23.10.2025

Vitalität unter fallenden Blättern

The World of Love
Gemütsschichtungen im Klassenzimmer: The World of Love, Gewinner des Fipresci-Preises
(Foto: Warsaw Film Festival · Yoon Ga-eun)

Eindrücke vom 41. Warsaw Film Festival

Von Katrin Hillgruber

Ein stili­siertes, rötlich verfärbtes Kasta­ni­en­blatt ist das Signet des immer im Oktober statt­fin­denden inter­na­tio­nalen Warsaw Film Festival (WFF) – auch wenn »Listopad«, polnisch für »der Monat der fallenden Blätter«, eigent­lich den November meint. Das WFF wurde 1985 gegründet, als das Ende der kommu­nis­ti­schen Volks­re­pu­blik noch nicht absehbar war, selbst wenn seit 1978 Karol Wojtyła als Papst Johannes Paul II. amtierte, für seine Lands­leute der ewige Hoff­nungs­träger der Freiheit. Für eine Ahnung von Freiheit sorgten beim Warschauer Film­fes­tival damals Reihen wie »Konfront­acje«. Den Namen des Papstes trägt nun eine viel­spu­rige Haupt­straße in der Nähe des Warschauer Kultur­pa­lasts. Für die Errich­tung von Stalins unge­liebtem Geschenk mussten in den 1950er Jahren um die 600 Wohnungen platt­ge­macht werden, und das in einer Stadt, die im Zweiten Weltkrieg von der deutschen Wehrmacht zu 85 Prozent zerstört wurde. An manchen Gebäuden im histo­ri­schen Zentrum sieht man noch Einschüsse – die großen Löcher stammen von den Gewehren der deutschen Besatzer, die kleinen von den Vertei­di­gern der Polni­schen Heimat­armee.

Seit genau einem Jahr bildet an der Marz­wał­kowska-Straße der Neubau des Museums für Moderne Kunst (MSN) in Gestalt eines schlichten weißen Quaders ein demo­kra­ti­sches Gegenüber zum sowje­ti­schen Zucker­bä­cker­stil des gigan­ti­schen Palastes. Der Muse­ums­ent­wurf stammt von dem Schweizer Archi­tekten Christian Kerez. Unter dem Titel »Naher Osten, ferner Westen« sind in dem angenehm luftigen Gebäude gerade Exponate von Kyjiw bis Beirut zu sehen, die sich mit mili­täri­scher und kolo­nialer Gewalt ausein­an­der­setzen.

Cocktails in Warsaw
Cocktails in Warsaw (Foto: Katrin Hill­gruber)

Man mag zur Archi­tektur des Pałac Kultury i Nauki (Palast der Kultur und der Wissen­schaften) stehen, wie man will: In seinen hohen, mit Stuck verzierten Innen­räumen lässt es sich prächtig Filme schauen und anschließend in der Kneipe »Kultu­ralna« Dillsuppe, weißer oder roter Borschtsch oder eigens für das Festival kreierte Cocktails genießen. »Holy Boy« oder »Tornado« waren nach den 150 Filmen benannt, die der neue Programm­di­rektor Bartło­miej »Bartek« Pulcyn und sein Team ausge­wählt hatten, darunter 100 Lang- und 50 Kurzfilme. Als gebür­tiger Warschauer ist er dem Festival aufs Engste verbunden: »Als Sech­zehn­jäh­riger gehörte ich zu den ersten zehn Volun­teers in der Geschichte des Warschauer Film­fes­ti­vals. Im Jahr darauf fragte mich der damalige Direktor, ob ich den Einsatz der Volun­teers koor­di­nieren wolle. Und seitdem war ich in verschie­denen Funk­tionen für das Festival tätig, zuletzt als Programm­di­rektor des Kurzfilm-Wett­be­werbs.«

Warschau ist das Zentrum der polni­schen Film­in­dus­trie, die zu neunzig Prozent dort ange­sie­delt ist. »Deshalb ist es wichtig, dass hier ein großes Festival statt­findet«, sagt Bartek Pulcyn, »gleichsam als Magnet für die Film­in­dus­trie, die polnische, die unserer Nach­bar­staaten und die inter­na­tio­nale – entspre­chende Signale habe ich immer erhalten«. Eine bestimmte Agenda gebe es nicht, beteuert er, aber es ist ihm wichtig, »ein Schlag­licht auf jene Filme zu werfen, die es sich nicht leisten können, auf den aller­größten Festivals präsent zu sein. Deshalb erhalten wir unheim­lich viele Einrei­chungen aus unseren Nach­bar­län­dern. Wir haben keine Mission, einen Fokus auf eine bestimmte Region zu richten, aber es passiert einfach, weil es so viele gute Filme aus Mittel- und Osteuropa gibt. Ansonsten kann man aber bei unserem Festival von Argen­ti­nien bis nach Neusee­land reisen.« Auch Filme mit LGBT-Inhalten wie der ukrai­nisch-grie­chi­sche Satis­fac­tion von Alex Burunova würden nicht gezielt ausge­wählt, versi­chert er – entschei­dend sei allein die Qualität.

Die fünfzehn Filme des dies­jäh­rigen Haupt­wett­be­werbs liefen alle in der palastei­genen Kinoteka. Alle Vorstel­lungen waren hervor­ra­gend besucht, beson­deren Zulauf hatten aller­dings die beiden polni­schen Beiträge Brat (Brother) von Maciej Sobieszc­zański, eine polnisch-tsche­chi­sche Kopro­duk­tion, und Dom Dobry (Home Sweet Home) von Wojciech Smar­zowski. Dieser filmische Albtraum über häusliche Gewalt wirkt im Zuschau­er­magen lange nach. Die Haupt­dar­stel­lerin Agata Turkot wurde hoch­ver­dient als beste Schau­spie­lerin ausge­zeichnet. Zusammen mit Tomasz Schu­chardt in der Rolle des schla­genden Ehemanns verwandle die zierliche Darstel­lerin mit dem fragenden Blick »eine brutale, tragische Geschichte in ein packendes psycho­lo­gi­sches Drama, das die dunkelsten Ecken der mensch­li­chen Natur erforscht«, heißt es in der Begrün­dung der Haupt­preis-Jury unter dem Vorsitz der dänischen Regis­seurin Lone Scherfig.

Brat erzählt eher tradi­tio­nell die Geschichte einer desil­lu­sio­nierten Kran­ken­schwester (Agnieszka Grochowska) und ihrer neun- und 14-jährigen Söhne. Sie müssen ohne den Vater auskommen, der wegen seiner Gewalt­tä­tig­keit im Gefängnis einsitzt. Sein über­ra­gendes Talent als Judoka weist dem älteren Dawid (Filip Wiłko­mirski) den Weg, wobei sein kleiner Bruder (Tytus Szymczuk) auf der Strecke zu bleiben droht. Die Ökume­ni­sche Jury lobte an dem hervor­ra­gend geschnit­tenen Brat dessen bewegende Thema­ti­sie­rung von »fami­liärer Einheit, Bruder­liebe und der Kraft der Vergebung«, die gerade der jüngeren Gene­ra­tion Hoffnung und neue Perspek­tiven eröffne.

Die Themen Familie, Gewalt und Unfälle kamen im Haupt­wett­be­werb auffal­lend oft vor. Milan Ondrik bringt in Otec (Father) mit seiner masku­linen Ausstrah­lung einen Hauch Lino Ventura in die slowa­ki­sche Provinz. Unter der Regie von Tereza Nvotová spielt er einen gestressten Verlags­ma­nager, der seine zwei­jäh­rige Tochter bei glühender Hitze in ihrem neuen Kinder­sitz im Auto vergisst. Er erhielt eine Lobende Erwähnung für sein »zurück­hal­tendes und doch kraft­volles Porträt eines Mannes, dessen Welt über­ra­schend zerfällt«. Im dysto­pi­schen Eröff­nungs­film Anni­ver­sary des aus Posen stam­menden Jan Komasa wird eine US-ameri­ka­ni­sche Muster­fa­milie rund um eine demo­kra­ti­sche Profes­sorin (Diane Lane) von der rechts­au­tori­tären Schwie­ger­tochter in den Ruin getrieben. In seinen besten Szenen erinnert das über­de­ko­rierte Sitten­ge­mälde an Robert Altmans Gesell­schafts­sa­tiren, kann dieses Niveau aber nicht erreichen.

Der Haupt­preis der Inter­na­tio­nalen Jury ging an die nieder­län­disch-öster­rei­chi­sche Kopro­duk­tion Voor de meisjes (Our Girls) von Mike van Diem. Er versetzte Lykele Muus’ Roman­vor­lage in die Tiroler Alpen, die magisch hollän­di­sche Touristen anziehen. Zwei wohl­ha­bende Familien, die sich dort ein Sommer­haus teilen, geraten in einen exis­ten­zi­ellen Konflikt, als ihre Töchter mit einem einhei­mi­schen Burschen bei einer Quad-Fahrt verun­glü­cken. Das durch­ge­hend spannende Schick­sals­drama mit sati­ri­schen Elementen zwinge uns dazu, unsere eigenen Moral­vor­stel­lungen zu über­denken, so die Jury.

Auf ebenso über­ra­schende wie viel­schich­tige Weise reflek­tiert der südko­rea­ni­sche Beitrag The World of Love von Yoon Ga-eun das Thema Gewalt. Seo Su-bin über­zeugte als 17-Jährige in diesem »in jeder Sekunde unvor­her­seh­baren und daher faszi­nie­renden Coming-of-Age-Drama«, befanden die Fipresci-Juro­rinnen. Der typisch fran­zö­si­sche dialog­las­tige Debütfilm Nino von Pauline Loquès schildert voller zauber­hafter Details, wie Nino (Théodore Pellerin), ein Mann Anfang zwanzig, die drei Tage vor dem Beginn seiner Krebs­the­rapie verbringt. Der Film wirkt wie eine Hommage an Agnès Vardas Cléo de cinq à sept (1962) und beein­druckt durch seine tiefe Mensch­lich­keit. Vom Team war allein die Cutterin Clémence Diard angereist. Bei der Abschluss­feier im Museum für Moderne Kunst wusste sie gar nicht, wie ihr geschah, als sie die Lobende Erwähnung der Ökume­ni­schen Jury und gleich zwei Preise entge­gen­nehmen konnte, den der Young Critics Jury der Fipresci und den mit 100.000 Złoty (etwa 25.000 Euro) dotierten Warsaw Grand Prix.

»Es war sehr intensiv, da wir so viele Ände­rungen vorge­nommen haben«, lautet das Fazit des Programm­di­rek­tors Bartło­miej Pulcyn: »Wir haben viele Sektionen geändert, auch weil wir den Fokus nicht mehr nur auf Warschauer Premieren legen, sondern die besten Filme liefern wollen. Eine neue Sektion ist 'Encoun­ters', in der wir Neuheiten aus dem Festival-Zirkus präsen­tieren. Wir haben Neue­rungen einge­führt wie Special Scree­nings, Angebote für das ältere Publikum oder die Reihe 'Cinema, My Love', für die wir Stars des polni­schen Kinos einge­laden haben, Filme auszu­wählen.« Die pulsie­rende Vitalität der Stadt Warschau, sie prägt auch die besondere Atmo­sphäre ihres Film­fes­ti­vals im Zeichen der fallenden Blätter.

Die Autorin war Mitglied der Fipresci-Jury, zusammen mit Nataliia Sere­bria­kova und Kaja Klimek.