Avantgarde und Nachwuchs-Inkubator |
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(Foto: Kurzfilmtage Oberhausen) |
Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen hielten Anfang Mai ihre 71. Ausgabe ab. Gegründet wurde es 1954 von Hilmar Hoffmann, der als Leiter der Stadtbibliothek die Formel »Kultur für alle« geprägt hatte. Oberhausen begann als »Westdeutsche Kulturfilmtage«, mit einem bildungspolitischen Auftrag. Bald darauf gab man sich das Motto »Weg zum Nachbarn« und zeigte Kurzfilme aus dem Ostblock. 1962 wurde das Oberhausener Manifest ausgerufen. Und obgleich Hilmar Hoffmann bis 1970 blieb und nach ihm der Filmkritiker Will Wehling, der Dozent Wolfgang Ruf und die Kuratorinnen Karola Gramann und Angela Haardt kamen, redeten bald alle nur noch von einem: Lars Henrik Gass. Er leitete das Festival ab 1997 und machte es in fast dreißig Jahren zu dem, wie wir es heute kennen. Als Plattform für aktuelle und intellektuelle internationale Kurzfilme, als Begegnungsort diskurs- und diskussionsfreudiger Filmemacher*innen und Filmkritiker*innen, und als Möglichkeit, neue Filmographien und die Geschichte der Avantgarde kennenzulernen. Nach einem bewegten Jahr 2024 inklusive Boykott-Welle trat Gass eine neue Stelle als Gründer des »Haus für Film und Medien« in Stuttgart an. Seit Januar 2025 nun hat das Festival eine Doppelspitze: Die kaufmännische Leiterin Susannah Pollheim ist gebürtige Oberhausenerin, die Filmemacherin und Filmhistorikerin Madeleine Bernstorff ist mit dem Festival, das sie mit 18 Jahren zum ersten Mal erlebt hat, gewissermaßen aufgewachsen. Heute ist sie »fast so alt wie unser neuer Bundeskanzler«. Ein dezenter Hinweis darauf, dass ihre Peer-Group durchaus noch Großes vor hat.
Das Gespräch führte Dunja Bialas
artechock: Seit dem 1. Januar leitet ihr gemeinsam die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Ihr habt sie von Lars Henrik Gass übernommen, der sie 27 Jahre geleitet hat und kommt direkt aus dem Team. Wie war der Wechsel?
Susannah Pollheim: Ich bin schon seit sieben Jahren beim Festival und hatte vorher die Organisationsleitung und Verwaltung inne. Das mache ich immer noch. Ich kümmere mich auch um alle Veranstaltungen, die außerhalb des Kinos passieren. Die Geschäftsleitung teilen wir uns. Alles, was mit Zahlen, Daten, Fakten zu tun hat, mache ich, wie vorher auch.
Madeleine Bernstorff: Ich habe eine lange Geschichte mit dem Festival. 1998 habe ich meinen Film »Zitronenfilm«, ein Super-Acht-Film, im deutschen Wettbewerb gezeigt. Schon ein Jahr später schon habe ich am Themenprogramm »Städte, Territorien« mitgewirkt. Seit 2000 bin ich im Sichtungsteam, zuerst als Schwangerschaftsvertretung für den internationalen Wettbewerb, dann auch für den deutschen Wettbewerb. 2008 kam dann das große Themenprogramm »Grenzgänger und Unruhestifter«, das ich mit zwei amerikanischen Kuratorinnen zusammen gemacht habe. Ich habe auch immer wieder Profile gemacht, angefangen 2002 mit Joyce Wieland, das letzte mit der der rumänischen Filmemacherin und Künstlerin Alexandra Gulea.
artechock: Die enge Verbindung zum Team ist jetzt bestimmt von Vorteil…
Madeleine Bernstorff: Die Sichtungskommission bringt eine seltsame Position mit sich, man ist Outsider, Insider, und noch mal anders, im Sichtungstunnel, wo wir auch gar nicht viel Zeit haben, mit dem Team groß Kontakt aufzunehmen. Ich habe das mal als Sichtungscamp bezeichnet. Was mich so lange bei dem Festival gehalten hat, ist dieser besondere Umgang mit den Filmen und eben auch den Diskussionen.
artechock: Was machen die Diskussionen in Oberhausen so besonders?
Madeleine Bernstorff: Wolfgang Ruf [Leiter der Kurzfilmtage von 1975-1985] hat das eingeführt: es gab sehr ausführliche Diskussionen nicht im Kinoraum, sondern an einem extra Ort. Ich habe das noch 1984 auf dem Festival mitgekriegt. Völlig verschüchtert, einsam, alleine habe ich das in mir aufgesogen. Da waren Karola Gramann [Leiterin ab 1985], [die Filmwissenschaftlerin], Heide Schlüpmann, ein wildes Denkteam. Es war wahnsinnig aufregend, das zu erleben. Dass man diesen Filmen viel Sorgfalt gibt und ausführlich über sie spricht, hat mich beeindruckt. Wir nennen es heute Werkstattgespräch.
artechock: Wie habt ihr euch jetzt die Leitung aufgeteilt? Du hattest gerade gesagt, Susannah, du bist mehr auf der kaufmännischen Ebene angesiedelt, aber ihr seid ja beide geschäftsführend.
Susannah Pollheim: Genau. Das gab es auch vorher schon mal als Konstrukt, als Lars [Henrik Gass] bei den Kurzfilmtagen angefangen hat, dass die Leitung in den kaufmännischen und in den künstlerischen Part aufgeteilt ist. Mit uns beiden wurde das wieder eingeführt. Das hat natürlich sehr, sehr viele Vorteile, was die Arbeitsstrukturen angeht. Man kann sich auf seine Aufgaben- und Verantwortungsbereiche konzentrieren, wo wir viel Erfahrungswerte mitbringen. Diese Aufteilung ist sinnvoll, wir sind glücklich, dass wir das jetzt wieder so machen können.
Madeleine Bernstorff: Das wollte auch die Stadt, die das so auch beim Theater umsetzen. Es musste ja schnell gehen bei der Leitungsbesetzung. Ich hatte immer das Gefühl, ich verstehe zwar viele Prozesse, aber manchmal mache ich auch noch ein internes Praktikum beim Festival, bei dem ich schon lange arbeite, um innere Abläufe zu verstehen. Susannah und ich befinden uns, sagen wir mal, in weit voneinander entfernten Alters-Kohorten. Also ich finde das unglaublich bereichernd, wirklich toll. Ich habe viel kollaborativ gearbeitet. Mich interessieren auch so Abgrenzungen weniger als Berührungspunkte. Ich habe mich immer als Kulturproduzentin bezeichnet, weil ich den Unterschied zwischen künstlerisch und angewandt nicht machen will, das ist eigentlich Anfang 90er Jahren. Ich habe auch Abrechnungen bei meinen eigenen Projekten gemacht, das war aber Kindergarten-Excel.
artechock: Wie sehr beeinflusst das Kaufmännische das Künstlerische und umgekehrt?
Madeleine Bernstorff: Ökonomische Entscheidungen haben natürlich inhaltliche Auswirkungen und umgekehrt. Ich finde, es ist wichtig, das miteinander zu denken.
Susannah Pollheim: Das geht mir genauso. Ich bin für den kaufmännischen Teil zuständig und mache meine kaufmännische Arbeit und finde aber total interessant zu verstehen: Wofür mache ich das überhaupt und was steckt überhaupt dahinter? Was kostet uns das Ganze überhaupt, sondern wofür machen wir das? Was ist der Hintergrund? Was wollen wir erreichen? Also eben den kompletten Prozess. Es ist ein sehr enges Zusammenarbeiten, das steht im Vordergrund.
artechock: Das erinnert ein wenig an das gescheiterte Berlinale-Modell, wo es offensichtlich einen Widerstreit gab zwischen der Finanzabteilung und der künstlerischen Abteilung. Wir Filmkritiker fanden damals, dass doch das Künstlerische das Primat haben sollte, es war aber genau andersherum, weil die finanziellen Verhältnisse prekär wurden, mit großen Kürzungen. Wie sieht das bei euch aus?
Susannah Pollheim: Das ist natürlich auch unser täglich Brot, zu gucken wie das läuft. Natürlich steht das Künstlerische im Vordergrund, aber wir müssen auch fragen: Okay, und wie wird das Ganze bezahlt? Wo bringen wir das unter? Und das ist eben die Herausforderung, zu schauen, wie das, was fortgeführt oder eben neu entwickelt wird, in dieser schwierigen Lage, in der wir alle stecken – also die komplette Kulturlandschaft – finanziert werden kann. Das wird uns auch in Zukunft noch begleiten.
artechock: Was ist mit Kürzungen in Oberhausen, das noch immer vom Strukturwandel geprägt ist?
Susannah Pollheim: Man merkt doch an sehr vielen Stellen, dass die kulturelle Förderung nicht mehr so zu erreichen ist wie in den Vorjahren. Und so sieht das auch bei der Stadt aus. Wir haben den Rückhalt der Stadt, glücklicherweise, können uns darauf aber nicht ausruhen und sagen: „Das läuft jetzt so weiter.“ Das wird in den nächsten Jahren auch für uns ziemlich schwierig werden.
artechock: Habt ihr den Auftrag, zusätzliche Gelder anzuwerben?
Madeleine Bernstorff: Natürlich. Wir hatten dieses Jahr ein Sponsoring-Angebot, was wir dann letztendlich ausschlagen mussten, weil das einfach inhaltlich überhaupt nicht zum Festival passte. Das DDR-Programm, unser diesjähriges Thema, ist von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert. Wir müssen permanent Förderanträge stellen … So ist das, das bindet natürlich Kräfte. Das kennt man von allen Institutionen heutzutage. Oberhausen, das Festival, wirkt immer reicher, als es ist, weil die Dinge wahnsinnig gut funktionieren. Das hat mit dem tollen Team zu tun und einer bestimmten Arbeitsstruktur, die nicht besonders hierarchisch ist. Die Leute haben sehr in Eigenverantwortung gut ihre Bereiche im Blick, und wir sind gleichzeitig sehr nah im Austausch mit ihnen. Deshalb denken die Leute von außen: »Oh, was das für eine Riesenmaschine ist.«
artechock: Ihr seid im fliegenden Wechsel nach Lars Henrik Gass, der nach 27 Jahren relativ abrupt aufgehört hat, auf die Festivalleitung aufgesprungen. Wie kam es zu dieser Besetzung, ab wann wusstet ihr davon und wie war die Vorbereitung des Festivals?
Madeleine Bernstorff: Lars hat mich während des letzten Festivals gefragt, ob ich ihn unterstützen kann, weil er eine Auszeit brauchte, nach diesem ganzen Boykott-Wahnsinn. Am nächsten Morgen habe ich ziemlich spontan, ohne viel zu überlegen, zugesagt. Bestimmte Programme haben wir schon im Mai langsam gedanklich angeschoben. Als ich in Bologna auf dem Festival »Il Cinema Ritrovato« war, hab ich schon grundlegende Gespräche geführt. Das heißt, es muss nicht immer eine Zensur sein, nach der dann alles anders wird. In meiner Eröffnungsrede dieses Jahr habe ich versucht, das zu beschreiben. Es gibt aber auch Setzungen von mir. Bei allen Programmen war ich einbezogen, selbst bei dem DDR-Programm »Umwege zum Nachbarn«, unserem diesjährigen Themenschwerpunkt, wo ich den Antragstext erst im letzten Stadium gelesen habe, habe ich noch viel dran gearbeitet.
artechock: Wir war es dann aber mit der formalen In-House-Besetzung? Es gab ja keine öffentliche Ausschreibung, ähnlich wie jetzt in München beim DOK.fest, wo in die Leitung auch zwei Mitarbeiterinnen nachrücken. Wie hält es die Stadt Oberhausen, die für Besetzung verantwortlich ist?
Madeleine Bernstorff: Rein formal beruft uns die Stadt, was sie auch getan hat. Lars hat uns bei der Stadt vorgeschlagen und mehrere Gespräche mit der Stadt geführt, auch mit unserem Kulturdezernenten und dem Gesellschafter Kurzfilmtage. Wir sind dem Festival beide vertraut, wir kennen beide die Aufgabenbereiche, dementsprechend war das eine schnelle und gute Lösung, würde ich jetzt mal behaupten.
artechock: Am ersten Abend kursierte in Oberhausen das Gerücht, dass ihr das jetzt nur für zwei Jahre macht, also kommissarisch, und dann die Leitung ausgeschrieben wird. Was ist daran, an dem Gerücht?
Madeleine Bernstorff: Es ist ein Gerücht. Ich meine, ich bin jetzt fast so alt wie unser nagelneuer Bundeskanzler. Es ist, glaube ich, abzusehen, dass ich so was wie Festivalleitung jetzt noch mal zehn Jahre mache, aber alles andere sehen wir. Wir sind interessiert daran, dass das in dem, was dieses Festival an Strahlkraft hat, in angemessene Bahnen gelenkt wird. Wie schnell oder wie langsam das geht, können wir jetzt nicht sagen. Wir sind in Absprache mit der Stadt und haben natürlich bestimmte Setzungen, keine kurzfristigen, denn es braucht schon ein bisschen Zeit, etwas zu justieren und für die Zukunft vorzubereiten.
artechock: Es gibt also nicht diesen Zweijahresplan, von dem die Rede war. Das heißt, ihr macht so lange, bis ihr sagt: »Jetzt haben wir das verwirklicht, wie wir das wollten.«
Madeleine Bernstorff: Genau. Es ist ein laufender Prozess, den wir mit der Stadt, aber auch gemeinsam mit unserem Team, das uns sehr wichtig ist, weiterentwickeln.
artechock: Was sind denn eure längerfristigen Setzungen? Vom Gefühl und Erscheinungsbild her, auch von der Struktur, kam einem Oberhausen dieses Jahr sehr vertraut vor. Was habt ihr programmatisch und inhaltlich vor?
Madeleine Bernstorff: Wichtig ist mir das Verständnis, dass wir in diesem sozialen Raum Festival Gastgeberinnen sind. Für mich ist das eine der wichtigsten Erfahrungen, die ich als Kinoperson aus Corona gezogen habe. Und ich glaube, da haben wir dieses Jahr schon etwas mitgeteilt. Wir hatten auch schon dieses Jahr zwei Programme, die näher an der Avantgarde waren. Dóra Maurer habe ich hereingebracht. Und die Filme von Hollis Frampton im Programm „Abschweifungen zur fotografischen Agonie“. Das ist noch mal ein anderer Blick auf die Avantgarde, ohne komische Old -School, oder zurück zur reinen Avantgarde-Lehre oder so. Das interessiert mich überhaupt nicht. Ich finde schon, dass Welthaltlichkeit was Wichtiges ist, aber ich finde auch, dass man über die Welthaltigkeit vielleicht auch anhand von bestimmten Formen nachdenken sollte. 2024 hatten wir Filme aus 49 Ländern. Das war das „Boykott-Jahr“. Dieses Jahr kamen die Filme aus 63 Ländern. Und trotzdem habe ich das Gefühl, da ist noch Luft, da kann noch mehr passieren. Wenn wir auch nicht die Lücken auf der Weltkarte füllen, ist uns der Blick um die Welt aber trotzdem wichtig.
Unser neues Kommissionmitglied Masayo Kajimura sagte, es wäre so unglaublich, in welche Welten mit den Filmen eintauchen kann. Es geht auch um Fragen von Repräsentation, die auch im Umfeld des Postkolonialismus diskutiert werden, um Fragen von Gender-Repräsentation und so weiter, die dann vor Ort anhand der Filme behandelt werden. Das finde ich auch wichtig.
Susannah Pollheim: Das war jetzt das erste Festival in dieser Position für uns beide und wir machen das erst seit Januar. Das erste Festival haben wir jetzt erfolgreich hinter uns gebracht, wir stehen aber noch am Anfang. Also was noch entwickelt wird, wohin uns das führt, da können wir jetzt noch gar nicht so viel dazu sagen.
Madeleine Bernstorff: Was wir tatsächlich schon auch sehr früh angegangen haben, ist, dass wir das Kinder- und Jugendfilmprogramm, das Festival im Festival, wo eine unglaubliche Verwurzelung in der Stadt existiert, stärker gemacht haben. Das ist ein richtiger Nachwuchs-Incubator.