Dokumentation (35mm)
»1974 fährt meine Mutter nach Bremen. Sie nimmt ein Hotelzimmer und bringt sich um. Sie ist 42 Jahre alt geworden. Der untersuchende Beamte der Kriminalpolizei schreibt: ›Auf dem Schreibtisch wurde ein Zettel mit folgendem Text gefunden: ‚Entnehmen Sie bitte alle Kosten anliegender Geldbörse'.‹ Zu Hause wird über den Selbstmord nicht gesprochen. Ich bin zu dieser Zeit 14 Jahre alt.
1997 treffe ich nach Jahren ohne Kontakt meinen Vater wieder. Er wohnt immer
noch in der Wohnung, in die er vor 41 Jahren mit Frau und Kind eingezogen ist. Sie ist nahezu unverändert. Im Schlafzimmer bedeckt noch dieselbe blaue Überdecke die Betthälfte meiner Mutter. Der Vater ist inzwischen 91 Jahre alt.
Zweieinhalb Jahre lang filme ich mit einer DV-Kamera obsessiv die Wohnung. Dass man den Räumen nichts ansehen kann, entspricht dem früher Erlebten. Der Schrecken materialisiert sich nicht. Ich beobachte den Vater, folge ihm, sogar auf eine Schiffsreise
durch die Karibik. Die Kamera ermöglicht Distanz, aber auch Nähe. Durch die Kamera können mein Vater und ich miteinander sprechen.
Es entstehen Geschichten, die sich zu einer Erfahrung verdichten, die anders vielleicht nicht geäußert werden kann. Sie bilden eine Ebene des Films, sie durchlaufen das dokumentarische und das Archivmaterial. Manchmal überlagern sich die verschiedenen Ebenen auch visuell. Am Ende lässt sich so vielleicht eine Familiengeschichte
rekonstruieren, die Teil einer kollektiven Geschichte ist.
Karin Jurschick
In 1974, my mother travelled to Bremen. She booked a hotel room and then committed suicide. She was 42 years old. The police detective investigating the case wrote in his report: ›A note was found on the desk stating the following: ‚Please take the money from the wallet lying beside this letter to cover incurred costs.'‹
At home, we did not talk about the suicide. I was 14 years old.
After years of having no contact with my father, I saw him again for the first
time in 1997. He was still living in the same apartment he had moved into with his wife and child 41 years ago. The apartment had remained virtually unchanged. In the bedroom, the same blue bedspread still covered my mother’s side of the bed. My father had turned 91.
Following this meeting, and during the course of the next 2 ½ years, I used my digital video camera to film the apartment. Obsessively. That the rooms do not reveal anything unusual parallels earlier life: the terror
does not materialise. I watch my father, follow him, even on a boat trip through the Caribbean. The camera provides a certain distance, but intimacy as well. Through the camera, my father and I are able to talk to each other.
Into these stories experiences are condensed which perhaps otherwise could not be told. The narrated stories constitute one level of the film, and are blended in with the documentary and archive material. At times, the various levels also overlap visually
– much in the way memories are layered in the mind. In this way, perhaps a family tale can be reconstructed which is also part of a collective history.
(Karin Jurschick)
Produktion: Karin Jurschick, in Zusammenarbeit mit dem ZDF/3Sat
Redaktion: Inge Classen
Gefördert von: Filmbüro Nordrhein-Westfalen
Uraufführung: 14. Februar 2001, Internationales Forum, Berlin
Weltrechte: Karin Jurschick, Neusser Str. 356 A, D-50733 Köln, Tel./Fax +49-221-870 3442, e-mail: Jurschick@aol.com
Preise: Fipresci-Preis beim Internationalen Forum, Berlin
Verleih: Basis-Film Verleih GmbH, Körnerstr. 59, 12169 Berlin, Tel. +49-30-793 5161/71, Fax
+49-30-791 1551, e-mail: info@ basisfilm.de
BIO-Filmographie
Karin Jurschick
Geboren am 17. Oktober 1959 in Essen. Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften an der Universität Köln. Mitbegründerin des Internationalen Frauenfilmfestivals ›Feminale‹ in Köln. Tätigkeit als Kulturredakteurin der ›Stadtrevue Köln‹. Seit 1995 freie Hörfunk- und Fernsehautorin, u.a. für den WDR Köln.
Danach hätte es schön sein müssen ist ihr erster langer Film.«
(16. Internationales Dokumentarfilmfestival München)