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Der Scorsese von morgen? Christian Tapia Marchiori und sein Gunman | ||
(Foto: Filmfest Odenburg) |
Von Eckhard Haschen
Es ist schon einigermaßen phänomenal: Von kaum einem der in Oldenburg vertretenen Regisseure hat man vorher je etwas gehört – und doch traut man mindestens jedem/jeder zweiten nach Ansicht ihres Films zu, der nächste Sean Baker zu werden. (Dessen Starlet seine Deutschlandland-Premiere 2012 ebenso in Oldenburg hatte wie drei Jahre später Tangerine L.A.). So sehr man sich also auf die neuen Filme von Christian Petzold oder Yorgos Lanthimos freut und ihre Meisterschaft ein weiteres Mal bewundert, so sehr kann es einem in Oldenburg passieren, dass man einem Steven Soderbergh oder Alfonso Curaón die Hand schüttelt, bevor dieser oder diese weltbekannt wird.
Vielleicht Christian Tapia Marchiori aus Argentinien: Der ist buchstäblich von Pontius nach Pilatus gelaufen, um seinen zweiten Spielfilm, Gunman, auf die Beine zu stellen. In einer einzigen Einstellung gedreht – aber mit weniger Geld und in einer sehr viel gefährlicheren Gegend als Sebastian Schippers Victoria – folgt seine Kamera 80 Minuten lang einem Kleinkriminellen durch die Unterwelt von Buenos Aires. Mit der Aussicht auf schnelles Geld hat dieser gerade aus dem Gefängnis Entlassene einen vermeintlich einfachen Job übernommen, gerät dabei aber nichtsahnend in eine Falle und zwischen die Fronten eines mit brutalster Gewalt ausgetragenen Bandenkriegs. Eine Reise ans Ende der Nacht im Geiste des frühen Scorsese oder John Carpenter ist Tapia Marchiori hier gelungen, eine Reise, die gespannt auf seine weitere Entwicklung macht.
Oder Germán Tejada aus Peru, der mit seinem Coming-of-Age-Drama The Innocents Oswaldo Reynosos gleichnamige Erzählung aus dem Jahr 1961 ins heutige Lima transponiert. Der vierzehnjährige Cara de Ángel (Diego Cruchaga Ponce de Léon) spielt in einer Punkband, lernt ein Mädchen kennen, ist sich seiner Identität aber alles andere als sicher. Mit einer großen Sensibilität – und einer ebenso großen Stilsicherheit – für die Frage, was es heute heißt, ein Mann zu sein, beziehungsweise zu werden, spürt Tejada der komplexen Gefühlslage seines Helden nach.
Oder der in Panama geborene und jetzt in Madrid lebende Alejandro Castro Arias, der in seinem Debütfilm Harakiri, I Miss You eine der drei männlichen Hauptrollen gleich selbst übernommen hat. Das dieser mit nervöser Handkamera gedrehte und in den Dialogen weitgehend improvisierte Coming-of Age-Film von vielen Festivals abgelehnt wurde, bevor er nun in Oldenburg seine Weltpremiere erlebte, und auch gleich mit dem Preis für den besten Erstlingsfilm ausgezeichnet wurde, mag man kaum glauben: Wie die drei dem Alter nach schon erwachsenen Helden jeder auf seine Weise ihre schöne Nachbarin zu bezirzen versuchen, hat schon etwas Tragikomisches und wird von Castro Arias ebenso berührend wie schonungslos offengelegt.
Oder vielleicht der amerikanische Regisseur und Schauspieler Brandon Daley aus Chicago, dessen erster Spielfilm $Positions ganz in der Tradition der US-Independentfilms der 1990er steht, aber alles andere als vorhersehbar geraten ist: Wie sein von Michael Kunicki mit bewundernswerter Hingabe gespielter Protagonist seine angespannte finanzielle Lage durch den Handel mit Kryptowährungen zu lösen versucht, nimmt schließlich so aberwitzige Züge an, das man als Zuschauer bei allem Kopfschütteln über so viele falsche Entscheidungen am Ende doch mit ihm mitfühlt.
Nicht mehr ganz so jung wie die Vorgenannten ist Ondrej Provanznik, Jahrgang 1978, der für seine erste Solo-Regiearbeit Broken Voices nach seiner Uraufführung in Karlovy Vary nun völlig zu Recht den German Independence Award gewann. Für die auf einer wahren Begebenheit aus der Tschechoslowakei der frühen neunziger Jahre beruhenden Geschichte einer 13-Jährigen, die auf einer New York-Reise von ihrem Chorleiter missbraucht wird, hat er die angemessenen filmischen Mittel gefunden.