12.08.1999

»Ab wann ist eine Lüge ein Verbre­chen?«

Valeria Bruni Tedeschi und Jacques Gamblin
Valeria Bruni Tedeschi und Jacques Gamblin

Claude Chabrol im Gespräch über Die Farbe der Lüge

Die Zahl seiner Filme beläuft sich auf über 70. Auch Die Farbe der Lüge, ab heute im Kino, ist ein typischer Chabrol: Ein Krimi der dem bour­goisen Milieu den Spiegel vorhält, ihre eigenen Lügen dechif­friert, in dem subjek­tive Unschuld und objektive Schuld sich vermi­schen.
Mit Claude Chabrol sprach Rüdiger Suchsland während der letzten Berlinale.

artechock: In vielen Ihrer Filme kommen Detektive vor. Was bedeutet diese Figur für Sie? Ein Aufklärer, ein Priester der Wahrheit?

Claude Chabrol: Zunächst einmal ist bei der Detektiv-Figur die Funktion immer stärker als die Persön­lich­keit. Es gibt da einen gewissen Konflikt zwischen beidem. Die Persön­lich­keit sollte norma­ler­weise nicht allzusehr in den Vorder­grund treten. Ich selbst bemühe mich aller­dings, meine Detektive trotz allen funk­tio­nalen Erfor­der­nissen keines­falls zu einer Karikatur werden zu lassen. Sie sollten beispiels­weise nicht zu alt sein, sollten sich nicht dem annähern, was man in älteren engli­schen Detektiv-Stories – aus den 20er, 30er Jahren – oder in Belgien findet: alte Typen mit großem Schnurr­bart und dem ganzen Zeug – das sind Kari­ka­turen.
Ich versuche demge­genüber noch etwas Raum für Persön­li­ches zu lassen. In Au coeur du mensonge gibt es eigent­lich einen Wider­spruch zwischen dem Charakter des Mädchens und ihrem Beruf.

artechock: Mir scheint, daß der Film sehr stark an der Oppo­si­tion zwischen Land­schafts­ma­lerei und Portraits orien­tiert ist. Auch formal. Wie weit hat das ihre Mis-en-scene auch betroffen?

Chabrol: Ich versuche zwischen beidem hin und her zu wechseln. Die Personen – also auch die Portraits – werden in dem Film immer wichtiger. Irgend­wann hat die Umgebung in diesem Film überhaupt keine Bedeutung mehr. Sie ist dem Zuschauer dann schon bekannt, hat keine Umgebung mehr. Zum Beispiel bei der Fahrt auf dem Boot: Da sieht man das Wasser nur 10 etwa Sekunden.

artechock: In Ihren Filmen tritt die Handlung immer mehr in den Hinter­grund, Personen und Charak­tere werden dagegen immer wichtiger.

Chabrol: Ich habe in meinen Filmen die Hand­lungen noch nie besonders inter­es­sant gefunden. Ich habe auch nie nach irgend­wel­chen besonders aufre­genden Geschichten gesucht. Was Handlung angeht, ist es wie mit der Land­schaft: Sie hilft uns, die Charak­tere besser zu verstehen.
Um an Simenon zu erinnern: Die Story entstand bei ihm aus den Personen und nicht umgekehrt. Nichts entsteht aus der Notwen­dig­keit der Hand­lungen.

artechock: Aber ein Film wie Die Fantome des Hutma­chers scheint doch eine viel „span­nen­dere“ Handlung zu besitzen. Ist nicht diese Hand­lungs­re­duk­tion auch ein Stil­mittel Ihrer späten Filme?

Chabrol: Das ist ein tromp l’oeuil, eine Sinnes­täu­schung. [LACHT] Ich habe nicht den Eindruck, daß in Die Fantome des Hutma­chers viel passiert. Aber trotzdem, wenn das Ihr Eindruck ist...

artechock: Können Sie sich denn einen finalen Punkt vorstellen? Wird diese Reduktion immer weiter­ge­trieben?

Chabrol: Ja, ich denke im Hinblick aufs Kino ist es in jedem Fall richtig, sich von dem vorherr­schenden Modell, dem Action­film, wegzu­be­wegen. Action­filme sind nicht schlecht. Aber das Drama des Action­film ist, daß er so schnell ist, daß die Leute dabei nicht zum Denken kommen. Das sollten sie aber im Kino tun. [LACHT]

artechock: Wollten Sie mit diesem Film einmal etwas ganz anderes machen?

Chabrol: Ich weiß, ja, man muß immer aufpassen, das man nicht zu routi­niert wird, und sollte immer wieder 'mal etwas riskieren. Es ist keine gute Lösung, wenn man zu Dreh­ar­beiten genauso fährt, als ob es ins Büro ginge.

Aber gleich­zeitig weiß ich auch, daß ich eine leichte Tendenz habe, immer die gleichen Themen zu nehmen. Ich mache eben das, was mich besonders inter­es­siert. Wie ein Fisch im Wasser.

artechock: Ihr Film hat etwas sehr Selbst­re­fle­xives. Sie sprechen von Kunst, Licht, Arten der Darstel­lung, der Reprä­sen­ta­tion. Ist Ihnen Wie wichtig ist Ihnen das?

Chabrol: Wenn man sich einen Maler zur Haupt­figur macht, dann muß man natürlich über solche Dinge nach­denken. Zudem unsere zeit­genös­si­sche Realität von einer gewissen Tyrannei der Bilder geprägt ist. Natürlich macht es Spaß, einmal über Farben nach­zu­denken, und das Leben eines Künstlers zu beschreiben.

artechock: Ihr Kino hat schon immer viel mit dem Thema Wahrheit und Lüge und beider Verhältnis zu tun, dieser Film ganz speziell. Denken Sie, daß im Kino überhaupt Wahrheit statt­finden kann? Gibt es wahre Bilder und wahre Geschichten? Oder ist das eine falsche Frage?

Chabrol: Das hängt davon ab, ob man Bilder für wahr hält. Wenn sie wahr sind, eine Rekon­struk­tion reeller Eindrücke sind, die in irgend­einer Beziehung zu dem stehen, was man kennt, woran man sich erinnert, gut, dann kann man sagen: Da ist Wahrheit. Aber das ist trotzdem nicht die gleiche Wahrheit, wie die der Dinge selbst.
Das ist ein echtes Problem.
Zum Beispiel damals in Rumänien – Temesvar – da hat nichts gestimmt. Wenn man Wahrheit will, dann muß man alles zeigen: Die Körper, den Typ, der das gemacht hat, und so weiter... Aber auch dann wäre es eine rekon­stru­ierte Wahrheit.

artechock: Ich hatte das deswegen gefragt, weil es ja im Kino immer wieder Ansätze gibt, gegen die ganzen Täuschungen eine Wahrheit entge­gen­zu­setzen – in der Geschichte, aber jetzt auch in den letzten Jahren: Dogma95. Mich inter­es­siert, was sie darüber denken. Kann es gelingen, auf diese Weise Wahrheit ins Kino zu bringen?

Chabrol: Also ich mag das Wort »Dogma« ganz und gar nicht. Darüber kann ich nur lachen. Aber es stimmt, diese Idee ist ganz gut. Allein schon aus Werbe­gründen ist das formi­dabel. Und das Kino kann davon nur profi­tieren. Aber die Gründe sind natürlich wirt­schaft­liche: Wie stellt man billige Filme her? Im Übrigen halten die sich an ihre eigenen Regeln nicht. Sie beleuchten doch künstlich, und bald werden sie auch mit der Hand­ka­mera aufhören.
Was Festen angeht, finde ich die ersten 20 Minuten sehr penibel, das hat etwas Illus­tra­tives. Danach ist der Film sehr schön.
Aber ich möchte ein neues Dogma aufstellen: Keine Schnurr­bärte!

artechock: Wenn ich Ihren Film richtig verstehe, dann zeigen sie uns die Lüge, aber verur­teilen sie nur bedingt. Ab wann ist eine Lüge so schlimm, daß man sie verur­teilen muß?

Chabrol: Ja, diese Frage habe ich mir selbst gestellt: Ab wann ist eine Lüge ein Verbre­chen?
Ich will es mal so sagen: Im Allge­meinen kann ich das nicht beant­worten. Aber in diesem Fall doch: In dem Moment, wo die Lüge im Geist eines Menschen eine Defor­ma­tion der Wirk­lich­keit produ­ziert. Die ihn unfähig macht, sich in der Totalität der Welt zu orien­tieren. Es steht schon schlimm genug mit der heutigen Gesell­schaft. Sie produ­ziert genug Desori­en­tie­rung. Aber wenn ein Mensch gar nicht mehr zurück­findet in die Wahrheit, wenn er sein Gleich­ge­wicht verliert. Dann wird es sehr ernst.
Aber die Verwir­rung fängt schon ziemlich früh an: Wenn man an den Weih­nacht­mann glaubt, der Dinge versteckt, und irgend­wann entdeckt, das sich alles ganz anders verhält – da gerät das Gleich­ge­wicht schon aus den Fugen.

artechock: Welche Rolle spielt für Sie die Musik in ihren Filmen?

Chabrol: Wenn ich mir alte Filme anschaue, auch die, die sonst formal sehr modern sind, dann bin ich immer erstaunt, daß da viel zu viel Musik ist. Die verstärkt alles nur unnötig. Sie wieder­holt immerfort, was man schon auf der Leinwand sieht. Man hat schon längst alles kapiert, trotzdem geht es weiter. Das finde ich lächer­lich. Außerdem bin ich überzeugt, daß der Synchro­nismus in der Musik etwas sehr Gefähr­li­ches.
Mit meiner Art sarkas­ti­scherer Musik erlaubt man dem Zuschauer, sich etwas Distanz zu wahren. Um sich auf gewisse Art seine Fähigkeit zur Analyse zu bewahren.
Manchmal setze ich Musik aber auch ein, um den drama­ti­schen Aspekt zu vers­tärken: Es gibt einen Moment in meinem neuen Film, eine Abschieds­szene am Bahnhof, der Mann geht, und sieht ein junges Mädchen, und da kommt ein Zirkus-Thema von Kurt Weill. Das schafft einen wilden Moment, man hat den Eindruck, der Typ könnte sich jeden Moment auf das Mädchen stürzen.

artechock: Dem Wett­be­werb müssen Sie sich weniger stellen, als die jungen Dänen. Aber aus welchen Beweg­gründen machen Sie Ihre Filme? Woody Allen erklärt, er habe zu Hause immer 30, 40 Geschichten liegen. wie viele liegen bei Ihnen?

Chabrol: [LACHT] Also ich habe keine 30, Woody ist ein guter Lügner. er hat vermut­lich 10, wie alle anderen. Wer gewohnt ist, oft zu drehen, der hat natürlich eine Art Schublade. Aber wenn 6 Monate vorbei sind, dann ist es plötzlich zu spät.
Mein nächster Film wird im Übrigen auch sehr billig, der spielt nämlich – ich spreche eigent­lich nicht dadrüber, aber die Hauptidee verrate ich – in einem Schrank, einem geschlos­senen Schrank. Er handelt von einem, der sich darin einge­schlossen hat, und dem man von außen Wasser gibt...

artechock: ...auch ein Dogma-Film?...

Chabrol: Ja, es ist Trink­wasser. Keine Gewalt! [LACHT]

artechock: Vorhin haben Sie erwähnt, daß die Täuschung in der Gesell­schaft überhand nimmt, daß Gesell­schaften dahin tendieren, orien­tie­rungslos zu werden. Möchten Sie in Ihren Film dem entge­gen­steuern? Neue Orien­tie­rung geben?

Chabrol: Ich will ich etwas Furcht­bares sagen: Ich bin extrem glücklich! [LACHT] Letztlich sind die Filme gemacht, damit ich mich nicht unglück­lich fühle. Lügen ist nicht das Schlimmste...

artechock: Was ist das Schlimmste?

Chabrol: Das Schlimmste ist, wenn man aufgibt.

artechock: Waren Sie je an dem Punkt, aufgeben zu wollen?

Chabrol: Nein. Nein, nein, aber ich wollte schon mal alles verbrennen.

artechock: Wenn Sie eben sagten, daß Sie extrem glücklich seien, liegt das auch daran, daß sie Filme machen, in denen oft sehr triste, unglück­liche Geschichten erzählt werden, mit viel Gewalt? Ist das auch eine Art von Selbst­the­rapie?

Chabrol: Ja, ja. Das ist ganz einfach. Die düsteren Geschichten reflek­tieren nur, was ich nicht bin. Meine Filme sind die am wenigsten auto­bio­gra­phi­schen der Film­ge­schichte. Denn meine Geschichte ist zwar für mich selbst göttlich, aber für andere absolut unin­ter­es­sant.