25.09.2025

Der globale Indie Spirit lebt!

Gunman/Gatillero
Der Scorsese von morgen? Christian Tapia Marchiori und sein Gunman
(Foto: Filmfest Odenburg)

Das 32. Internationale Filmfest Oldenburg bot erfrischendes Kino aus fast allen Teilen der Welt

Von Eckhard Haschen

Es ist schon eini­ger­maßen phäno­menal: Von kaum einem der in Oldenburg vertre­tenen Regis­seure hat man vorher je etwas gehört – und doch traut man mindes­tens jedem/jeder zweiten nach Ansicht ihres Films zu, der nächste Sean Baker zu werden. (Dessen Starlet seine Deutsch­land­land-Premiere 2012 ebenso in Oldenburg hatte wie drei Jahre später Tangerine L.A.). So sehr man sich also auf die neuen Filme von Christian Petzold oder Yorgos Lanthimos freut und ihre Meis­ter­schaft ein weiteres Mal bewundert, so sehr kann es einem in Oldenburg passieren, dass man einem Steven Soder­bergh oder Alfonso Curaón die Hand schüttelt, bevor dieser oder diese welt­be­kannt wird.

Viel­leicht Christian Tapia Marchiori aus Argen­ti­nien: Der ist buchs­täb­lich von Pontius nach Pilatus gelaufen, um seinen zweiten Spielfilm, Gunman, auf die Beine zu stellen. In einer einzigen Einstel­lung gedreht – aber mit weniger Geld und in einer sehr viel gefähr­li­cheren Gegend als Sebastian Schippers Victoria – folgt seine Kamera 80 Minuten lang einem Klein­kri­mi­nellen durch die Unterwelt von Buenos Aires. Mit der Aussicht auf schnelles Geld hat dieser gerade aus dem Gefängnis Entlas­sene einen vermeint­lich einfachen Job über­nommen, gerät dabei aber nichts­ah­nend in eine Falle und zwischen die Fronten eines mit brutalster Gewalt ausge­tra­genen Banden­kriegs. Eine Reise ans Ende der Nacht im Geiste des frühen Scorsese oder John Carpenter ist Tapia Marchiori hier gelungen, eine Reise, die gespannt auf seine weitere Entwick­lung macht.

Oder Germán Tejada aus Peru, der mit seinem Coming-of-Age-Drama The Innocents Oswaldo Reynosos gleich­na­mige Erzählung aus dem Jahr 1961 ins heutige Lima trans­po­niert. Der vier­zehn­jäh­rige Cara de Ángel (Diego Cruchaga Ponce de Léon) spielt in einer Punkband, lernt ein Mädchen kennen, ist sich seiner Identität aber alles andere als sicher. Mit einer großen Sensi­bi­lität – und einer ebenso großen Stil­si­cher­heit – für die Frage, was es heute heißt, ein Mann zu sein, bezie­hungs­weise zu werden, spürt Tejada der komplexen Gefühls­lage seines Helden nach.

Oder der in Panama geborene und jetzt in Madrid lebende Alejandro Castro Arias, der in seinem Debütfilm Harakiri, I Miss You eine der drei männ­li­chen Haupt­rollen gleich selbst über­nommen hat. Das dieser mit nervöser Hand­ka­mera gedrehte und in den Dialogen weit­ge­hend impro­vi­sierte Coming-of Age-Film von vielen Festivals abgelehnt wurde, bevor er nun in Oldenburg seine Welt­pre­miere erlebte, und auch gleich mit dem Preis für den besten Erst­lings­film ausge­zeichnet wurde, mag man kaum glauben: Wie die drei dem Alter nach schon erwach­senen Helden jeder auf seine Weise ihre schöne Nachbarin zu bezirzen versuchen, hat schon etwas Tragi­ko­mi­sches und wird von Castro Arias ebenso berührend wie scho­nungslos offen­ge­legt.

Oder viel­leicht der ameri­ka­ni­sche Regisseur und Schau­spieler Brandon Daley aus Chicago, dessen erster Spielfilm $Positions ganz in der Tradition der US-Inde­pend­ent­films der 1990er steht, aber alles andere als vorher­sehbar geraten ist: Wie sein von Michael Kunicki mit bewun­derns­werter Hingabe gespielter Prot­ago­nist seine ange­spannte finan­zi­elle Lage durch den Handel mit Kryp­towäh­rungen zu lösen versucht, nimmt schließ­lich so aber­wit­zige Züge an, das man als Zuschauer bei allem Kopf­schüt­teln über so viele falsche Entschei­dungen am Ende doch mit ihm mitfühlt.

Nicht mehr ganz so jung wie die Vorge­nannten ist Ondrej Provanznik, Jahrgang 1978, der für seine erste Solo-Regie­ar­beit Broken Voices nach seiner Urauf­füh­rung in Karlovy Vary nun völlig zu Recht den German Inde­pen­dence Award gewann. Für die auf einer wahren Bege­ben­heit aus der Tsche­cho­slo­wakei der frühen neunziger Jahre beru­henden Geschichte einer 13-Jährigen, die auf einer New York-Reise von ihrem Chor­leiter miss­braucht wird, hat er die ange­mes­senen filmi­schen Mittel gefunden.