Material. Viel­leicht 100 Stunden. Aber mir kam es vor wie eine Unter­su­chung, eine Art Detek­tiv­ar­beit. Und es war für mich auch eine Reise, die ich genossen habe.
Ich hatte niemals eine klare Idee zu Beginn, dass dieser Film heraus­kommen würde. Das war genau genommen die aller­letzte Entschei­dung. Ich wusste auch nicht, dass ein Film heraus­kommen würde, der keine Dialoge hat. Ich habe sozusagen den Film gefunden, nicht vorher ausge­dacht.

artechock: Manchmal konstru­ierst du einen Dialog zwischen der Musik und zwischen Bewe­gungen oder den Reak­tionen oder den Blicken der Figuren. Natürlich ist das die Kunst des Film­schnitts.
Du hast noch etwas anderes von der Sprache der Stumm­filme über­nommen: Den Wechsel zwischen Schwarz­weiß und Farbe.
Mir schien es relativ klar, dass die Schwarz­weiß-Passagen eine Art Traum-Passagen sind. Aber ganz genau stimmt diese Sicht auch nicht. Es gibt also keine Ordnung. Wie hast du gewählt was schwarz-weiß und was Farbe ist?

Farina: Viel­leicht ist es genauso, wie du sagst. Ich wollte zwei verschie­dene Welten konstru­ieren, und von einer Kreuzung dieser beiden Welten, dem Übergang von der einen zur anderen, erzählen.
Ein Charakter ist im Traum des anderen. Aber als ich am Film­schnitt saß, wollte ich es verwir­render machen. Ich wollte nicht, dass es für den Zuschauer so einfach ist, den Film zu entschlüs­seln. Und darum entschied ich im Schnitt, eher intuitiv gerade in der zweiten Hälfte zwischen schwarz-weiß und Farbe stärker zu mischen und intuitiv zu schnellem Ebenen zu wechseln.

artechock: So lange zu produ­zieren passt eigent­lich nicht in die ökono­mi­schen Verhält­nisse unserer Welt. Wie hast du diesen Film finan­ziert? Es muss einen großen ökono­mi­schen Druck geben?

Arias: Für mich als Produ­zenten ist es nicht leicht, Martíns Filme zu produ­zieren. Vor allem deswegen, weil ich selber manchmal nicht sicher bin, was er da eigent­lich tut.
Ande­rer­seits ist Martín selber auch einer der Produ­zenten.
Und wir arbeiten an verschie­denen Projekten gleich­zeitig. Mit anderen Regis­seuren kann man solche Filme nicht auf diese Weise drehen. Das heißt, wir versuchen, das Budget klein und effektiv zu halten und mit anderen Projekten genug Geld zu verdienen, um uns das leisten zu können, was wir machen.
Hinzu kommt, dass Tomás, der andere Kame­ra­mann, auf die exakt gleiche Weise arbeitet wie Martín. Wenn man das Material sieht, kann man nicht ausein­an­der­halten, was von wem kommt.
Hinzu kommt, dass wir dann noch ein bisschen Geld dadurch bekommen haben, dass wir während des Drehs ein Teil des Materials vorge­zeigt haben. Aller­dings erst am Ende des Trägers für die Post­pro­duk­tion. Wir haben es nicht geschafft, den Zeit­rahmen, der uns von der Film­för­de­rung in Argen­ti­nien vorge­geben wurde, so einzu­halten, dass wir bereits während des Drehs Geld bekommen haben.

Farina: Ich möchte nur eines ergänzen: man muss dazu wissen, dass wir mit sehr, sehr einfachen und billigen Kameras gedreht haben. Mit Geräten, die man heute nicht einmal einem Kind zum Geburtstag schenken würde.
Aber für mich ist das ein Hand­werks­zeug, und ich versuche es trotz der niedrigen Qualität so gut wie möglich zu nutzen.

artechock: Aber es sieht ganz großartig aus! Es sind hervor­ra­gende und sehr schöne Bilder, die ihr gemacht habt.

Arias: Ja, aber das liegt daran, dass wir die beste Post­pro­duk­tion der Welt haben.

Farina: Hinzu kommt, dass ich glaube, dass ich am aller­besten als Produzent meiner eigenen Filme bin: ich bin sehr gut darin, aus dem Vorhan­denen das Best­mög­liche zu machen. Und zu entscheiden, was ich aus den Möglich­keiten machen kann. Ich kann das ja schnell entscheiden. Etwa in dem Moment, als die Kuh getötet wurde. Da musste ich im Grunde in Sekunden entscheiden, dass ich filme, von wo aus ich filme, und was ich für die Aufnahme brauche.
Ich kann gut entscheiden, was man mit dem, was zur Verfügung steht, anfangen kann. Ein Film ist für mich nicht die Idee, sondern das, was ich wirklich vor mir habe. Ich weiß, was ich habe, und was ich nicht habe. Und ich habe immer im Hinter­kopf, dass ich auch der Produzent des Films bin.
Dieser Film wurde quasi mit überhaupt keinem Geld gemacht. Aber wir haben das Beste aus der Erfahrung der Reise dieses Films gemacht.

Arias: Und ich möchte auch noch dazu sagen, was ich vorhin vergessen habe: auch wenn Martín kein Skript hat, bedeutet dies nicht, dass er beim Dreh auftaucht, ohne dass er Ideen hätte, ohne dass er genau wüsste, was er machen will. Ich glaube, dass diese Art zu produ­zieren mit anderen nicht möglich ist. Mit Martín aber schon.

artechock: Oder mit Wong Kar Wai...

Arias: Ja, der ist ein Genie.

artechock: Noch eine Frage zum Ton: Ist der Ton vor Ort, on Location aufge­nommen?

Farina: Nein, nein, nein. Das ist alles in der Post­pro­duk­tion im Schnitt entstanden. Anders wäre es gar nicht möglich gewesen.

artechock: Wo in Argen­ti­nien habt ihr gefilmt und wo habt ihr diese Familie gefunden?

Farina: Es sind zwei Familien. Sie sind Nachbarn ganz im Norden Argen­ti­nien. Die zwei Haupt­cha­rak­tere waren der Schlüssel zu diesem Projekt.
Wir durften in deren Häusern schlafen. Das war auch eine voll­kommen verrückte Erfahrung! Denn sie waren genau genommen den ganzen Tag besoffen. Das war der einzige Film, bei dem ich zwischen­durch dachte, dass ich ihn nicht fertig schaffen würde, denn sie tranken und tranken den ganzen Tag und die ganze Nacht und haben dauernd vergessen, dass sie auch noch mit uns einen Film machen würden, dass wir auf sie gewartet haben, aber sie wussten dann nicht mehr, wann sie wohl sein sollten.
Aber es war gut, bei ihnen zu wohnen, denn ich brauchte eine gewisse Nähe zu ihnen und brauchte sie für meinen Film. Wenn ich ihre Kompli­zität nicht gehabt hätte, dann hätten wir den Film nicht machen können.