31.12.2008

»Die Firma wird zu einer dritten Person, die in einem Zimmer haust«

Familie am Strand
Die Buddenbrooks

Nicht nur ein putziger Familienfilm: Heinrich Breloer über Thomas Mann, die Buddenbrooks, das Geld und den Unterschied zwischen Fernsehen und Kino

Der in Gelsen­kir­chen geborene, in Reck­ling­hausen und Marl aufge­wach­sene Regisseur Heinrich Breloer (66) hat bisher über 40 TV-Filme gedreht. Gemeinsam mit Co-Autor Horst König­stein ist er der Begründer des Doku­dramas im deutschen Fernsehen – einer halb­do­ku­men­ta­ri­sche Mischform aus Film­do­ku­menten, Inter­views und Spiel­szenen. Die meisten dieser vielfach prämierten Filme handeln von der neueren deutschen Geschichte: Barschel, Das Todes­spiel (1998), sowie Speer und Er (2005). Seit Breloer aber 1959 als Schüler Alfred Weiden­manns Budden­brooks-Verfil­mung gesehen hatte, wurde die Familie Mann sein persön­li­ches Lebens­thema. Nach einem frühen Film nach dem Roman „Treff­punkt im Unend­li­chen“ von Thomas-Manns Sohn Klaus, drehte Breloer 2001 das TV-Dokudrama Die Manns – Ein Jahr­hun­der­t­roman, für den er einen US-Grammy erhielt. Breloers neue Budden­brooks-Verfil­mung kostet nach offi­zi­ellen Angaben mindes­tens 16,2 Millionen Euro (vermut­lich noch weit mehr) und ist damit die zweit­teu­erste Bavaria-Produk­tion seit Wolfgang Petersens Das Boot – der ebenfalls als „Amphi­bi­en­film“ mit dem Fernsehen kopro­du­ziert wurde, und bald in verlän­gerter Form als Zwei­teiler im Fernsehen zu sehen sein wird.

Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland

artechock: Heinrich Breloer, Sie haben auch das Drehbuch zum Film geschrieben. Notwen­di­ger­weise wurde der fast 800-seitige Roman gekürzt und bear­beitet. Nach welchen Kriterien?

Heinrich Breloer: Letztlich und erstlich mit großem Respekt vor Thomas Mann. Es sollte Thomas Mann drin sein, wenn Thomas Mann drauf­steht. Ich kenne natürlich die vorher­ge­henden Verfil­mungen, auch die von Thomas Manns Tochter Erika betreute, gewusst, dass man auch Gene­ra­tionen verdichten und umstellen darf. Das war sozusagen mal erlaubt worden. Ich hatte vom Fernsehen die Vorgabe, zweimal 90 Minuten zu liefern, vor allem aber eine Kino­fas­sung um die 145 zu machen. Das heißt: Man musste es enorm verdichten. Eine so kurze Fassung hat es zuvor nicht gegeben.
Der Kern mussten die drei Gene­ra­tionen sein: Konsul Jean und seine Frau, die Kinder Thomas, Tony, Christian, und der Sohn von Thomas: Hanno, der ein Künstler wird. Es musste sichtbar sein die Kern­ge­schichte, die Thomas Mann erzählt: Eine vitale Kauf­manns­fa­milie, die immer sensibler wird, und dabei gleich­zeitig immer mehr an Vitalität verliert – diese gegen­läu­fige Entwick­lung. Das war immer klar.

artechock: Es ist ja auch die Geschichte eines Handels­hauses…

Breloer: Das ist es, was ich von mir aus deut­li­cher heraus­ge­lesen habe, als andere: Es ist die Geschichte eines Handels­hauses. Eines Handels­hauses, dessen Aufstieg und Verfall Thomas Mann ja beschreibt. Im 19. Jahr­hun­dert, in dem die Menschen in einen wilden Strudel von Ereig­nissen gerissen wurden, durch eine Kombi­na­tion von einem dynamisch werdenden Kapi­ta­lismus, der auf eine indus­tri­elle Revo­lu­tion traf. Die Landes­grenzen und Handels­hemm­nisse fielen immer mehr weg, 1871 die Gründung des Deutschen Reiches, die Lübecker, die vorher klein und fein für sich gewirt­schaftet hatten, in einem gewissen Trott, mit Gott­ver­trauen, hatten nun mit Hamburg riesige Konkur­renten. Das lief schon seit langem an – plötzlich war der Markt geöffnet von Hamburg bis München. Die hatten Angst, in die Zollunion einzu­treten – aber jemand sagte ja: »Je größer der Markt, desto größer die Chancen.« Ich habe auch dieses Credo, das Vater­unser des Kapi­ta­lismus eingefügt: »Das Geld will sich vermehren. Geben Sie ihm Raum und Gele­gen­heit.« Um auch deutlich zu zeigen, dass die Menschen mit diesem Problem: Wie kann ich hier mithalten? Wie kann ich erfolg­reich sein, überleben und trotzdem anständig bleiben? Probleme mit Ängsten und Chancen, wie wir sie eben auch haben – wir sind in einer indus­tri­ellen Revo­lu­tion, das ist der Computer und die Biotechnik, bei gleich­zei­tiger globaler Öffnung der Märkte mit ganz großen neuen Konkur­renten hinein­ge­raten, und wir erleben gerade in diesen Tagen den zweiten Satz: »Je größer der Markt, desto größer die Chancen.« Punkt, Punkt: »Und die Risiken.« Die wir ja auch haben. Das geht immer nur beides zusammen zu haben. Und wir sehen aber, das jetzt die Menschen etwas gelernt haben. Wir sind sozusagen in der Krebs­for­schung, Onkologie etwas weiter, und die Menschen können etwas genauer gucken, und die Steue­rungs­in­stru­mente auch global versuchen zu drehen

artechock: Aber alles hängt am Vertrauen, der eigent­li­chen Währung des Kapi­ta­lismus…

Breloer: Ganz genau! Heute herrscht dasselbe Problem, wie im 19. Jahr­hun­dert! Der Konsul verliert ja auch das Vertrauen. Man verliert das Vertrauen in die Firma, sie wird scheel auf der Börse angesehen, sie sind im Abstieg, und der Erfolg schwindet dem Thomas aus der Hand, er hat nicht mehr die Kraft, er glaubt nicht mehr an sich, er hat kein Vertrauen zu sich selber. Vor all dem stehen wir auch. Als ich das las vor drei, vier Jahren beim Schreiben war mir ja klar, in welcher Zeit wir leben – da habe ich also diesen Teil, stärker nach vorne geholt, den Thomas Mann ange­deutet hat.
Denn als sein Vater nach einer kurzen Krankheit starb, als er 14 Jahre alt war, und Thomas Mann da stand, der »leuch­tende Stern« war durch einen Blasen­krebs weg, da war er frei­ge­setzt, und konnte sozusagen sich als Schrift­steller ausbilden, konnte lesen, das Geld des Vaters hat ihn noch lange verfolgt, der Scheck war immer bei ihm, und er hatte sich für den Handel nicht inter­es­siert, hat ihn sich über Briefe erklären lassen. Und diesen Hinweisen bin ich mehr und mehr nach­ge­gangen, und hab die Börse wieder aufgebaut. Wenn dort steht: »Er wirkte nur noch dekorativ am Ende« Oder: »Er fühlte den kalten Blick auch der Freunde« – weil ein Wechsel war geplatzt. Der Gebrüder Westphal, was zur Folge hat, das Grünlichs Schulden fällig gestellt werden. Weil man Angst hat, dass die Firma nicht mehr fähig ist zu zahlen. So kommt eine Ketten­re­ak­tion zustande. Wenn man das auf wirt­schaft­li­chem Gebiet sich überlegt: Was war ein Wechsel in der Zeit? – Der war schon diskon­tiert worden von der Bank; er musste ihn also zurück­geben – Dann versteht man dieses Handels­ge­schehen etwas mehr.
Das wollte ich auch deut­li­cher zeigen, um nicht so sehr einen putzigen Fami­li­en­film zu machen. Wie das der Film in den 50er Jahren war – wo das ganze Geld, der Handel draußen blieb. Und es nur um Herz und Schmerz ging.
Hier in meinem Film merkt man deutlich, was es hieß, wenn Tony sich verliebt in einen Studenten, der im Vormärz einer demo­kra­ti­schen Verbin­dung angehört, »gefähr­liche Demo­kraten« sagte man, und der Vater verbietet es ihr und sagt: »Dir kommt es zu, einen Kaufmann zu heiraten.« Und das wird der Grünlich sein – der genau als Betrüger sich entpuppt. Tony muss den Gesetzen der Firma sich unter­ordnen. Der Firma dienen. Die Firma wird in dieser Familie zu einer unbe­kannten dritten Person, die in einem Zimmer haust. Das bewusst so deutlich heraus­ge­ar­beitet: Das Chro­nik­zimmer. Wo schon die Ahnen zu dir sprechen. Die Tiefe der Geschichte zeigen: Du bist nicht allein. Du bist Glied einer Kette. Andere waren vor Dir da. Man schuldet auch den Vorfahren, das Geschäft weiter­zu­führen. Du kannst nicht nach dem leben, was Du gerade mal für Glück hältst. Und das versteht man dann alles besser, wenn die Firma und das Wirt­schafts­ge­schehen gezeigt wird – das waren zum Beispiel Kritie­rien bei der Auswahl und bei der Gestal­tung des Drehbuchs.

artechock: Das Buch hat ja den Unter­titel: „Verfall einer Familie“. Wie aktuell ist dieses Verfalls­thema, die Decadence, der Untergang, das sich ja durch das ganze Werk von Thomas Mann zieht? Thomas Mann schrieb den Roman im „Fin de Siecle“ – als Europa sich seiner selbst über­drüssig fühlte. Man kann ja sagen, dass Europa sich – auch jenseits aller aktuellen Krise und allem Ökono­mi­schen – heute wieder in einer ähnlichen Lage befindet: Leben wir in einer Zeit, in der viel­leicht auch eine geistige Wach­a­b­lö­sung statt­findet, und die europäi­sche Kultur in ihrer Führungs­rolle rela­ti­viert wird?

Breloer: Nehmen wir doch mal Thomas Mann als Analogie, und über­tragen das. Thomas Mann hat dieses Thema durch­ge­spielt am Material seiner Familie und seiner Heimat­stadt: Eine vitale Stadt, vitale Vorfahren werden lebens­schwächer, aber gewinnen an Sensi­bi­lität. Werden dadurch skru­pulöser. Thomas Budden­brook sagt: Ich bin nicht mehr so hart im Handeln. Ich kann nicht mehr Härte antun und Härte austeilen – und geht daran zugrunde. Diese Themen kennen wir. Das wir als Konkur­renten auch hart auftreten müssen. Aber wir sind nett zu jedermann und verlieren viel­leicht auch das eine oder andere Geschäft. Weil wir einen mora­li­schen Kodex haben. Das heißt aber noch nicht, dass man nicht auf hohem Niveau trotzdem hand­lungs­fähig ist. Er hat sich auch zum Teil in Hanno darge­stellt: Das ist seine Schulzeit. Der Junge, der gar nicht mehr lebens­fähig ist. Der nicht mal mehr Pianist werden will. So hätte er sein können. Aber Thomas Mann war nicht so. Er war aus dem selben Holz wie sein Vater. Er war ein bürger­li­cher Schrift­steller. Morgens um neun saß er im Kontor: Unser täglich Blatt gib uns heute.

Und hat sein Leben, seine Erfah­rungen verar­beitet, hat sich frisch gehalten am Nach­mittag, ging früh ins Bett, und hat mit der Verfalls­ge­schichte den Grund­stock zu einem Millio­nen­ver­mögen gelegt. Er war überhaupt nicht derjenige, der aufgeben würde. Er hat die Kinder von Hagen­ström als rauf­lus­tige Burschen darge­stellt, die seinen kleinen Hanno unter­tauchten. Er spielt die Dekadenz durch: Er könnte das sein. Er war gefährdet, als er Scho­pen­hauer las, wie Thomas – »So liest man nur einmal im Leben« sagte er. Aber dann schrieb er eben die „Budden­brooks“. Und danach, sagte Heinrich Mann, »hab ich ihn nie wieder im Leben leiden sehen.« Weil das war der Erfolg der Geschichte. Und die ganze Todes­ro­mantik, die hier ja noch da ist, die ja auch noch im »Tod in Venedig« da ist, die wird ja im »Zauber­berg« mehr und mehr zurück­ge­drängt. Man soll dem Tod keine Herr­schaft über das Leben einräumen. – das ist der zentrale Satz im »Zauber­berg«. Und Hans Castorp verab­schiedet sich von der Gefan­gen­schaft durch Krankheit und durch Liebe in diesen verzau­berten sieben Jahre. Das heißt: Andere, in Lübeck und der neuen Zeit, wo die Budden­brooks zugrun­de­gehen, weil sie die Kraft nicht mehr haben, wie es ja in manchen Familien geschehen ist – das die auslaugen. Andere wie Hagen­ström steigen auf: »Meine Familie platzt aus allen Nähten. Ich brauche Raum.« so kommt er mit seinem Pelz­mantel in das Budden­brook-Haus und übernimmt es. So wie die Budden­brooks selber vorher von den Rathen­kamps das Haus über­nommen hatten, die auch bankrott gegangen waren. Der Kreis hat sich einmal geschlossen.

Und Deutsch­land, während die Budden­brook-Familie verfällt, hat einen unglaub­li­chen Aufstieg. Die Mischung aus indus­tri­eller Revo­lu­tion, Kapi­ta­lismus, neuen Finanz­pro­dukten und Gesetzen wie denen für eine Akti­en­ge­sell­schaft bringen Deutsch­land zu einer unglaub­li­chen Blüte. In wenigen Jahren wird ein Netz von Eisen­bahnen über Deutsch­land gezogen, Wasser­straßen, stählerne Schiffe, man kann mit einem Segler in fünf Tagen über die Ostsee aus Lübeck. Das Kapital schlägt sich immer schneller um. Einge­setzt in 1000 Sack, nach vier Tagen zurück: Mit Gewinn verkauft. Ein riesiges Tempo und riesige Vermögen wird geschaffen. Ich spreche nicht über die Opfer der Indus­tri­ellen Revo­lu­tion: Die Arbeiter – politisch korrekt muss man sein und einen Blick darauf wenden – die auch ihre Opfer gebracht haben, aber es wurden auch unglaub­lich viele Arbeits­plätze geschaffen, und das Land kam in Schwung.
Das war ja eine ungeheure positive Entwick­lung, die dann mit dem ersten Weltkrieg so schreck­lich zum Stoppen kam aus poli­ti­schen Gründen, nicht aus markt­wirt­schaft­li­chen ist das System im ersten Weltkrieg geschei­tert.
In den 20er Jahren ist dann der Grund­stein für die nächste Kata­strophe gelegt worden. Und erst mit den 50er Jahren haben wir dann wieder so eine Strecke des Aufstiegs erlebt. So ist es bis heute: Ich sehe so viele intel­li­gente, strebsame, ener­gi­sche türkische Mitbürger – die machen tolle Geschäfte, die denken gar nicht daran, schlapp zu machen.

artechock: Das sind also die neuen Budden­brooks? Die Döner-Händler, die zu Millionären werden?

Breloer: Das kann man sagen, ja! Eher noch die Hagen­ströms, die kräftigen Nach­folger. Aber auch die Gesell­schaft insgesamt könnte schnell wieder erstarken. Wir sind nunmal global verbunden. Wir lesen jeden Tag unglaub­liche Geschichten: Wenn eine deutsche Bank eine U-Bahn in Amerika lahmlegt, und die Lehrer ihre Pensi­ons­fonds verlieren, das ist ein System von Domi­no­steinen, die schnell Ketten­re­ak­tionen auslösen können. Wir brauchen eben heute auch Welt-Regie­rungen und – Gesetze, wie man das in Deutsch­land auch hatte im späten 19. Jahr­hun­dert, nachdem die Klein­staaten aufgelöst waren.

artechock: Sie sind dann also näher dran am späten Thomas Mann, der sich von Scho­pen­hauer zu Nietzsche bewegt hat, und eher an eine natür­liche Kreis­be­we­gung – oder sprechen wir von Evolution – geglaubt hat: Alles was oben ist, muss fallen, und von unten kommt das Leben­di­gere, Kräf­ti­gere, aber auch Primi­ti­vere nach – die Hagen­ströms eben…

Breloer: Also ich weiß nicht: Protes­tant war er ja auch. Ich glaube, dass Thomas Mann von den Nazis poli­ti­siert wurde, indem er sich posi­tio­nieren musste, dazu gezwungen wurde – sozusagen König­liche Hoheit kam herunter vom Thron, gab sich eine Verfas­sung und vertei­digte nun die Demo­kratie. Sogar die soziale Demo­kratie wie er das nannte. Da ist er politisch geworden, Da musste er sich mit alldem befassen, und hat selbst­ver­s­tänd­lich Hitler als persön­li­chen Feind angesehen. Thomas Mann war der große mora­li­sche Gegen­spieler gegen Adolf Hitler auf der Welt. Das verdanken wir ihm. Und am Ende seines Lebens wird Thomas Mann glaube ich mehr eine Zukunfts­hoff­nung gehabt haben, dass die Aufklärung, die Mensch­heit, der Fort­schritt doch weiter­geht.
So würde ich es eher sehen, als das wie in den Budden­brooks, in den frühen Jahren ein Kreislauf da ist – von der Scho­pen­hau­er­schen Philo­so­phie beein­flusst: Die ewig daseiende Kraft, die zurück fließt ins große Ganze. So ist der philo­so­phi­sche Hinter­grund der Budden­brooks viel­leicht gedacht von Thomas Mann nach der Philo­so­phie von Scho­pen­hauer. Das kommt ja auch vor, weil es solche Familien gibt. Der Roman ist darum auch sofort in ganz Europa verstanden worden.
In Prag, in Budapest, in Wien, in Paris, in London hatte man solche Familien, die drei, vier Gene­ra­tionen stark sind, und dann durch falsche Ehen, aber auch durch sensi­blere Kinder nicht mehr in der Lage sind, weiter Geschäfte zu machen.

artechock: Also Wohlstand verfei­nert auch. Führt zur Kunst, die ja – zumindest bei Thomas Mann – dem Leben auch immer entgegen gestellt ist, und schwächt die Fähigkeit zum handeln, zum Geschäfte machen…

Breloer: Ja. Man kann nicht mehr so brutal sein, wenn man sich in andere Menschen einfühlen kann. Viel­leicht wäre ein Vorfahre der Budden­brooks noch über einen Bettler auf der Straße drüber­ge­fahren und hätte gesagt: Was macht der Mann auf der Straße? Aber Thomas Budden­brook wäre ausge­stiegen, Hanno hätte geweint.
Da haben wir uns alle natürlich verändert, und in Familien sieht man das auch: Mein Vater war ja auch Geschäfts­mann, der war ein harter Hund. So hätte ich nie mit den Ange­stellten reden können, wie ich ihn erlebt habe.
Wie er aufge­passt hat, dass keiner an der falschen Stelle raucht, keiner rumsteht. »Melde mir einen!« hat er gesagt, »den schmeißen wir raus.« Den konnt' ich doch nicht melden!

artechock: Sie haben ja schon ein bisschen angedeutet, womit sich Thomas Mann identifiziert hat.

Breloer: Probe­weise.

artechock: Ja. Klar. Man interpretiert. Womit haben Sie selbst sich am meisten verbunden gefühlt? Ich hatte den Eindruck, dass Sie sich ein bisschen weg von Tony, ein bisschen hin zu Thomas bewegt haben…

Breloer: Es wechselt mit den Jahren beim Lesen. Wenn man kleiner ist, ist es der Hanno – weil ich auch immer erwischt wurde. Dann war es der Christian. Ich war eher der Bruder Leichtfuß, mein jüngerer Bruder ist der Kaufmann. Er ist auch ein sehr erfolg­rei­cher Kaufmann geworden. Wir hätten auch Feinde sein können fürs Leben. Aber wir konnten uns vers­tän­digen. Ich habe viel von ihm gelernt, nicht allein, den Wirt­schafts­teil der Zeitung zu lesen. Thomas Mann hat viel von sich in alle Figuren gelegt. In den Bruder­kon­flikt die Beziehung zu Heinrich.
Ob das jetzt beim Drehbuch eine Rolle spielt? Ich habe das mit den Augen eines Zuschauers erzählt: was will er wissen? Ich habe versucht, die stabile Tony zu einer Haupt­figur zu machen. Ich habe sie nicht so eine dumme Gans sein zu lassen. Ich habe versucht, Gründe für ihr Verhalten zu finden. Dass der Vater Stell­ver­treter Gottes ist, das versteht man heute kaum noch. Sie hat natürlich auf Verlangen des Vaters eine Zwangsehe geführt, wie heute noch in manchen türki­schen Familien. Da staunen wir. Der Thomas ist natürlich eine zentrale Figur, weil er das Geschäft weiter­führt. Aber Tony ist, finde ich, gleich­rangig neben ihm. Mit all ihren Eskapaden und Wünschen. Sie ist natürlich zweimal weg – und relativ schnell zurück, weil die Ehen sich als Irrtum entpuppen.
Auch sie will dem Ansehen der Firma helfen, denn das Ansehen der Firma ist auch Kredit: Wie stehst Du da? Ist die Familie gut verhei­ratet? Man muss sich gerade halten. Man muss sein Leben der Firma unter­ordnen, die das alles verlangt, um der nächsten Gene­ra­tion diesen Vorsprung an Kapital, Geschäfts­part­ner­schaften weiter­zu­geben. Aber auch diese Innere Ausstat­tung weiter­zu­geben: Das Wissen damit umzugehen, Fleiß. Was den protes­tan­ti­schen Kaufmann auszeich­nete, war dass er der ideale Kapi­ta­list war. Nix mit gemütlich in Bayern sitzen – »München is koa Geschäfts­stadt nicht« sagt der Perma­neder. Sondern: Früh aufstehen, sein Geld inves­tieren, Leis­tungs­ethiker sein. Vor dem Budden­brook-Haus steht: »Der Herr sieht es voraus«. An der Wand steht links die Uhr – die Zeit, die drängt –, rechts das Füllhorn der Waren.
Ich bin ja nur ein gelernter Protes­tant – ich bin katho­lisch erzogen – deswegen weiß ich nicht genau, wie sich ein Protes­tant fühlt. Diese innere Ausstat­tung musst Du weiter­geben: Schnell sein. Und das alles geht bei Christian ja nun gar nicht mehr.

artechock: Was für ein Publikum haben Sie vor Augen? Was muss es mitbringen? Unter­scheidet es sich im Kino und im Fernsehen?

Breloer: Das Publikum muss gar nichts mitbringen, außer seiner Lebens­er­fah­rung und einer gewissen Neugier. Diesen Film kann jeder verstehen. Das mag man mir viel­leicht vorwerfen, dass ich keinen Expe­ri­men­tal­film gedreht habe, dass ich Schau­spieler wirklich so anziehe, wie eine reiche Familie sich anziehen musste, dass ich den Glanz zeige, dass ich das in großen Bildern zeige. Das alles wird jeder verstehen, weil jeder seinen Platz in der Familie hat. Da wird jeder sich auch irgendwo einordnen können. Und mit diesen sympa­thi­schen Budden­brooks, die so liebevoll geschil­dert werden, auch dem Hinter­grundsper­sonal geht man doch gerne mit, selbst wenn es am Ende ins Grab geht.
Daneben gibt es andere Geschichten, die tiefere Spuren erzählen: Die vom Verfall: Woran merkt man, dass einer schon sensibel ist? Was bedeutet es, wenn die Firma Gewalt über die Leute nimmt? Wieviel Druck liegt auf einem Menschen?
Die »Budden­brooks« sind ein Volksbuch. Das deutsche Hausbuch, von vielen Gene­ra­tionen immer wieder gelesen. Und wenn ich möchte, dass die Deutschen wieder zum Buch greifen, kann ich das auch durch einen Film machen, der populär erzählt, wo dann die Menschen sagen: Von denen möchte ich mehr wissen, und kommen dann auf die unnach­ahm­lich freund­liche Erzähl­weise von Thomas Mann, und lasse mich dadurch gefangen nehmen. Es ist ein ganz anderes Medium. Und Thomas Mann hat auch immer sich dagegen gewahrt, dass die Filme mit den Büchern vergli­chen werden.
Im Prinzip glaube ich, dass alle seine Verfil­mungen schlechter sind, als die Romane – bei Heinrich Mann ist es umgekehrt.
Ich will, dass es jeder verstehen kann: Der Fern­seh­zu­schauer – Fernsehen ist ein episches Medium, das jeden Tag erzählt, in Fort­set­zungs­ge­schichten. Das kann man im Kino nicht. Das ist mal probiert worden mit dem Budden­brooks-Film, der 200 Minuten lang war. Mit einer Pause. Das wäre heute unvor­stellbar.
Also: Da kann jeder mit seiner Lektüre in den Film hinein­gehen. Der Kenner wird seine Dialoge wieder­finden. Inter­pre­tiert von unserer Schau­spieler-Gene­ra­tion. Die wir kennen, oder kennen­lernen: Ich habe versucht, nicht die deutsche Fern­seh­fa­milie zu besetzen, sondern wo immer es ging, über­ra­schende Beset­zungen zu haben, mit Thea­ter­schau­spie­lern zu besetzen.

artechock: Zum Filmi­schen: Es gibt Bilder, die sind klar Kino, es gibt aber auch Bilder, die sind klares Fernsehen. Das könnte man auch im Kino anders erzählen. War die Umstel­lung aufs Kino für Sie schwierig? Was hatten sie für Vorbilder?

Breloer: Na klar: Das ist mein erster Kinofilm. Aber man muss ja was riskieren. Man hat ja einmal nur im Leben die Chance. Wir haben intensiv die großen Kino­bilder gesucht. Beim Kino herrscht ein großes Drehtempo. Ich habe aber nicht eine Minute gedacht: Dies ist jetzt Kino, das ist Fernsehen. Denn jenseits dieses schul­mäßigen Abfragens – Totale? Close-Up? – ist das, was ich immer versucht habe, auch bei früheren Fern­seh­ar­beiten, ist doch, eine Inten­sität zu erzeugen. Durch Nähe zu Schau­spie­lern. Und genauso muss ich im Kino arbeiten. Mit welchen Mitteln ich das mache, ist egal. Das Entschei­dende ist die Inten­sität. Wobei das Publikum im Kino im dunklen Raum sitzt, wo die Welt versinkt, und man sich in eine fremde Welt begeben kann, wo man ein Lebens­spiel hat, wo man weinen und lachen kann, und wo man etwas erlöst wieder nach Hause geht. Aber man ist sehr dicht bei ihnen.
Zuhause ist das Zimmer hell. Fernsehen ist mehr ein Aufklärungs­me­dium. Aber das kleine Kino zuhause wird immer größer. Deshalb musste ich keine Fern­seh­filme machen.
Ich habe das Beste gegeben, was ich kann. Ich wollte eine klas­si­sche Erzähl­weise. Dabei setze ich aufs Bildungs­bür­gertum: Der Film ist meine Verbeu­gung vor Thomas Mann. In einer konser­va­tiven Erzähl­weise, wenn man so will. Ich war das dem Mann und dem Roman schuldig.

Das von Breloer zu seinem Kino-Debüt verfasste Buch „Budden­brooks“ (348 S.) erscheint bei S. Fischer (22,90 €). Ebenfalls lesens­wert im gleichen Verlag: Hans Wißkir­chen, (Hrsg.): „Die Welt der Budden­brooks“ (208 S., 19,90 €), ein bilder­rei­cher Band über das Verhältnis zwischen Roman und seinem realen Hand­lungsort Lübeck.