04.01.2001

»Ich bin ein Feminist!«

Isabelle Huppert in Merci pour le chocolat

Claude Chabrol über Frauen, Perver­sionen, Essen und glück­liche Kühe

Merci pour le chocolat, auf deutsch Süßes Gift heißt der neueste Streich des fran­zö­si­schen Regie­meis­ters Claude Chabrol. Der Regisseur, der im vergan­genen Jahr seinen 70ten Geburtstag feierte, begann als Film­kri­tiker, und schrieb einst das erste intel­li­gente Buch über Alfred Hitchcock. In seinen über 50 Spiel­filmen (gele­gent­lich tritt Chabrol, der auch eine bahn­bre­chende histo­ri­sche Doku­men­ta­tion über das Vichy-Regime während der deutschen Besatzung Frank­reichs gedreht hat, auch als Schau­spieler auf), widmet er sich mit Vorliebe den düsteren Abgründen des Bürger­tums. Mit Chabrol sprach Rüdiger Suchsland.

Artechock: Mögen Sie eigent­lich Scho­ko­lade?

Claude Chabrol: Oh ja, sehr gerne. Überhaupt esse ich gerne, ohne Essen läuft bei mir gar nichts.

Auch nicht in Ihren Filmen, fast immer kommen darin auch Mahlz­eiten vor...

Chabrol: Das sind natürlich alles wahn­sinnig intel­li­gente Metaphern, sehr durch­dacht, sehr clever... [Lacht]. Ich könnte Ihnen jetzt auch erzählen, dass ein Regisseur wie ein Koch ist, der viele Zutaten mischt, tolle Rezepte kennt, hier noch ein bisschen Zucker, dort noch etwas Pfeffer... Das ist ein beliebtes Stereotyp, aber natürlich ist da etwas dran.

Diesmal geht es aber tatsäch­lich auch um Nahrungs­mittel...

Chabrol: Ja, Scho­ko­lade und Wasser vor allem. Das Essen als Ausdruck und als Mittel der Verir­rungen der Figuren, ihrer geheimen Seiten. Da ist schon etwas dran. Das eigent­liche Thema meines Films ist aber die Perver­sität.

Inwiefern?

Chabrol: Perver­sität bedeutet ja nicht Sexspiele mit der Peitsche. Pervers finde ich, wenn einer nur noch in einer selbst konstru­ierten Schein­welt lebt, wie der Musiker im Film, oder wenn seine Gattin, die Isabelle Huppert spielt, den fürsorg­li­chen Fami­li­enengel vorspielt. Aber unter ihrer netten Ober­fläche brodelt das Böse. Solche zwischen­mensch­li­chen Verhält­nisse sind pervers, und produ­zieren weitere perverse Verhal­tens­weisen.

Die finden Sie diesmal nicht wie gewohnt in fran­zö­si­schen Verhält­nissen, sondern in der Schweiz. Das ist doch ein hübsches, liebens­wertes Land. Warum dort?

Chabrol: Die Schweiz gilt als Bastion der Wohl­an­s­tän­dig­keit. Es ist doch schön, wenn dieses Bild ein paar Risse bekommt. Im Land der glück­li­chen Kühe können die Menschen ganz schön unglück­lich sein.

Warum erzählen Sie immer wieder »böse« Geschichten?

Chabrol: Ich bin ganz normal. Menschen, die ihr Gleich­ge­wicht verlieren, erschre­cken und faszi­nieren mich. Mich inter­es­sieren solche Charak­tere mehr, als lang­wei­lige. Und außerdem gibt es das öfter, als man denkt

Sie lieben die Frau­en­gestalten, Männer kommen meistens schlecht weg bei Ihnen, wirken schwach...

Chabrol: So ist das Leben. Ich fühle mich selber schwach, wenn auch im Vergleich zu anderen Männern etwas weniger schwach. Dass Frauen uns aushalten, ist mir ein Rätsel. Das von Männern errich­tete Macht­system entlarvt sich immer mehr als absurd. Frauen sind viel prak­ti­scher orien­tiert als Männer, ihnen gehört die Zukunft. Sie sehen, ich bin ein Feminist. Aber nicht militant!

Sie sind jetzt 70 Jahre alt, und drehen pro Jahr einen Film. Wie schaffen Sie dieses Pensum? Fühlen Sie sich nicht manchmal zu routi­niert oder zu alt für bestimmte Themen?

Chabrol: Überhaupt nicht. Ich reduziere nur das Tempo. Früher habe ich drei Filme in zwei Jahren gedreht, jetzt zwei Filme alle drei Jahre. Das ist immer noch zu viel. Wenn ich keine Filme mache, wird mir schnell lang­weilig. Ich sitze dann in meinem Büro, aber was soll ich da eigent­lich? Aber nach einigen Tagen packt mich die Unruhe, ohne Arbeit fühle ich mich nicht wohl.

Woran arbeiten Sie als nächstes?

Chabrol: Mit 70 überlegt man sich sorg­fältig, was man als nächstes macht, noch mal 50 Filme wird schwierig nicht wahr? [Lacht] Mit anderen Worten: Ich arbeite nicht, sondern ich denke nach!

Worüber?

Chabrol: Nehmen Sie zum Beispiel ein Liebes­paar auf der Straße. Sie küssen sich. Plötzlich klingelt sein Mobil­te­lefon. Das ist doch kurios.

Wie wäre es mit einem Film über die sozialen Folgen der Handy-Nutzung?

Chabrol: Nie und nimmer! Viel span­nender fände ich einen Film über die Folgen des Internet. Eine tolle und demo­kra­ti­sche Erfindung. Ohne Kontrolle kommt man überall auf der Welt an Infor­ma­tionen. Eine grenz­en­lose Freiheit und Möglich­keit für jeden. Doch wer kann überhaupt noch zwischen wahren und falschen Infor­ma­tionen unter­scheiden? Da gibt es völlig unter­schied­liche Vorstel­lungen von Wirk­lich­keit. Wobei wir wieder bei Merci pour le chocolat wären. Auch dort lebt jeder in seiner
eigenen Wirk­lich­keit.

Auf was konz­en­trieren Sie sich stärker – auf die Bilder oder die Geschichte?

Chabrol: Das Wich­tigste sind natürlich die Bilder, sie helfen, die wahre Geschichte zu erzählen. Sie müssen auch Unaus­ge­spro­chenes enthalten, Dinge, die man fühlt oder ahnt, die Geschichte hinter der Geschichte. Kino muss den Zuschauer zu dem führen, was er nicht sieht.

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