16.10.2025
Cinema Moralia – Folge 363

Die Rückgewinnung des Ästhetischen

A House of Dynamite
100 Prozent: das einzige angemessene Urteil über diesen Film...
(Foto: Netflix)

»Das Schöne behütet. Das Schöne sucht man«: Herta Müller, Juliane Liebert und die verweigerte Kritik. Und David Cunio – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 363. Folge

Von Rüdiger Suchsland

The opinion that art should have nothing to do with politics is itself a political attitude.
– George Orwell

»In Orwells ‘1984' heißt es: 'Wenn Sie sich ein Bild von der Zukunft machen wollen, dann stellen sie sich einen Stiefel vor, der ein mensch­li­ches Gesicht zertram­pelt – unauf­hör­lich.'«
Diese Stiefel sind heute die sozialen Medien.
Ferdinand von Schirach

Film­kri­tiker und auch das Publikum sollten verant­wor­tungs­voll mit Filmen umgehen. Sie sollten ihm Respekt entge­gen­bringen und ihnen Raum lassen – damit gemeint ist, dass der Film uns Zuschauern zeigt und vermit­telt, wie er gesehen werden möchte. Nicht umgekehrt. Wer den Film mit Scha­blonen, mit immer­glei­chen Fragen oder vorge­fer­tigten Werk­zeugen traktiert, hat schon verloren.
All das gilt natürlich auch für das normale Publikum für die Zuschauer.

Umgekehrt aber wäre einmal die Frage zu stellen, ob die Filme immer auf dem Publikum Respekt entge­gen­bringen? Den Film­kri­ti­kern und den normalen Zuschauern? Ob sie mit uns verant­wor­tungs­voll umgehen? Ich glaube, dass das Filme oft genug nicht tun, dass wir aber so etwas einfor­dern könnten. Filme sollten uns nicht für dumm verkaufen; sie sollten uns nicht lang­weilen.

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Juliane Liebert, die auch eine geschätzte Film­kritik-Kollegin ist, hat in der »Zeit« im September das Album »Ich lieb mich, ich lieb mich nicht« von Nina Chuba bespro­chen.
Daraufhin überzog sie der Influencer »Rezo« mit einer unflä­tigen Schimpf­ti­rade.

Hierauf hat nun wiederum Jens Balzer, auch Film­kri­tiker a.D., mit ange­mes­sener Deut­lich­keit reagiert: »Dieser Monolog ist von einer selbst in unseren erregten Zeiten außer­ge­wöhn­li­chen Infamie.« so Jens Balzer.

Mit solchen persön­li­chen Empörungen wird inzwi­schen in unserer PR-Gesell­schaft auch eine regel­rechte Empörungs­ö­ko­nomie bedient . Zu ihr gehört auch der »Skan­dal­for­scher« Johannes Franzen. Bereits in seinem im letzten Jahr veröf­fent­lichten Buch »Wut und Wertung« denkt er über das Eska­la­ti­ons­po­ten­tial von Kunst und Kultur nach, und kommen­tiert jetzt auch im SWR die Debatte.

Stell­ver­tre­tend für seine ganze Gene­ra­tion zeigt Rezo vor allem eine Komplett-Ignoranz für das Wesen von Kritik. Kritik sei eh »immer extrem subjektiv« behauptet er, um dann noch eins drauf­zu­legen: was Juliane Liebert sage, sei »wertlos«. Immerhin hat es ihr Text aber geschafft, ihn zu einer wertlosen 5-Minuten-Antwort zu triggern.

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Juliane Liebert Argument ist aber noch ein anderes und viel wich­ti­geres. Sie zielt nämlich auf das Wesen der Kritik als solche, genauer gesagt auf das, was sie »verwei­gerte Popkritik« nennt.
Das heißt, sie zielt auf all die Ja-Sager und Harmonie-Jour­na­listen, die immer alles nur toll und super finden, nicht schlecht, die gewis­ser­maßen auf den Strich gehen und dem Publikum und der Branche möglichst gut gefallen wollen. Rezen­sionen, so die Kollegin fallen entweder gut aus, oder sie sagen gar nichts zum Werk: »Trotzdem sind die Rezen­sionen zu aktuellen Popstars meist wohl­wol­lend, oder sie vermeiden es weit­ge­hend, über eine Inhalts­an­gabe und ein paar Phrasen hinaus etwas zur Musik zu sagen. ... Klas­si­sche Gate­keeper haben unter den Bedin­gungen von Streaming und Social Media viel weniger Macht, und alle wollen Anteil an den Klicks. Also entsteht ein Perpetuum mobile des Hypes. Oft geht es in Rezen­sionen weniger um die Qualität der Musik oder des popkul­tu­rellen Gesamt­kunst­werks, sondern ausschlag­ge­bend ist eher, ob jemand in die gerade gültigen Scha­blonen passt oder nicht.«

Analog dazu gibt es natürlich auch heute ganz viel verwei­gerte Film­kritik.

Was Liebert über Popmusik schreibt, kann ich sofort für den deutschen Film unter­schreiben:

»Leider ist ein Großteil der markt­gän­gigen Popmusik heute präze­denzlos schrottig und über­flüssig. Das ist keine aus stilis­ti­schen Gründen gewählte Hyperbel, sondern im Wortsinn gemeint: grässlich, unhörbar. So furcht­ein­flößend grausig, so abgefuckt und austauschbar herz- und geistlos, dass man einen baldigen Hörsturz erfleht, sich aus dem Taxi werfen will oder den Super­markt nieder­brennen möchte, in dem man den ganzen uner­träg­li­chen Mist zwangs­hören muss.«

Und auch, was sie übers Publikum fest­stellt: »Viele Hörer agieren inzwi­schen offenbar schlicht als Zombies der Algo­rithmen. Was irgendwie die Timeline okkupiert, was technisch gepusht wird, räumt ab. Alles andere versendet sich.«

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Im Deutsch­land­funk war am Wochen­ende ein sehr beacht­li­ches Interview mit der deutschen Lite­ra­tur­no­bel­preis­trä­gerin Herta Müller zu hören. Aus Anlass eines Hörspiels, das Müller für den DLF geschrieben hat, und das natürlich auch hörens­wert ist, spricht sie über ihre Kunst – damit über alle Kunst überhaupt. Darum beschäf­tigen wir uns hier damit. Denn die Künste sind nicht säuber­lich zu trennen, schon gar nicht nach Niveau oder Bedeutung; der Unter­schied zwischen Kino und dem Rest ist künstlich und auch darum sind die unter­schied­liche Behand­lungen, die das Kino und die anderen Künste durch die Kultur­po­litik erfahren, unan­ge­messen und banausisch.

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»Das Schöne behütet. Das Schöne sucht man.« sagt Müller, als sie luzide über die Eigen­dy­namik der Sprache spricht. »Schönheit ist etwas sehr Wichtiges. Ästhetik ist ja nicht nur etwas Inhalt­li­ches. In jeder Kunst ist das Schöne da.«

Es sind auch sonst hoch­in­ter­es­sante, schöne Sätze und über­ra­schende Einsichten, die die Autorin in diesem Gespräch formu­liert: »Das Unbe­deu­tende reimt.« Und das Vorlesen als »glaub­wür­digste Methode« um die Qualität des eigenen Textes zu kontrol­lieren.

Müller redet auch über die Unter­schiede zwischen gespro­chener und geschrie­bener Sprache. Nur die geschrie­bene Sprache ist Kunst: »Was man nicht sagen könnte, das kann ich schreiben.«

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Müller formu­liert in nuce, worum es uns heute gehen muss: Die Rück­ge­win­nung des Ästhe­ti­schen. Das ist die wich­tigste Forderung für unsere Zeit.

Das Ästhe­ti­sche muss unter all dem Wust der Zuschrei­bungen, unter all den poli­ti­schen Pamphleten und Mani­festen, unter all der Indienst­nahme für soziale und ökolo­gi­sche, Gerech­tig­keits- und Gleich­stel­lungs-Anliegen wieder hervor­ge­zerrt werden und für-sich heraus­ge­stellt.

Das heißt ausdrück­lich nicht, unpo­li­ti­sche Kunst zu fordern – ganz im Gegenteil! Es heißt, von der Kunst zu fordern, dass sie mehr ist, als nur ein poli­ti­sches Pamphlet. Und dies heraus­zu­ar­beiten. Es heißt, dass Kunst nicht dadurch besser oder schlechter wird, dass sie »die richtige« oder »die falsche« Ideologie und poli­ti­sche Meinung ausdrückt. Es heißt das Ästhe­ti­sche als etwas Beson­deres im poli­ti­schen Diskurs, der nicht notwendig ästhe­tisch ist, heraus­zu­stellen.

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Es war schon sehr inter­es­sant, wen Kathryn Bigelows letzte Woche auf ihrer Seite hatte: Es waren in der englisch­spra­chigen Welt vor allem die alten Top-Player der Film­kritik: ob Peter Bradshaw vom Guardian, ob Stephanie Zacharek vom »Time Magazine«, ob Jonathan Romney von »Screen­daily« – sie waren es, die ohne jede Einschrän­kung 100 Prozent gaben bei »Meta­critic.« Dies ist das einzige ange­mes­sene Urteil über den Film.

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738 Tage war der Film­schau­spieler David Cunio als Geisel in den Händen der arabi­schen Terror­or­ga­ni­sa­tion Hamas. Jetzt ist er frei. Wir freuen uns für ihn!