Cinema Moralia – Folge 363
Die Rückgewinnung des Ästhetischen |
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100 Prozent: das einzige angemessene Urteil über diesen Film... | ||
(Foto: Netflix) |
The opinion that art should have nothing to do with politics is itself a political attitude.
– George Orwell»In Orwells ‘1984' heißt es: 'Wenn Sie sich ein Bild von der Zukunft machen wollen, dann stellen sie sich einen Stiefel vor, der ein menschliches Gesicht zertrampelt – unaufhörlich.'«
Diese Stiefel sind heute die sozialen Medien.
– Ferdinand von Schirach
Filmkritiker und auch das Publikum sollten verantwortungsvoll mit Filmen umgehen. Sie sollten ihm Respekt entgegenbringen und ihnen Raum lassen – damit gemeint ist, dass der Film uns Zuschauern zeigt und vermittelt, wie er gesehen werden möchte. Nicht umgekehrt. Wer den Film mit Schablonen, mit immergleichen Fragen oder vorgefertigten Werkzeugen traktiert, hat schon verloren.
All das gilt natürlich auch für das normale Publikum für die Zuschauer.
Umgekehrt aber wäre einmal die Frage zu stellen, ob die Filme immer auf dem Publikum Respekt entgegenbringen? Den Filmkritikern und den normalen Zuschauern? Ob sie mit uns verantwortungsvoll umgehen? Ich glaube, dass das Filme oft genug nicht tun, dass wir aber so etwas einfordern könnten. Filme sollten uns nicht für dumm verkaufen; sie sollten uns nicht langweilen.
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Juliane Liebert, die auch eine geschätzte Filmkritik-Kollegin ist, hat in der »Zeit« im September das Album »Ich lieb mich, ich lieb mich nicht« von Nina Chuba besprochen.
Daraufhin überzog sie der Influencer »Rezo« mit einer unflätigen Schimpftirade.
Hierauf hat nun wiederum Jens Balzer, auch Filmkritiker a.D., mit angemessener Deutlichkeit reagiert: »Dieser Monolog ist von einer selbst in unseren erregten Zeiten außergewöhnlichen Infamie.« so Jens Balzer.
Mit solchen persönlichen Empörungen wird inzwischen in unserer PR-Gesellschaft auch eine regelrechte Empörungsökonomie bedient . Zu ihr gehört auch der »Skandalforscher« Johannes Franzen. Bereits in seinem im letzten Jahr veröffentlichten Buch »Wut und Wertung« denkt er über das Eskalationspotential von Kunst und Kultur nach, und kommentiert jetzt auch im SWR die Debatte.
Stellvertretend für seine ganze Generation zeigt Rezo vor allem eine Komplett-Ignoranz für das Wesen von Kritik. Kritik sei eh »immer extrem subjektiv« behauptet er, um dann noch eins draufzulegen: was Juliane Liebert sage, sei »wertlos«. Immerhin hat es ihr Text aber geschafft, ihn zu einer wertlosen 5-Minuten-Antwort zu triggern.
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Juliane Liebert Argument ist aber noch ein anderes und viel wichtigeres. Sie zielt nämlich auf das Wesen der Kritik als solche, genauer gesagt auf das, was sie »verweigerte Popkritik« nennt.
Das heißt, sie zielt auf all die Ja-Sager und Harmonie-Journalisten, die immer alles nur toll und super finden, nicht schlecht, die gewissermaßen auf den Strich gehen und dem Publikum und der Branche möglichst gut gefallen wollen. Rezensionen, so die Kollegin fallen entweder gut aus, oder sie
sagen gar nichts zum Werk: »Trotzdem sind die Rezensionen zu aktuellen Popstars meist wohlwollend, oder sie vermeiden es weitgehend, über eine Inhaltsangabe und ein paar Phrasen hinaus etwas zur Musik zu sagen. ... Klassische Gatekeeper haben unter den Bedingungen von Streaming und Social Media viel weniger Macht, und alle wollen Anteil an den Klicks. Also entsteht ein Perpetuum mobile des Hypes. Oft geht es in Rezensionen weniger um die Qualität der Musik oder des popkulturellen
Gesamtkunstwerks, sondern ausschlaggebend ist eher, ob jemand in die gerade gültigen Schablonen passt oder nicht.«
Analog dazu gibt es natürlich auch heute ganz viel verweigerte Filmkritik.
Was Liebert über Popmusik schreibt, kann ich sofort für den deutschen Film unterschreiben:
»Leider ist ein Großteil der marktgängigen Popmusik heute präzedenzlos schrottig und überflüssig. Das ist keine aus stilistischen Gründen gewählte Hyperbel, sondern im Wortsinn gemeint: grässlich, unhörbar. So furchteinflößend grausig, so abgefuckt und austauschbar herz- und geistlos, dass man einen baldigen Hörsturz erfleht, sich aus dem Taxi werfen will oder den Supermarkt niederbrennen möchte, in dem man den ganzen unerträglichen Mist zwangshören muss.«
Und auch, was sie übers Publikum feststellt: »Viele Hörer agieren inzwischen offenbar schlicht als Zombies der Algorithmen. Was irgendwie die Timeline okkupiert, was technisch gepusht wird, räumt ab. Alles andere versendet sich.«
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Im Deutschlandfunk war am Wochenende ein sehr beachtliches Interview mit der deutschen Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller zu hören. Aus Anlass eines Hörspiels, das Müller für den DLF geschrieben hat, und das natürlich auch hörenswert ist, spricht sie über ihre Kunst – damit über alle Kunst überhaupt. Darum beschäftigen wir uns hier damit. Denn die Künste sind nicht säuberlich zu trennen, schon gar nicht nach Niveau oder Bedeutung; der Unterschied zwischen Kino und dem Rest ist künstlich und auch darum sind die unterschiedliche Behandlungen, die das Kino und die anderen Künste durch die Kulturpolitik erfahren, unangemessen und banausisch.
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»Das Schöne behütet. Das Schöne sucht man.« sagt Müller, als sie luzide über die Eigendynamik der Sprache spricht. »Schönheit ist etwas sehr Wichtiges. Ästhetik ist ja nicht nur etwas Inhaltliches. In jeder Kunst ist das Schöne da.«
Es sind auch sonst hochinteressante, schöne Sätze und überraschende Einsichten, die die Autorin in diesem Gespräch formuliert: »Das Unbedeutende reimt.« Und das Vorlesen als »glaubwürdigste Methode« um die Qualität des eigenen Textes zu kontrollieren.
Müller redet auch über die Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache. Nur die geschriebene Sprache ist Kunst: »Was man nicht sagen könnte, das kann ich schreiben.«
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Müller formuliert in nuce, worum es uns heute gehen muss: Die Rückgewinnung des Ästhetischen. Das ist die wichtigste Forderung für unsere Zeit.
Das Ästhetische muss unter all dem Wust der Zuschreibungen, unter all den politischen Pamphleten und Manifesten, unter all der Indienstnahme für soziale und ökologische, Gerechtigkeits- und Gleichstellungs-Anliegen wieder hervorgezerrt werden und für-sich herausgestellt.
Das heißt ausdrücklich nicht, unpolitische Kunst zu fordern – ganz im Gegenteil! Es heißt, von der Kunst zu fordern, dass sie mehr ist, als nur ein politisches Pamphlet. Und dies herauszuarbeiten. Es heißt, dass Kunst nicht dadurch besser oder schlechter wird, dass sie »die richtige« oder »die falsche« Ideologie und politische Meinung ausdrückt. Es heißt das Ästhetische als etwas Besonderes im politischen Diskurs, der nicht notwendig ästhetisch ist, herauszustellen.
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Es war schon sehr interessant, wen Kathryn Bigelows letzte Woche auf ihrer Seite hatte: Es waren in der englischsprachigen Welt vor allem die alten Top-Player der Filmkritik: ob Peter Bradshaw vom Guardian, ob Stephanie Zacharek vom »Time Magazine«, ob Jonathan Romney von »Screendaily« – sie waren es, die ohne jede Einschränkung 100 Prozent gaben bei »Metacritic.« Dies ist das einzige angemessene Urteil über den Film.
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738 Tage war der Filmschauspieler David Cunio als Geisel in den Händen der arabischen Terrororganisation Hamas. Jetzt ist er frei. Wir freuen uns für ihn!