15.05.2025

Avantgarde und Nachwuchs-Inkubator

Bernstorff und Pollheim
(Foto: Kurzfilmtage Oberhausen)

Das neue Leitungsduo der Kurzfilmtage Oberhausen Susannah Pollheim und Madeleine Bernstorff über ihre Pläne für das Festival und darüber, dass man nicht alles anders machen muss, um vieles zu verändern

Die Inter­na­tio­nalen Kurz­film­tage Ober­hausen hielten Anfang Mai ihre 71. Ausgabe ab. Gegründet wurde es 1954 von Hilmar Hoffmann, der als Leiter der Stadt­bi­blio­thek die Formel »Kultur für alle« geprägt hatte. Ober­hausen begann als »West­deut­sche Kultur­film­tage«, mit einem bildungs­po­li­ti­schen Auftrag. Bald darauf gab man sich das Motto »Weg zum Nachbarn« und zeigte Kurzfilme aus dem Ostblock. 1962 wurde das Ober­hau­sener Manifest ausge­rufen. Und obgleich Hilmar Hoffmann bis 1970 blieb und nach ihm der Film­kri­tiker Will Wehling, der Dozent Wolfgang Ruf und die Kura­to­rinnen Karola Gramann und Angela Haardt kamen, redeten bald alle nur noch von einem: Lars Henrik Gass. Er leitete das Festival ab 1997 und machte es in fast dreißig Jahren zu dem, wie wir es heute kennen. Als Plattform für aktuelle und intel­lek­tu­elle inter­na­tio­nale Kurzfilme, als Begeg­nungsort diskurs- und diskus­si­ons­freu­diger Filme­ma­cher*innen und Film­kri­tiker*innen, und als Möglich­keit, neue Filmo­gra­phien und die Geschichte der Avant­garde kennen­zu­lernen. Nach einem bewegten Jahr 2024 inklusive Boykott-Welle trat Gass eine neue Stelle als Gründer des »Haus für Film und Medien« in Stuttgart an. Seit Januar 2025 nun hat das Festival eine Doppel­spitze: Die kauf­män­ni­sche Leiterin Susannah Pollheim ist gebürtige Ober­hau­se­nerin, die Filme­ma­cherin und Film­his­to­ri­kerin Madeleine Bernstorff ist mit dem Festival, das sie mit 18 Jahren zum ersten Mal erlebt hat, gewis­ser­maßen aufge­wachsen. Heute ist sie »fast so alt wie unser neuer Bundes­kanzler«. Ein dezenter Hinweis darauf, dass ihre Peer-Group durchaus noch Großes vor hat.

Das Gespräch führte Dunja Bialas

artechock: Seit dem 1. Januar leitet ihr gemeinsam die Inter­na­tio­nalen Kurz­film­tage Ober­hausen. Ihr habt sie von Lars Henrik Gass über­nommen, der sie 27 Jahre geleitet hat und kommt direkt aus dem Team. Wie war der Wechsel?

Susannah Pollheim: Ich bin schon seit sieben Jahren beim Festival und hatte vorher die Orga­ni­sa­ti­ons­lei­tung und Verwal­tung inne. Das mache ich immer noch. Ich kümmere mich auch um alle Veran­stal­tungen, die außerhalb des Kinos passieren. Die Geschäfts­lei­tung teilen wir uns. Alles, was mit Zahlen, Daten, Fakten zu tun hat, mache ich, wie vorher auch.

Madeleine Bernstorff: Ich habe eine lange Geschichte mit dem Festival. 1998 habe ich meinen Film »Zitro­nen­film«, ein Super-Acht-Film, im deutschen Wett­be­werb gezeigt. Schon ein Jahr später schon habe ich am Themen­pro­gramm »Städte, Terri­to­rien« mitge­wirkt. Seit 2000 bin ich im Sich­tungs­team, zuerst als Schwan­ger­schafts­ver­tre­tung für den inter­na­tio­nalen Wett­be­werb, dann auch für den deutschen Wett­be­werb. 2008 kam dann das große Themen­pro­gramm »Grenz­gänger und Unru­he­stifter«, das ich mit zwei ameri­ka­ni­schen Kura­to­rinnen zusammen gemacht habe. Ich habe auch immer wieder Profile gemacht, ange­fangen 2002 mit Joyce Wieland, das letzte mit der der rumä­ni­schen Filme­ma­cherin und Künst­lerin Alexandra Gulea.

artechock: Die enge Verbin­dung zum Team ist jetzt bestimmt von Vorteil…

Madeleine Bernstorff: Die Sich­tungs­kom­mis­sion bringt eine seltsame Position mit sich, man ist Outsider, Insider, und noch mal anders, im Sich­tungs­tunnel, wo wir auch gar nicht viel Zeit haben, mit dem Team groß Kontakt aufzu­nehmen. Ich habe das mal als Sich­tungs­camp bezeichnet. Was mich so lange bei dem Festival gehalten hat, ist dieser besondere Umgang mit den Filmen und eben auch den Diskus­sionen.

artechock: Was machen die Diskus­sionen in Ober­hausen so besonders?

Madeleine Bernstorff: Wolfgang Ruf [Leiter der Kurz­film­tage von 1975-1985] hat das einge­führt: es gab sehr ausführ­liche Diskus­sionen nicht im Kinoraum, sondern an einem extra Ort. Ich habe das noch 1984 auf dem Festival mitge­kriegt. Völlig verschüch­tert, einsam, alleine habe ich das in mir aufge­sogen. Da waren Karola Gramann [Leiterin ab 1985], [die Film­wis­sen­schaft­lerin], Heide Schlüp­mann, ein wildes Denkteam. Es war wahn­sinnig aufregend, das zu erleben. Dass man diesen Filmen viel Sorgfalt gibt und ausführ­lich über sie spricht, hat mich beein­druckt. Wir nennen es heute Werk­statt­ge­spräch.

artechock: Wie habt ihr euch jetzt die Leitung aufge­teilt? Du hattest gerade gesagt, Susannah, du bist mehr auf der kauf­män­ni­schen Ebene ange­sie­delt, aber ihr seid ja beide geschäfts­füh­rend.

Susannah Pollheim: Genau. Das gab es auch vorher schon mal als Konstrukt, als Lars [Henrik Gass] bei den Kurz­film­tagen ange­fangen hat, dass die Leitung in den kauf­män­ni­schen und in den künst­le­ri­schen Part aufge­teilt ist. Mit uns beiden wurde das wieder einge­führt. Das hat natürlich sehr, sehr viele Vorteile, was die Arbeits­struk­turen angeht. Man kann sich auf seine Aufgaben- und Verant­wor­tungs­be­reiche konzen­trieren, wo wir viel Erfah­rungs­werte mitbringen. Diese Auftei­lung ist sinnvoll, wir sind glücklich, dass wir das jetzt wieder so machen können.

Madeleine Bernstorff: Das wollte auch die Stadt, die das so auch beim Theater umsetzen. Es musste ja schnell gehen bei der Leitungs­be­set­zung. Ich hatte immer das Gefühl, ich verstehe zwar viele Prozesse, aber manchmal mache ich auch noch ein internes Praktikum beim Festival, bei dem ich schon lange arbeite, um innere Abläufe zu verstehen. Susannah und ich befinden uns, sagen wir mal, in weit vonein­ander entfernten Alters-Kohorten. Also ich finde das unglaub­lich berei­chernd, wirklich toll. Ich habe viel kolla­bo­rativ gear­beitet. Mich inter­es­sieren auch so Abgren­zungen weniger als Berüh­rungs­punkte. Ich habe mich immer als Kultur­pro­du­zentin bezeichnet, weil ich den Unter­schied zwischen künst­le­risch und angewandt nicht machen will, das ist eigent­lich Anfang 90er Jahren. Ich habe auch Abrech­nungen bei meinen eigenen Projekten gemacht, das war aber Kinder­garten-Excel.

artechock: Wie sehr beein­flusst das Kauf­män­ni­sche das Künst­le­ri­sche und umgekehrt?

Madeleine Bernstorff: Ökono­mi­sche Entschei­dungen haben natürlich inhalt­liche Auswir­kungen und umgekehrt. Ich finde, es ist wichtig, das mitein­ander zu denken.

Susannah Pollheim: Das geht mir genauso. Ich bin für den kauf­män­ni­schen Teil zuständig und mache meine kauf­män­ni­sche Arbeit und finde aber total inter­es­sant zu verstehen: Wofür mache ich das überhaupt und was steckt überhaupt dahinter? Was kostet uns das Ganze überhaupt, sondern wofür machen wir das? Was ist der Hinter­grund? Was wollen wir erreichen? Also eben den kompletten Prozess. Es ist ein sehr enges Zusam­men­ar­beiten, das steht im Vorder­grund.

artechock: Das erinnert ein wenig an das geschei­terte Berlinale-Modell, wo es offen­sicht­lich einen Wider­streit gab zwischen der Finanz­ab­tei­lung und der künst­le­ri­schen Abteilung. Wir Film­kri­tiker fanden damals, dass doch das Künst­le­ri­sche das Primat haben sollte, es war aber genau anders­herum, weil die finan­zi­ellen Verhält­nisse prekär wurden, mit großen Kürzungen. Wie sieht das bei euch aus?

Susannah Pollheim: Das ist natürlich auch unser täglich Brot, zu gucken wie das läuft. Natürlich steht das Künst­le­ri­sche im Vorder­grund, aber wir müssen auch fragen: Okay, und wie wird das Ganze bezahlt? Wo bringen wir das unter? Und das ist eben die Heraus­for­de­rung, zu schauen, wie das, was fort­ge­führt oder eben neu entwi­ckelt wird, in dieser schwie­rigen Lage, in der wir alle stecken – also die komplette Kultur­land­schaft – finan­ziert werden kann. Das wird uns auch in Zukunft noch begleiten.

artechock: Was ist mit Kürzungen in Ober­hausen, das noch immer vom Struk­tur­wandel geprägt ist?

Susannah Pollheim: Man merkt doch an sehr vielen Stellen, dass die kultu­relle Förderung nicht mehr so zu erreichen ist wie in den Vorjahren. Und so sieht das auch bei der Stadt aus. Wir haben den Rückhalt der Stadt, glück­li­cher­weise, können uns darauf aber nicht ausruhen und sagen: „Das läuft jetzt so weiter.“ Das wird in den nächsten Jahren auch für uns ziemlich schwierig werden.

artechock: Habt ihr den Auftrag, zusätz­liche Gelder anzu­werben?

Madeleine Bernstorff: Natürlich. Wir hatten dieses Jahr ein Spon­so­ring-Angebot, was wir dann letzt­end­lich ausschlagen mussten, weil das einfach inhalt­lich überhaupt nicht zum Festival passte. Das DDR-Programm, unser dies­jäh­riges Thema, ist von der Bundes­stif­tung zur Aufar­bei­tung der SED-Diktatur gefördert. Wir müssen permanent Förder­an­träge stellen … So ist das, das bindet natürlich Kräfte. Das kennt man von allen Insti­tu­tionen heut­zu­tage. Ober­hausen, das Festival, wirkt immer reicher, als es ist, weil die Dinge wahn­sinnig gut funk­tio­nieren. Das hat mit dem tollen Team zu tun und einer bestimmten Arbeits­struktur, die nicht besonders hier­ar­chisch ist. Die Leute haben sehr in Eigen­ver­ant­wor­tung gut ihre Bereiche im Blick, und wir sind gleich­zeitig sehr nah im Austausch mit ihnen. Deshalb denken die Leute von außen: »Oh, was das für eine Riesen­ma­schine ist.«

artechock: Ihr seid im flie­genden Wechsel nach Lars Henrik Gass, der nach 27 Jahren relativ abrupt aufgehört hat, auf die Festi­val­lei­tung aufge­sprungen. Wie kam es zu dieser Besetzung, ab wann wusstet ihr davon und wie war die Vorbe­rei­tung des Festivals?

Madeleine Bernstorff: Lars hat mich während des letzten Festivals gefragt, ob ich ihn unter­s­tützen kann, weil er eine Auszeit brauchte, nach diesem ganzen Boykott-Wahnsinn. Am nächsten Morgen habe ich ziemlich spontan, ohne viel zu überlegen, zugesagt. Bestimmte Programme haben wir schon im Mai langsam gedank­lich ange­schoben. Als ich in Bologna auf dem Festival »Il Cinema Ritrovato« war, hab ich schon grund­le­gende Gespräche geführt. Das heißt, es muss nicht immer eine Zensur sein, nach der dann alles anders wird. In meiner Eröff­nungs­rede dieses Jahr habe ich versucht, das zu beschreiben. Es gibt aber auch Setzungen von mir. Bei allen Programmen war ich einbe­zogen, selbst bei dem DDR-Programm »Umwege zum Nachbarn«, unserem dies­jäh­rigen Themen­schwer­punkt, wo ich den Antrags­text erst im letzten Stadium gelesen habe, habe ich noch viel dran gear­beitet.

artechock: Wir war es dann aber mit der formalen In-House-Besetzung? Es gab ja keine öffent­liche Ausschrei­bung, ähnlich wie jetzt in München beim DOK.fest, wo in die Leitung auch zwei Mitar­bei­te­rinnen nach­rü­cken. Wie hält es die Stadt Ober­hausen, die für Besetzung verant­wort­lich ist?

Madeleine Bernstorff: Rein formal beruft uns die Stadt, was sie auch getan hat. Lars hat uns bei der Stadt vorge­schlagen und mehrere Gespräche mit der Stadt geführt, auch mit unserem Kultur­de­zer­nenten und dem Gesell­schafter Kurz­film­tage. Wir sind dem Festival beide vertraut, wir kennen beide die Aufga­ben­be­reiche, dementspre­chend war das eine schnelle und gute Lösung, würde ich jetzt mal behaupten.

artechock: Am ersten Abend kursierte in Ober­hausen das Gerücht, dass ihr das jetzt nur für zwei Jahre macht, also kommis­sa­risch, und dann die Leitung ausge­schrieben wird. Was ist daran, an dem Gerücht?

Madeleine Bernstorff: Es ist ein Gerücht. Ich meine, ich bin jetzt fast so alt wie unser nagel­neuer Bundes­kanzler. Es ist, glaube ich, abzusehen, dass ich so was wie Festi­val­lei­tung jetzt noch mal zehn Jahre mache, aber alles andere sehen wir. Wir sind inter­es­siert daran, dass das in dem, was dieses Festival an Strahl­kraft hat, in ange­mes­sene Bahnen gelenkt wird. Wie schnell oder wie langsam das geht, können wir jetzt nicht sagen. Wir sind in Absprache mit der Stadt und haben natürlich bestimmte Setzungen, keine kurz­fris­tigen, denn es braucht schon ein bisschen Zeit, etwas zu justieren und für die Zukunft vorzu­be­reiten.

artechock: Es gibt also nicht diesen Zwei­jah­res­plan, von dem die Rede war. Das heißt, ihr macht so lange, bis ihr sagt: »Jetzt haben wir das verwirk­licht, wie wir das wollten.«

Madeleine Bernstorff: Genau. Es ist ein laufender Prozess, den wir mit der Stadt, aber auch gemeinsam mit unserem Team, das uns sehr wichtig ist, weiter­ent­wi­ckeln.

artechock: Was sind denn eure länger­fris­tigen Setzungen? Vom Gefühl und Erschei­nungs­bild her, auch von der Struktur, kam einem Ober­hausen dieses Jahr sehr vertraut vor. Was habt ihr program­ma­tisch und inhalt­lich vor?

Madeleine Bernstorff: Wichtig ist mir das Vers­tändnis, dass wir in diesem sozialen Raum Festival Gast­ge­be­rinnen sind. Für mich ist das eine der wich­tigsten Erfah­rungen, die ich als Kino­person aus Corona gezogen habe. Und ich glaube, da haben wir dieses Jahr schon etwas mitge­teilt. Wir hatten auch schon dieses Jahr zwei Programme, die näher an der Avant­garde waren. Dóra Maurer habe ich herein­ge­bracht. Und die Filme von Hollis Frampton im Programm „Abschwei­fungen zur foto­gra­fi­schen Agonie“. Das ist noch mal ein anderer Blick auf die Avant­garde, ohne komische Old -School, oder zurück zur reinen Avant­garde-Lehre oder so. Das inter­es­siert mich überhaupt nicht. Ich finde schon, dass Welt­halt­lich­keit was Wichtiges ist, aber ich finde auch, dass man über die Welt­hal­tig­keit viel­leicht auch anhand von bestimmten Formen nach­denken sollte. 2024 hatten wir Filme aus 49 Ländern. Das war das „Boykott-Jahr“. Dieses Jahr kamen die Filme aus 63 Ländern. Und trotzdem habe ich das Gefühl, da ist noch Luft, da kann noch mehr passieren. Wenn wir auch nicht die Lücken auf der Weltkarte füllen, ist uns der Blick um die Welt aber trotzdem wichtig.

Unser neues Kommis­sionmit­glied Masayo Kajimura sagte, es wäre so unglaub­lich, in welche Welten mit den Filmen eintau­chen kann. Es geht auch um Fragen von Reprä­sen­ta­tion, die auch im Umfeld des Post­ko­lo­nia­lismus disku­tiert werden, um Fragen von Gender-Reprä­sen­ta­tion und so weiter, die dann vor Ort anhand der Filme behandelt werden. Das finde ich auch wichtig.

Susannah Pollheim: Das war jetzt das erste Festival in dieser Position für uns beide und wir machen das erst seit Januar. Das erste Festival haben wir jetzt erfolg­reich hinter uns gebracht, wir stehen aber noch am Anfang. Also was noch entwi­ckelt wird, wohin uns das führt, da können wir jetzt noch gar nicht so viel dazu sagen.

Madeleine Bernstorff: Was wir tatsäch­lich schon auch sehr früh ange­gangen haben, ist, dass wir das Kinder- und Jugend­film­pro­gramm, das Festival im Festival, wo eine unglaub­liche Verwur­ze­lung in der Stadt existiert, stärker gemacht haben. Das ist ein richtiger Nachwuchs-Incubator.