Ein flüchtiger Zug nach dem Orient

Österreich 1999 · 82 Minuten
Regie: Ruth Beckermann
Drehbuch:
Kamera: Nurith Aviv

Doku­men­ta­tion (Super 16mm -> 35mm, Farbe)

»›Ich will zu Schiff die Meere durch­kreuzen, ein weib­li­cher Flie­gender Holländer, bis ich einmal versunken und verschwunden bin.‹ – ELISABETH VON ÖSTERREICH
Wenn die Kamera vom Deck des Schiffes auf den endlosen Horizont des Mittel­meeres hinaus­blickt, entsteht das Bild einer Frau, die rastlos durch die Welt gereist ist. Elisabeth, Kaiserin von Öster­reich (1837-1898), verschwand immer wieder aus dem Bild. Ab ihrem 31. Lebens­jahr ließ sie sich auch nicht mehr foto­gra­fieren. Ruth Becker­mann macht sich auf die Suche nach dieser Frau, die den Platz im Korsett ihrer Gesell­schaft nicht einnehmen wollte und einen Mythos zwischen märchen­hafter Cinde­rella und depres­siver Mario­nette der Monarchie entstehen ließ. In Ägypten, das Elisabeth zweimal besucht hat, findet die Filme­ma­cherin die Schau­plätze und zeitlosen Momente, die durch die Bedeu­tungs­ober­flächen hindurch­bli­cken lassen. In den orien­ta­li­schen Basaren und den lärmenden Straßen, hinter den Betten­burgen an den Peri­phe­rien der Großs­tädte, wo apoka­lyp­ti­sche Rauchsäulen aus den archai­schen Töpfer­werk­s­tätten aufsteigen, belagern sich Gegenwart und Vergan­gen­heit kalei­do­sko­partig. Die Kamera schlüpft in die Rolle einer Flaneurin, die sich, ohne ihr Ziel aus den Augen zu verlieren, dem Gewühl der Straßen überlässt und den Details des Alltags mehr Schaulust abgewinnt als den großen Monu­menten. Die Montage von Bilder dieser Ägypten-Reise und die Inter­pre­ta­tionen der Aufzeich­nungen Elisa­beths und ihres Vorlesers sind Bestand­teile einer Reflexion über die Macht und Grenzen der Bilder, über Mythos und Wirk­lich­keit.
›Ich würde gerne durch die Zeiten reisen und filme doch immer nur die eine, die meine: Ich kann nicht in die Vergan­gen­heit, nur in die Ferne fahren, in die Fremde.... Doch viel­leicht ist die Vergan­gen­heit ein fernes Ausland.‹ – RUTH BECKERMANN

›I will cross the seven seas by ship, a female Flying Dutchman, until one day I drown and am forgotten‹ – ELISABETH OF AUSTRIA
Ruth Becker­mann goes in search of this woman who refused to take her place in the corset of society and who created the myth between a fairy-tale Cinde­rella and a depres­sive mario­nette of the monarchy. In Egypt, which Elisabeth visited twice, Ruth Becker­mann finds the scenes and timeless moments that allow a glance through the surfaces of meaning. The montage of images from this journey to Egypt and the inter­pre­ta­tion of the written descrip­tions of Elisabeth and her Greek companion and reader are the compo­n­ents of a reflexive essay on stran­geness, on the power and limi­ta­tions of the image, on myth and reality.
›I would like to travel through the ages, but I can only ever film the one that is mine. I can’t travel back in time, only to faraway places, in foreign lands.... But perhaps the past is a foreign country.‹ – RUTH BECKERMANN

Ruth Becker­mann: Über­le­gungen zum Film
Je länger ich mich mit den Bildern und Mythen Kaiserin Elisa­beths beschäf­tigte, einige ihrer Aufent­halts­orte besuchte, immer wieder ihre Portraits ansah, die Originale ihrer Gedichte in Bern las und schließ­lich auf ihre Foto­samm­lungen stieß, desto klarer formten sich innere Zusam­men­hänge, die zur Grundlage des Film­kon­zepts wurden. Sich bewegen, fahren, flüchten und sich verflüch­tigen sind die heraus­ra­genden, ganz spezi­fi­schen Tätig­keiten der Kaiserin Elisabeth, dieser Frau­en­figur an der Schwelle zur Moderne, Symbol des selbst­be­wussten und zerris­senen 19. Jahr­hun­derts. Ihre Bewe­gungen gleichen der Verviel­fäl­ti­gung und Beschleu­ni­gung der Bilder durch die Entwick­lung der tech­ni­schen Sehgeräte und der Eisenbahn. Fuhr sie nicht, so machte sie Fußmär­sche. Bezeich­nen­der­weise nannte man sie auf Korfu „die Eisenbahn“: überall und nirgends, nicht zu fassen. Entschei­dend und beinahe so etwas wie ein Schlüssel zu dieser Persön­lich­keit erscheint mir, dass sich während Elisa­beths Lebens­zeit die großen Verän­de­rungen in der Wahr­neh­mung durch die Erfindung von Foto­grafie und Film zutrugen. Und drei Jahre vor Elisa­beths gewalt­samem (film­reifen) Tod in Genf fand die erste Kino­vor­stel­lung in Paris statt. Weisen ihre Selbst­in­sze­nie­rungen bereits auf den Schwarz­weiß­film hin, so gleicht ihr Leben der Cinde­rella-Geschichte, aus der das Kino in immer neuen Versionen seine Stoffe formen sollte. (...) Elisabeth erscheint wie ein Gesamt­kunst­werk der Ästhetik des Verschwin­dens, die sie auch in ihrem eigenen mageren und bewe­gungs­süch­tigen Körper exeku­tierte, Sie nimmt es in ihren Erschei­nungs­künsten mit Licht und Tempo auf, auch wenn das Kino erst erfunden werden muss. So betreiben letztlich alle Themen der kaiser­li­chen Biogra­phie die Auflösung des reprä­sen­ta­tiven Kaiser­ta­bleaus: Ihr Gesicht verschwindet hinter dem Fächer, sie rast im Zug vorbei, statt die Schaulust des wartenden Volks zu befrie­digen; sie verwei­gert die Erfüllung der monar­chi­schen Reprä­sen­ta­ti­ons­pflichten. Sie mani­fes­tiert den Sturz der alten Göttinnen und den Kurs­wechsel weib­li­cher Schönheit im Zeitalter moderner Fort­be­we­gungs­tech­no­logie. Die Mobi­li­sie­rung erfasse, so Paul Virilio, auch die alten Ikonen der Weib­lich­keit, die Madonna oder Landes­mutter. In Zukunft hätten sie den Vergleich mit einem Typus zu ertragen, der auf der Leinwand sein zeit­ge­mäßes Wesen treibt, mit dem Filmstar, der ephemeren Diva, die mit einer Geschwin­dig­keit von 24 Bildern pro Sekunde über die Kino­lein­wände flackert. Ihre Sicht­bar­keit verdankt sie in Hinkunft allein dem Licht. Elisa­beths Bewe­gungs­drang und ihre Reise­tä­tig­keit legten die Wahl einer Reise als Filmform nahe. Der Film verläuft jedoch nicht als linearer Reise­be­richt. Er stellt die äußere Reise als Rahmen und Teil der inneren Reise dar. Schnitt­punkt dieser beiden Bewe­gungen ist Ägypten.

BIO-FILMOGRAPHIE
Ruth Becker­mann

Geboren in Wien. Autorin und Film­schaf­fende. Von ihr stammen u.a. folgende Publi­ka­tionen: „Die Mazzes­insel“ 1984, „Unzu­gehörig“ 1989, ›Ohne Unter­titel. Fragmente einer Geschichte des öster­rei­chi­schen Kinos (Hg. zusammen mit Christa Blüm­linger) 1996.

Filme:
1984 WIEN RETOUR
1987 DIE PAPIERENE BRÜCKE
1990 NACH JERUSALEM
1996 JENSEITS DES KRIEGES
1999 EIN FLÜCHTIGER ZUG NACH DEM ORIENT

Produk­tion: Josef Aich­holzer, Aich­holzer Film­pro­duk­tion, Maria­hilfer Straße 58, A-1070 Wien, Tel. +43-1-523 40 81, Fax. +43-1-526 34 58, e-mail aifilm@ping.at
Gefördert von: ÖFI
Urauf­füh­rung: Oktober 1999 in Wien
Welt­rechte: First Hand Film GmBH, Bahn­hofstr. 21, CH-8180 Zürich, Tel. +41-1-862 21 06, Fax. +41-1-862 21 46, e-mail info@first­hand­films.ch
Deutscher Verleih: Salzgeber & Co Medien, Fried­richstr. 122, D-10117 Berlin, Tel. +49-30-285 290 90, Fax. +49-30-285 290 99, e-mail info@salzgeber.de‹«
(15. inter­na­tio­nales Doku­men­tar­film­fes­tival München)